Leon und der magische Kristall

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Leon und der magische Kristall
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Patrick Fiedel

Leon und der magische Kristall

Vorwort

Schon jetzt kannst DU so richtig stolz auf dich sein. Du hast ein Buch in der Hand und nicht etwa die Fernbedienung für den Fernseher.

Das ist fantastisch.

Hast du einen Lieblingsleseplatz? Dann mach es dir dort bequem oder suche dir einen anderen großartigen Ort zum Lesen.

Brauchst du noch etwas zu trinken oder zu essen? Dann hole es dir oder ruf laut nach Mama oder Papa.

Falls du ein Handy hast, das kannst du erstmal zur Seite legen. (Ja, das geht. Ich mache es sogar manchmal ganz aus. Das geht auch.) Bist du bereit?

Wirklich?

Dann leg los und hab Spaß beim Lesen.


Hoffnung

„Aufstehen, Leon!“

„Mmmmmm.“

„Leon, komm schon!“

„Mmmmmmmmmm.“

„Na los, Leon! Das Frühstück wartet.“

„Mmmmmmmmmmmmm.

Noch fünf Minuten, Mama.“

„Nein, jetzt! Du kleines Faultier.“

„Mmmmmmmmmmmmmmmmmmmm.“

Leon streckt vorsichtig seinen Kopf aus dem mühsam errichteten Schildkrötenpanzer und öffnet behutsam seine müden Augen. Schlaftrunken liegt er auf dem Bauch und seine kurzen verwuschelten blonden Haare stehen in alle Himmelsrichtungen ab. Leon schlängelt sich langsam aus den zwei dicken Decken über ihm heraus. Ganz vorsichtig kriecht er in die morgendliche und gemeine Kühle. Er setzt sich auf seine Bettkante und da man den Tag ja behutsam beginnen soll, erholt sich Leon erstmal von diesen Strapazen und lässt seine nackten Füße in der Luft hin und her schaukeln. Nach einigen anstrengenden Zehendehnübungen reckt Leon seine Arme weltmeisterlich in den neuen Morgen und macht dabei Verrenkungen, dass jede Katze blass vor Neid werden würde. Ein lautes Gähnen und Schmatzen, dann ist Leon bereit für den neuen Tag. Plötzlich riecht er etwas. Ein verlockender Duft wandert aus der Küche direkt in seine Nase.

„Mama, machst du gerade Waffeln?“, ruft er laut in die Backstube.

„Komm runter und finde es selbst heraus!“, antwortet die Waffelbäckerin nur kurz.

Leons morgendliche Schläfrigkeit verfliegt blitzartig, denn dieser köstliche Waffelduft, der ihm in die Nase kriecht, sorgt dafür, dass er auf der Stelle munter und voller Vorfreude ist, gleich riesige Waffelfestungen zu errichten und dann zu verschlingen.

„Aber was ist das?“, ruft Leon laut aus seinem Bett.

Überall ist blubbernde und heiße Lava. Im ganzen Zimmer strömt sie aus dem Boden hervor und droht alles zu verschlingen, was ihr zu nah kommt.

„Ich muss es auf die rettende Waffelinsel schaffen“, sagt Leon entschlossen.

Vorsichtig stellt er sich auf sein Bett und überlegt.

„Ich brauche ein Schiff“, spricht Leon kapitänsgleich.

Schnell nimmt er eine noch immer warme Bettdecke und rollt sie zusammen. Dann schwingt er sie gekonnt vor und zurück und versucht, mit seinem Deckenlasso den rollenden Stuhl am Schreibtisch zu erreichen. Er wirbelt die Bettdecke nun gewaltig durch die Luft, lässt sie los und erreicht seinen Stuhl. Die Decke schlängelt sich um die Armlehne und Leon zieht behutsam sein rettendes Schiff langsam an das Bett heran.

„Ja“, ruft er euphorisch, „nun schön vorsichtig sein.“

Er schwingt sich kniend auf seinen Drehstuhl und gelangt durch den Schwung bis zur geöffneten Zimmertür. Er schiebt sich durch sie hindurch und weiß, dass er keine Zeit verlieren darf. Sein Boot wird die heiße Lava nicht lange abhalten können.

„Jetzt nur noch bis zur Treppe“, denkt Leon laut und schiebt sich mit seinen flachen Händen langsam die Flurwand entlang. Dann stößt er sich von der linken Wand zur rechten und wieder zurück. Wie eine große Flipperkugel bewegt er sich so auf seinem Schiff bis zur lavafreien Treppe.

„Geschafft“, haucht Leon erleichtert.

Doch es bahnt sich schon das nächste Unheil an. Leise hört er aus der Küche das drohende Ende der Welt auf sich zukommen.

„Guten Morgen, liebe Hörer. Genießen Sie nach einer kurzen Werbeunterbrechung den brandaktuellen Hit über die wahre Liebe. Gesungen von dem Teenieschwarm, der jedes Mädchenherz höherschlagen lässt“ dröhnt es gefährlich aus dem Küchenradio.

Geschwind setzt er sich auf das Treppengeländer und rutscht auf seinem Po die Treppe hinunter.


„Oh Gott, ich muss diese Katastrophe aufhalten“, atmet Leon panisch.

Die Werbung geht zu Ende. Die ersten Töne des Weltuntergangs erklingen. Leon steht nun auf der letzten Stufe, legt seine Hände schützend über seine Ohren und sprintet, so schnell er kann, zum Küchenradio des Entsetzens. Meisterlich drückt er seinen linken Ellenbogen auf den Knopf, der das Radio ausschaltet.

„Puh, gerade nochmal gut gegangen“, pustet er erleichtert.

„Du Spinner“, reagiert seine ältere Schwester Leonie und schaut ihn dabei grinsend an.

„Leon. Was hast du nur gegen ihn? Er ist so süß und seine Lieder sind so melodisch“, spricht Leons Mama vergnügt.

„Mama, du bist schon infiziert von diesem grausigen Schmalzvirus. Sei froh, dass ich euch alle nochmal gerettet habe“, antwortet Leon heldengleich.

„Oh, Leon. Du und deine Fantasie. Ach, und übrigens, du bist doch wohl nicht schon wieder auf dem Geländer gerutscht?“, fragt ihn seine Mama ermahnend.

„Nein, Mama, ist er nicht“, entgegnet seine Schwester Leonie, noch bevor er etwas sagen kann. Dabei zwinkert sie ihrem Bruder verschwörerisch zu. Leon setzt sich auf seinen Stuhl am großen Esstisch neben seine Schwester. Hinter einer hoch in die Luft gehaltenen Zeitung sitzt ihr Papa, welcher das frische Druckwerk aber sofort zur Seite legt, als die ersten Waffeln an den Tisch gebracht werden.


„Das sieht aber wieder lecker aus“, bemüht er sich, seine Frau darüber hinwegsehen zu lassen, dass er heute eigentlich mit Frühstück machen dran war. Aber seine ersten Waffeln in tiefstem Schwarz haben zu seiner Entlassung vom Frühstücksdienst geführt und Mama wieder an die Spitze befördert. Leon errichtet aus seinen köstlichen Waffeln eine kleine Burg und lässt um diese herum einen Fluss aus Sirup entlanglaufen.

„Hmm. Lecker, Mama. Danke“, nuschelt er mampfend mit vollem Mund. Kurze Zeit später ist von seiner Burg nichts mehr übrig und Leon sitzt zufrieden und vollgefuttert auf seinem Stuhl.

„Seid ihr euch wirklich sicher, dass wir heute dorthin fahren sollen?“, fragt der Papa von Leon und Leonie etwas besorgt, nachdem auch er seinen letzten Bissen genossen hat.

„Ja, Papa. Wir sind uns sicher. Wir fahren zum Wald und schauen, wie es dort jetzt aussieht“, antwortet Leon und greift dabei die Hand seiner Schwester.

Viele Wochen ist es her, dass Leon und seine Freunde ein unfassbares Abenteuer erlebten, was sie über sich hinauswachsen ließ. Auf einem Schulausflug in den Wald versanken sie plötzlich in den Waldboden hinein. Ihr Lehrer entpuppte sich dabei als grandioser Draufgänger mit zündenden Ideen, um sie wieder nach Hause zu bringen. Tief unter der Erde machten sie die Begegnung mit einem fellbedeckten und kuscheligen fremden Wesen, was auch noch sprechen konnte. Mit viel Glück und der Hilfe ihres Lehrers Herrn Tarius überwanden sie Hindernisse und überstanden größte Gefahren. Ein heimlich zugesteckter magischer Kristall half ihnen in der größten Not und machte mit seiner geheimnisvollen Kraft den Weg nach Hause möglich. Seither hatte er kein Zeichen von sich gegeben. Kein Leuchten, kein Funkeln, kein Nichts. Doch Leon hat immer noch die Hoffnung, dass sie Mormir und ihre neu gewonnenen Freunde tief unter der Erdoberfläche eines Tages wiedersehen werden. Ihren Eltern haben sie nichts von den unbekannten Bewohnern erzählt, denn sie wissen, dass diese geheimnisvolle Welt auch geheim bleiben muss. Leon konnte seinen Papa dazu überreden, noch einmal an den Ort zurückzufahren, wo ihr Abenteuer begann, und obwohl dieser erst sehr skeptisch war, stimmte er dann doch zu.

Nach dem Frühstück zieht sich Leon an und packt, wie jeden Tag, den erloschenen Kristall heimlich in seinen Rucksack. Stets in der Hoffnung, dass er wieder leuchten wird oder zumindest ein kleines Zeichen von sich gibt. Auf der gemeinsamen Fahrt zurück zum Ort, der Leon und Leonie für immer fest verbunden hat, kommen sie an der großen Weide vorbei. Dort hatten es Leon, Leonie, Ben, Finn und ihr Lehrer mit der Hilfe des magischen Kristalls geschafft, mit einer alten Lore hinaus in die Freiheit zu gelangen.

„Es klang wie eine Explosion und auf einmal kamt ihr aus einer dichten Rauchwolke hoch in die Luft geschossen. Das war verrückt“, erzählt Mama, während die Kinder zur Weide schauen.

Ihr Papa hält langsam am Straßenrand an. Leon und Leonie staunen nicht schlecht, als sie erkennen müssen, dass da, wo ihr rettender Ausgang war, nun nichts mehr zu sehen ist. Der Eingang zur Mine ist verschwunden und dicker grauer Beton umschließt ihn vollständig.

„Sie haben wohl entschieden, dass es zu gefährlich ist, wenn hier jeder in die alte Erzmine gelangen kann“, sagt Papa nachdenklich.

Nach einer kurzen Weiterfahrt über die ruhige Landstraße gelangen sie dann dort an, wo alles begann. Sie steigen gemeinsam aus dem Auto aus und gehen zusammen ein Stück in den Wald hinein. Dann stehen sie da. Sie blicken auf die Stelle, wo sich der Erdboden öffnete, doch es ist auch hier nichts mehr zu erahnen. Das Loch in die Tiefe wurde aufgeschüttet und wenn es die Kinder nicht besser wüssten, so könnte man glauben, dass hier nie etwas geschehen sei. Leon geht suchend ein paar Schritte über den Boden.

 

„Man sieht gar nichts mehr“, ruft er seinen Eltern zu.

„Ja, es ist wieder vollkommen sicher, durch den Wald zu spazieren“, reagiert seine Mama.

Doch Leon ist darüber gar nicht glücklich. Er geht weiter in den Wald hinein und lässt seine Blicke gründlich über den Boden wandern.

„Suchst du etwas Bestimmtes?“, fragt ihn sein Papa.

„Ähm. Nein, Papa. Ich schaue nur nach interessanten Pilzen“, antwortet Leon schnell.

In Wirklichkeit sucht Leon nicht nach Pilzen. Er sucht nach Spuren, nach abgeknickten Sträuchern, nach Eingängen, nach irgendeinem Zeichen, dass Mormir noch irgendwo da draußen ist. Nachdem er rastlos unendliche Weiten des Waldes abgesucht hat, muss Leon einsehen, dass er nichts finden wird. Traurig und enttäuscht kehrt er mit seinen Eltern zum Auto zurück. Auch Leonie ist unglücklich, da sie insgeheim gehofft hatte, sie würde neue Spuren entdecken, um die Wontorianer vielleicht noch ein einziges Mal zu sehen. Wortlos steigen beide zu ihren Eltern in das Auto ein, lehnen sich über den Rücksitz und schauen durch die Heckscheibe noch einmal traurig auf den Waldweg zurück. Sie müssen sich wohl langsam darüber bewusstwerden, dass sie Mormir niemals wiedersehen werden. In Schrittgeschwindigkeit fahren sie den Waldweg entlang zurück auf die Landstraße.

Als Leon dabei eine kleine Träne aus dem Auge kullert und er leise „Leb wohl“ säuselt, sieht er durch die Heckscheibe in der Ferne auf einmal etwas auf dem Weg stehen. Er kneift Leonie schnell in die Seite und auch sie schaut erstaunt zum Waldweg zurück. Sie können es nicht genau erkennen, aber beider Herzschläge beschleunigen sich. Sie bemühen sich, durch das Zusammenkneifen ihrer Augen zu erahnen, was oder wer am Ende des Weges steht. Dann erkennen sie es. Es ist Kantius. Der Älteste der Wontorianer mit seinem grauen Fell und den funkelnden Ketten um den Hals.


Kantius, der nicht größer ist als ein Koala und der ihnen mit seinen weisen Worten so viel Mut gemacht hat. Sie versuchen, sich nichts anmerken zu lassen, aber ihre Freude ist in diesem Moment grenzenlos. Leon könnte vor Glück hüpfen und auch Leonie strahlt über das ganze Gesicht. Ihre Eltern bekommen es zum Glück nicht mit. Kantius, der sich in der Ferne auf seinen mit bunten Steinen verzierten Stab stützt, hebt diesen sogleich hoch in die Luft und schwingt ihn über seinem Kopf. Er scheint etwas zu sprechen und plötzlich beginnt der Stab hell zu leuchten. Um ihn herum entsteht ein riesiger Wirbel aus zahllosen Blitzen und funkelnden Strahlen. Aus dem Stab strömen die wundervollsten Lichter in den schönsten Farben und bilden ein grelles Licht, das Kantius direkt in die Richtung der Kinder schickt. Sie sehen es unmittelbar auf sich zukommen. Immer heller wird es und dann blitzt das gigantische Leuchten direkt durch die Heckscheibe in Leons Rucksack. Mitten in den Kristall hinein. Als Leon und Leonie wieder zurück auf den Waldweg schauen, ist Kantius weg.

Voller Fragen sitzen die beiden wie versteinert auf der Rückbank und halten sich an den Händen. Ihre Eltern sind so vertieft in eine Unterhaltung, dass sie das Leuchten nicht bemerkt haben. Die gesamte Heimfahrt sprechen Leon und Leonie kein Wort. In ihren Köpfen tobt ein Feuerwerk der Emotionen und sie können es kaum abwarten, nach Hause zu kommen. Als sie dann endlich vor ihrem Haus sind und ihr Vater langsamer fährt, hüpfen sie, kaum in der Einfahrt angelangt, aus dem Auto und rennen schnell hoch in Leons Zimmer. Voller Freude fallen sie sich in die Arme und springen wild durch den gesamten Raum.

„Ist alles in Ordnung da oben?“, ruft ihre Mama.

„Ja, alles gut. Wir tanzen nur“, antwortet Leonie schnell.

„Diese Kinder“, spricht ihr Papa lächelnd zu seiner Frau und begibt sich heimlich auf die Suche nach übrig gebliebenen Waffeln vom Morgen.

„Weißt du, was das heißt?“, fragt Leon seine Schwester euphorisch.

„Sie sind am Leben. Ihnen geht es gut und sie haben einen Weg nach oben gefunden. Wir können sie wiedersehen.“

„Aber was war das für ein Licht?“, fragt Leonie ihren Bruder, der sogleich seinen Rucksack öffnet und glücklich nach dem Kristall schaut.

„Der Kristall leuchtet immer noch nicht“, muss Leon sehr niedergeschlagen feststellen, als er diesen aus dem Rucksack zieht und fest in seinen Händen hält.

„Aber was ist das?“, fragt Leonie schlagartig.

„Halte ihn in das Tageslicht!“

Gemeinsam gehen sie zum Fenster und halten den Kristall hoch in das Sonnenlicht, direkt vor ihre Gesichter.

„Da steht etwas“, sprechen beide gleichzeitig ihr Erstaunen aus.

Ihre Herzen hüpfen vor Freude.

„Aber was sind das für Zeichen?“, fragt Leon seine Schwester.

„Ich habe so etwas noch nie gesehen“, antwortet sie und hastet schnell in ihr Zimmer, um dann mit einem alten Buch wiederzukommen.

„Hier sind viele alte Sprachen und Zeichen aufgelistet, auch Hieroglyphen und alte Runen sind abgebildet. Vielleicht finden wir etwas“, spricht Leonie.

Nachdem sie das Buch mehrmals durchgeblättert haben, müssen sie leider erkennen, dass die Zeichen auf dem Kristall nicht zu finden sind und keinem bekannten Symbol ähneln. Leon und Leonie sitzen sich gegenüber auf dem Bett und grübeln. Dann schauen sie sich in der gleichen Sekunde in die Augen und haben exakt im gleichen Augenblick die rettende Idee.

„Weißt du, wer uns vielleicht helfen kann?“, fragt Leonie ihren Bruder.

„Herr Tarius“, antworten beide freudig im Chor.

„Also los. Fahren wir zu Herrn Tarius“, sagt Leonie zu ihrem Bruder.

„Wir treffen uns dort“, antwortet Leon entschlossen und mit abenteuerlichem Blick nach vorn gewandt, „ich trommle die Jungs zusammen.“

Das Team

‚Dingdong.‘

„Ben, machst du mal bitte auf?“, ruft Bens Mama aus dem Wohnzimmer.

„Ich kann nicht. Heute schaffe ich Level 23, ich weiß es.“

‚Dingdong.‘

„Ben, gehst du jetzt bitte zur Tür?“, erwidert seine Mama nun etwas bestimmter.

„Gleich habe ich es, jetzt nur noch, ja, hier noch und …“

‚Dingdong.‘

„Verdammt. Game Over. So ein Mist. Dem werde ich was erzählen an der Tür.“

‚Dingdong.‘

Ben schnappt sich eine Handvoll Kekse aus der Verpackung auf seinem Schoß und schiebt sie sich in den Mund. Dann quält er sich aus seinem gemütlichen Sessel, legt den Controller zur Seite und geht zur Tür. Bewaffnet mit schlechter Laune und vor sich hin schimpfend wackelt er über den Flur. Ben holt tief Luft, drückt die Klinke der Haustür nach unten und ist bereit, dem Störer seiner kostbaren Computerzeit ein nie dagewesenes Meckergewitter um die Ohren zu schmettern, kommt aber nicht einmal zum ersten Wort.

„Ben. Wieso hat das so lange gedauert? Saßt du auf dem Klo?“, fragt ihn Leon aufgeregt und grinsend.

„Waff iff denn lof?“, erwidert Ben mit dem Mund voller Kekskrümel.

„Warum hat das so lange gedauert?“, will Leon wissen.

Ben, der sich mittlerweile beruhigt und die restlichen Krümel aufgegessen hat, antwortet: „Level 23, mein Lieber. Ich war so nah dran.“

„Und, hast du es geschafft?“, fragt Leon erstaunt.

„Haha, sehr witzig. Wer hat denn gerade geklingelt und geklingelt, hm?“, erwidert Ben mit finsterer Miene.

„Was gibt es denn?“, fragt er seinen besten Freund.

„Nicht hier. Es gibt Neuigkeiten. Wir müssen Finn noch abholen und zu Herrn Tarius fahren. Meine Schwester kommt auch hin“, antwortet Leon schnell.

„Alles klar. Ich beeile mich“, reagiert Ben freudig und ohne nachzufragen.

Wenn sie zu ihrem Lehrer wollen und Leon so aufgeregt ist, dann kann das nur etwas Tolles bedeuten und mit ihrem gemeinsamen Geheimnis zu tun haben.

„Brauchen wir Verpflegung? Ach, was solls. Ich packe einfach etwas ein“, spricht Ben und sucht einige süße Vorräte zusammen.

Kurze Zeit später stehen beide vor der Haustür. Ben ist etwas größer als Leon und seitdem sie denken können, sind sie beste Freunde. Ben ist nicht nur etwas größer als Leon, er ist auch etwas dicker. Er sagt oft, dass er schwere Knochen habe und dass natürlich das Wachstum daran schuld sei, dass er etwas dicker ist aber im Grunde wissen beide, dass sein Gewicht vom vielen Naschen kommt. Ben setzt sich seinen Helm auf und nur die Spitzen seiner kurzen braunen Haare stehen noch hervor. Er schwingt, etwas angestrengt, sein rechtes Bein über den hellbraunen Sattel seines nigelnagelneuen hellblauen Fahrrades.

„Es kann losgehen, Leon“, ruft er entschlossen.

Leon setzt sich seinen Schutzhelm auf, richtet ihn und zieht seine Handschuhe fest, dann platziert er sein Longboard auf der Straße, stellt seinen rechten Fuß auf das Board und pusht mit dem linken Bein so kräftig, dass er in wenigen Sekunden ordentlich schnell wird und dann die lange Straße hinunterrollt. Ben fährt hinter ihm her und muss kräftig in die Pedale treten, damit er den Anschluss nicht verliert. Die Jungs fahren vorbei an kleinen und großen Einfamilienhäusern mit grünen Vorgärten. Hier und da sieht man einige Erwachsene beim Laubharken oder auch beim Heckeschneiden. Gelegentlich hört man ein leises ‚pf, pf, pf‘ der wasserspuckenden Rasensprenger. Dann geht die Straße in eine lange Kurve. Sie kommen an einem großen gelben Haus vorbei. Eine junge Frau steht mit ihrem Laubbläser in der Einfahrt und macht so viel Wind, dass Leon und Ben die Blätter um die Ohren fliegen.

„Entschuldigung“, ruft sie noch laut hinterher, aber die Jungs sind schon vorbeigefahren.

Vorsichtig geht Leon tiefer in die Hocke und lehnt sich nach rechts. Er drückt sein Board in die Kurve. Sein rechter Schutzhandschuh berührt dabei den Boden und gibt ihm einen stabilen Halt. Dann geht es wieder geradeaus und Leon nimmt seine nach vorn gebeugte Skispringerhaltung an. Seine Arme verschränkt er dabei hinter dem Rücken. Der Fahrtwind bläst seinen warmen Atem in die Augen der Jungs. Leon rauscht durch eine von Kastanien umgebene Straße, vorbei an den mit Laub bekleckerten parkenden Autos. Ben kommt von hinten angeradelt und ist jetzt direkt neben Leon.

„Wollen wir tauschen?“, fragt Ben seinen Freund und blickt dabei freudig auf das rasant schnelle Longboard.

„Na gut“, antwortet Leon etwas skeptisch und bremst ab. „Sei aber vorsichtig! Du weißt, was beim letzten Versuch passiert ist.“

„Ich passe schon auf“, reagiert Ben und schwingt sich prompt auf das Longboard.

„Bahn frei. Ich komme“, ruft er lauthals und Leon kann nur mit dem Kopf schütteln.

Sie überqueren einen verwaisten Fußgängerüberweg und fahren dann schnurgerade auf den Park zu. Ein glatt asphaltierter Rad- und Fußweg schlängelt sich durch den Stadtpark. Die Blätter der Bäume schimmern in den schönsten Farben und einige Kinder stürzen sich unter lautem Lachen in bunte Laubberge. Ben und Leon kommen am kleinen Teich vorbei und können dabei beobachten, wie ein paar ausgewachsene Wildenten gackernd über das Wasser schwimmen.

„Vorsicht“, ruft Leon seinem Freund laut zu, „da vorn sind Fußgänger.“

Ben fährt vor Leon und die beiden Jungs rasen an einer Gruppe älterer Damen vorbei.

„Guten Tag, die Damen“, sagt Ben freundlich, kann aber nicht verhindern, dass diese leicht erschrecken.

Leon sieht beim kurzen Umdrehen noch, dass eine der sechs Damen ihnen etwas hinterherruft und mit ihrem Spazierstock winkt, aber für ein „Guten Tag“ ist es nun doch zu spät, denkt er sich.


Leon liebt es, am Wochenende die Wege und Parkanlagen entlangzufahren. Auf den Straßen sind so gut wie keine Autos unterwegs und wenn die Sonne scheint, dann vergisst er in solchen Momenten die Schule und die vielen Hausaufgaben, die er manchmal machen muss. Am Ende des Parks müssen die Jungs leider anhalten. Ben setzt seinen linken Fuß auf den Boden und bremst das Longboard so langsam ab. Leon steigt gemächlich von dem Fahrrad ab und die beiden Freunde verlassen die Ruheoase über einen von der Ampel grün beleuchteten Fußgängerüberweg.

 

„Du hast doch heimlich geübt?“, fragt Leon seinen Freund.

„Nur auf der Spielkonsole“, antwortet Ben grinsend und gibt Leon sein Longboard zurück.

Sie sind jetzt im kleinen Stadtzentrum und laufen auf dem holprigen Fußweg am Spielzeuggeschäft vorbei, in dessen Schaufenster die neusten Spielzeuge thronen. Ben und Leon bleiben kurz stehen und begutachten die blinkende Auswahl, dann gehen sie weiter. Vorbei am Bücherladen und dem Bäcker mit den großen Buchstaben über dem Eingang.

„Hm, das riecht so gut“, sagt Ben, während er seine Nase in die Luft hält und wie ein Fährtenhund schnuppert. „Das sind Pfannkuchen, ja, Pfannkuchen.“

Leon rollt nur leicht mit den Augen und schiebt seinen Freund schnell am Bäcker vorbei. Dann, kurz bevor es um die Ecke geht, müssen sie noch am Plattenladen vorbei, aus dem schon von Weitem Musik nach außen schallt. Sie kommen näher und dann kann Leon ihn hören. Den Klang des Herzschmerzentsetzens, die Musik des Weltuntergangs. Ein Schmalzangriff auf seine Ohren. Hat er heute Morgen noch seine Familie davor retten können, dudeln die gefährlichen Klänge schon wieder in seine Lauscher. Schnell geht er mit seinem Longboard unter dem Arm am großen Schaufenster vorbei und versucht, den schnulzigen Tönen auszuweichen. Er wirft einen schnellen Blick in das Geschäft und kann nur kurz sehen, wie ein älterer Verkäufer mit langem Pferdeschwanz zur Musik mitwippt und ein junges Mädchen einen roten Kopfhörer ausprobiert. Sie blickt dabei kurz zur Tür und Leon sieht ihr zufällig in die Augen. Warum er dabei plötzlich blöd grinsen muss, weiß er jedoch nicht. Ben hat Mühe, mit Leon Schritt zu halten, doch dann hat es Leon geschafft. Er ist in Sicherheit und sichtlich erleichtert, dass er überlebt hat. Er setzt sein Longboard auf die breite Straße mit der neuen Radspur, die raus aus dem Stadtzentrum führt, und Ben setzt sich auf sein Fahrrad und radelt los. Langsam fahren die beiden auf die Siedlung zu, in der Finn wohnt. Es geht leicht bergab, vorbei am Autohaus und vorbei am großen Möbelgeschäft. Sie passieren die große Siedlung mit den hohen Häusern und dann rollen sie direkt auf ihr Ziel zu. Ein riesengroßes Wohnhaus mit unzähligen Fenstern. Ben schließt sein Fahrrad am meterlangen Fahrradständer an und Leon schnappt sich sein schwarzes Longboard mit den neongelben Rollen unter den Arm und geht die Stufen hinauf zum Hauseingang. Sie stehen vor den vielen Klingeln, es sind bestimmt 50 Namen daran, Leon hat sie nie gezählt. Er will schon die seines Freundes drücken, doch bevor er den kleinen Knopf betätigen kann, kommt zufällig eine ältere Dame durch die Tür und Leon huscht geschwind in das Treppenhaus.

„Guten Tag, Madame. Dürfen wir eintreten?“, säuselt Ben der älteren Dame verbeugend entgegen.

„Natürlich dürfen Sie“, antwortet sie lachend und hält Ben noch die Tür auf.

„So ein netter junger Mann“, sagt sie freudig im Weggehen.

„Du nun wieder“, kichert Leon und verdreht leicht die Augen.

„Manieren, mein Lieber. Manieren“, reagiert Ben siegessicher.

Ben wartet auf den Fahrstuhl und Leon huscht die vielen Stufen bis in den achten Stock hinauf. Als Leon etwas außer Puste oben ankommt, steht Ben schon kaugummikauend da und begrüßt Leon mit einer knallenden Blase.

‚Brrrrrrrrrrrringggg.‘

„Da klingt deine Klingel doch etwas schöner“, sagt Leon zu Ben und nachdem er ein zweites Mal das nervige ‚Brrrrrringggg‘ erklingen lassen hat, hören sie Schritte hinter der Wohnungstür.

Diese geht auf und Finn steht neugierig im Türrahmen. Eine schwarze Haarsträhne hängt ihm lässig über dem Auge. Finn geht mit Leon und Ben nun in die sechste Klasse bei Herrn Tarius. Er wohnt mit seiner Mama in einer kleinen Wohnung zusammen.

„Es gibt Neuigkeiten. Wichtige. Wir fahren zu Herrn Tarius“, flüstert Leon ganz aufgeregt.

„Mama, darf ich raus?“, reagiert Finn schnell.

„Na klar, aber zieh dich ordentlich an“, antwortet Finns Mama fürsorglich aus dem Nebenzimmer.

Finn ist seit ihrem Abenteuer unter der Erde ein Anderer. Im Sport wurde er schlagartig Klassenbester und auch sonst ist seine immerwährende Angst vor Allem wie verflogen. Er hat sich sogar auch wie Leon ein Longboard zugelegt und seitdem sind die zwei zusammen mit Ben oft nachmittags unterwegs.

„Kann es losgehen?“, spricht Leon draußen vor der Haustür, während er seinen Schutzhelm aufsetzt.

Ben sitzt schon gemütlich auf seinem Fahrrad und Finn steht in voller Schutzmontur auf seinem Board. Wahrscheinlich zwingt ihn seine Mutter, sich zu kleiden wie ein Raumfahrer beim Weltraumspaziergang.

„Houston, wir sind startbereit“, kichert Ben seinem Freund zu.

„Sehr witzig. Du kennst doch meine Mama. Ohne den Schutz darf ich nicht fahren“, antwortet Finn etwas mürrisch und schiebt seine Haarsträhne unter den Helm.

„Dann kann es ja losgehen“, ruft Leon den beiden Jungs zu und schon fahren die drei Freunde gemeinsam los. Wenn es bergauf geht, muss Ben die Lokomotive spielen und Leon und Finn halten sich an seinem Fahrrad fest, was aber meist nur Sekunden funktioniert, dann merkt es Ben und fängt immer gleich an zu schimpfen. Zum Glück ist die Straße am Stadtrand frei und der Weg zu Herrn Tarius geht nur zweimal leicht bergauf. Nach ein paar Minuten kommen sie am Ziel ihrer Reise an und sehen Leonie schon von Weitem winken.

„Da seid ihr ja endlich. Ich warte schon eine ganze Weile“, begrüßt sie die drei.

„Papa hat mich hergefahren. Ich habe gesagt, ich muss mit einer Freundin etwas für die Schule üben“, spricht sie und Leon nickt ihr voller Respekt für diese kleine Notlüge zu.

Leon, Leonie, Finn und Ben stehen vor einem alten Holzzaun und schauen auf ein braunes rostiges Gartentor, an dem ein kleines weißes Namensschild den Bewohner preisgibt.

‚J. Tarius‘ steht in großen Buchstaben darauf.


„Für was das ‚J.‘ wohl steht“, fragt sich Leon, während die Kinder das alte quietschende Tor öffnen. Gemeinsam betreten sie einen kleinen Garten, in dem ein Baum hinter dem anderen wächst. Ein kleiner steiniger Weg krümmt sich an den Apfel- und Birnbäumen vorbei und führt sie direkt vor eine große Holztür, genau in der Mitte eines kleinen Häuschens. Nebeneinander aufgereiht stehen die Freunde davor und Leon sucht nach der Klingel.

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