Skratschko & Patsch

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Skratschko & Patsch
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Skratschko & Patsch

Eine lückenhafte Chronik ihrer Heldentaten,

insbesondere ihres Kampfes gegen die

Wilde Annamarie.

Aufgezeichnet von der der Wahrheit

verpflichteten Augen- beziehungsweise

Ohrenzeugin Vera Thies.

Herausgegeben von P.C. Friedrich

Impressum

Skratschko & Patsch

Copyright: © 2014 P.C. Friedrich

Umschlaggestaltung: P.C. Friedrich

published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

ISBN 978-3-8442-9391-3

Widmung:

Skratschko und – nun ja – auch Patsch in Dankbarkeit und Ehrfurcht gewidmet.

Inhalt:

Vorwort des Herausgebers

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

Vorwort des Herausgebers

Der Herausgeber fühlt sich verpflichtet, den Leser, der dieses Buch in Händen hält, zu warnen. Dieser hier zum ersten Mal veröffentlichte Tatsachenbericht der Vera Thies wird dem Leser den Atem verschlagen. Er wird ihm seine bisher so vertraute Welt auf den Kopf stellen und ihm grauenhafte, zuvor nie vorstellbare Wahrheiten zumuten. Und ich möchte niemanden zwingen, sich diesen Wahrheiten zu stellen. Es soll niemandem verübelt werden, der sein Leben weiterhin in einem süßen Halbschlaf verbringen will.

Ich erhielt das Manuskript auf dem Postweg ohne Angabe eines Absenders. Auch über den Autor, der sich hinter dem Pseudonym Vera Thies verbirgt, konnte ich bis heute nichts herausfinden. Trotzdem habe ich gute Gründe, mich für den Wahrheitsgehalt des Berichtes zu verbürgen.

Näheres zu diesen guten Gründen kann ich nicht sagen. Nur so viel möchte ich andeuten: Selbst wenn ich irgendetwas über die Identität der Vera Thies wüsste, dürfte ich nicht die geringste Andeutung machen. Nach der Lektüre der erschütternden Enthüllungen wird jeder Verständnis für dieses etwas nebulöse Vorwort haben.

1. Kapitel

in dem der Verfasser berichtet, wie er Skratschko und Patsch kennen lernte, und in dem er das Ende ihres unfassbaren, aber dennoch wahren Abenteuers vorweg nimmt. Dergestalt, dass der siegreiche Ausgang ihres Kampfes mit dem Bösen ohne großes Zaudern bekannt gegeben wird.

Ich bin einer der wenigen Menschen, die die beiden persönlich kannten. Skratschko und Patsch. Nicht, dass ich damit angeben will, ganz bestimmt nicht. Nein – wenn ich mich nun, im hohen Alter, entschlossen habe, mein Schweigegelübde zu brechen und ihre Geschichte niederzuschreiben, so einzig und allein, weil ich den Gedanken nicht ertragen kann, dass diese beiden und Skratschkos heldenhafte Taten in den endlosen Tiefen der Vergessenheit versinken. Auch wenn genau das ihr eigener Wille und der Grund für das Schweigegelübde war, das sie mir abnahmen, bevor sie von uns gingen. Vielleicht lade ich durch das Brechen dieses Gelübdes schwere Schuld auf mich – allein, ich kann nicht anders.

Nein, ich kann nicht anders. Selbst die Angst vor Hohlscheins Rache, die mir dadurch unweigerlich droht, kann mich nicht mehr davon abhalten. Schon oft im Verlauf der letzten Jahre hatte ich die Feder in die Hand genommen, doch kaum hatte ich die mit Tinte getränkte Spitze auf das stumme, weiße Blatt Papier gesetzt, fuhr mir die Angst vor Hohlschein wie ein eisiger Wind durch mein schlohweißes Haar und ließ meine Hand erstarren. Mehr als ein großer, schwarzer Fleck, der mir wie dunkelrotes Blut erschien, floss nie aus der Feder. Doch nun bin ich alt genug, dieser Angst zu trotzen. Mein Alter duldet keinen Aufschub mehr.

Ich war damals elf Jahre alt. Es war einer jener warmen Frühlingstage, an denen man nach langem Bitten und Betteln zum ersten Mal im Jahr kurze Hosen anziehen durfte. Ich stromerte alleine durch den Wald, der direkt hinter unserem Haus begann. Natürlich hatte meine Mutter mir verboten, alleine in den Wald zu gehen. Ich könne mich verirren in dem dunklen Wald und man wisse nie, wer sich da so herumtreibe. Nicht, dass ich ein unerschrockenes oder einfach fantasieloses Kind gewesen wäre. Im Gegenteil – in unserer Klasse gehörte ich eher zu den Ängstlichen. Aber das Dunkle, Geheimnisvolle des Waldes hinter unserem gepflegten Einfamilienhaus mit dem löwenzahnfreien, englischen Rasen und den akkurat abgestochenen Blumenrabatten war stets stärker als meine Angst – zog mich magisch an.

Meine Mutter ließ ich während meiner Streifzüge durch den Wald im Glauben, ich hätte mich in meinem Zimmer hinter meinen Büchern verkrochen. Sie hielt mich für einen fanatischen Bücherwurm und forderte mich immer wieder auf, doch lieber mit Karl-Jonas von nebenan zu spielen. Doch den fand ich langweilig. Entweder schaute er fern oder er wollte die ganz normalen Spiele spielen. Außerdem nannte er mich immer Lügner, wenn ich ihm die Geschichten aus den Büchern erzählte, die ich gerade las.

An diesem Frühlingstag ging ich so tief in den Wald, wie ich es noch nie gewagt hatte. Obwohl mir immer unheimlicher zu Mute wurde, kämpfte ich mich wie unter Zwang durch eine dichte Fichtenschonung. Als der Fichtenwald sich urplötzlich öffnete und ich auf eine große, sonnenüberflutete Lichtung trat, stand ich unvermittelt vor den beiden. Hatte mir zwei Sekunden zuvor das Herz noch bis in die Ohren geschlagen, war ich in diesem Augenblick so verblüfft, dass ich nicht einmal erschrak. Auch sie waren wohl völlig überrascht, sonst hätten sie einen ihrer Tricks angewandt und wären sofort verschwunden. Sie kannten eine Menge Tricks, schließlich gehörten sie zu den Eigentlichen.

Sie gingen mir gerade mal bis zur Hüfte. Patsch war sogar noch ein Kopf kleiner als Skratschko. Trotzdem hatte ich sofort so viel Respekt vor ihnen wie vor zwei Polizisten oder meinen strengen Großeltern. Irgendeine Ausstrahlung, die ich gar nicht beschreiben kann, ging von ihnen aus. Skratschko hatte einen äußerst breiten Oberkörper und trug eine Art Rüstung aus einem mit Rostflecken bedeckten, rötlich schimmernden Metall. Auf der einen Seite der Brust war die Rüstung stark ausgebeult, so als hätte er einen Buckel (aber eben nicht auf dem Rücken, sondern auf der Brust). Erst viel später sollte ich erfahren, was es mit diesem Buckel für eine Bewandtnis hatte. Diese Rüstung trug er immer. Nie habe ich ihn ohne gesehen. Die Beine, die im Vergleich mit dem Oberkörper fast spindeldürr waren, steckten lediglich in dünnen, halblangen Hosen, die gerade mal über die Knie reichten und unten zerschlissen waren. Und die Füße in leichten Sandalen aus Lederriemchen.

„Die Beine“, sagte Skratschko des öfteren, „müssen beweglich und die Füße stets kühl bleiben, in der Tat. Das hat mir schon in so manchem Kampf das Leben gerettet, in der Tat.“ (Immer wenn er mir lehrreiche Dinge mitteilte, beendete er jeden Satz mit In der Tat.)

Im Gegensatz zu dieser sehr nachlässigen Bekleidung der Beine trug er unter der Rüstung ein stets strahlend weißes Hemd mit Spitzenkragen, Puffärmeln und goldenen Manschettenknöpfen. Hierzu bemerkte er einmal: „Das Entscheidende sind Herz und Kopf. Diese Körperregionen sollten trefflich gepflegt und herausgeputzt werden, in der Tat. Diese Pflege wird jedoch umso lächerlicher, je weiter man an seiner Körperlichkeit abwärts geht. Beine und Füße sind Gebrauchsgegenstände, in der Tat. Sie sind zum Laufen und Treten. Und beim Treten kommt es nicht auf Anmut und Grazie an. Das wäre törichte Eitelkeit, in der Tat.“

Patschs Bekleidung war gänzlich anders. Es schien, als wolle dieser lässige Bursche bereits mit den Kleidern seinen zwanghaften Widerspruchsgeist gegen den überlegenen Skratschko ausdrücken. Er trug ein langes, graues Hemd aus grobem Leinenstoff, das nur sehr unordentlich in eine elegante Nadelstreifenhose gesteckt war. Die Füße steckten in schweren Wanderstiefeln. „Die trage ick“, so raunte er mir einmal hinter vorgehaltener Hand zu, „damit icke immer schön uffm Boden der Tatsachen bleibe. Im Gegensatz zu diesem Hochstapler da.“ Dabei nickte er verstohlen zu Skratschko.

Doch zurück zu meiner ersten Begegnung mit den beiden. Als ich so unvermittelt vor ihnen stand, begannen sie hektisch miteinander zu tuscheln. Bereits da fiel mir das nervöse Zucken des rechten Mundwinkels von Skratschko auf. Er konnte praktisch nicht reden ohne dieses Zucken. Von ihrem Getuschel konnte ich nur einzelne Worte aufschnappen.

„... ein Menschling ... zu spät ... nur ein Kind ...“

Schließlich stellte Skratschko sich breitbeinig vor mich, stützte sich mit beiden Händen auf ein – für seine Körpergröße – riesiges Schwert, das an seinem Gürtel gebaumelt hatte, grüßte mich durch ein angedeutetes Kopfnicken und sprach: „Was führt Ihn zu uns? Wird Er von Schnurks verfolgt oder hat ein Schleimbeutler seine Eltern geschändet? Irrt Er seit Tagen hilflos und vom Hunger ausgezehrt durch den finsteren Wald?“

Außer einem blöden „Äh?“ kam nichts aus meinem Mund.

„Wenn Er Schutz und Obdach für eine Nacht begehrt“, fuhr Skratschko fort, „so wird Er in unserer bescheidenen Behausung so sicher ruhen wie in Abrahams Schoß. Dafür stehen wir mit unserem Leben ein.“

Mit Behausung meinte er ein großes, altes Weinfass, das halb verdeckt in einer Brombeerhecke lag.

„Schutz und Obdach?“, stotterte ich. „Nein, das brauche ich eigentlich nicht. Ich wohn gleich da hinter dem Wald, im Erlenweg Nr. 17.“

 

Patsch stieß Skratschko mit dem Ellenbogen in die Seite, wobei die Rüstung schepperte, und raunte ihm zu: „Der iss noch völlig ahnungslos.“

Skratschko warf einen kurzen, schneidenden Blick zu Patsch und murmelte: „Überlass solch eindeutige Beobachtungen lieber meinem überwältigenden Scharfsinn.“

Patsch hob beide Arme, machte ein gelangweiltes Gesicht und sagte: „Okay, okay, Boss. Du bist hier für die Fehlentscheidungen zuständig.“

Skratschko beachtete ihn gar nicht und sagte mehr zu sich selbst als zu mir: „Du bist also noch keinem Eigentlichen begegnet?“

„Einem Eigentlichen?“, antwortete ich verwirrt.

Skratschko legte sein Schwert hin und setzte sich auf einen Stein. „Nun gut, Kleiner. Setzt dich zu meinen Füßen nieder und gewöhne dich erst mal an unseren betörenden Anblick.“

Schüchtern wagte ich zu fragen, was sie denn hier im Wald machten und ob sie hier wohnten. Patsch, der mittlerweile lässig im Gras lag und auf einem Grashalm herumkaute, bemerkte: „Iss bloß so ne Art Urlaub hier. En bisschen Erholung ham wa schließlich vadient nach unserm Kampf jejen die Wilde A...“

„Patsch!“, unterbrach Skratschko ihn heftig. „Will Er ihn umbringen? Der Schleier der Unwissenheit darf nur nach und nach gelüftet werden. Der unvermittelte Anblick der grausamen Wirklichkeit würde einen Ahnungslosen in Wahn und Verzweiflung stürzen.“

Patsch antwortete nur, in dem er auf eine ihm ganz eigene Art aus dem linken Mundwinkel spuckte. Ich habe nie mehr jemanden getroffen, der seitwärts aus dem Mund spucken kann.

Ja, Skratschko ging sehr behutsam mit mir um. Mir selbst dagegen ist nicht diese Engelsgeduld von Skratschko in die Wiege gelegt worden und ich kann mich nicht länger im Zaum halten, sondern muss gleich jetzt, nachdem diese erste Andeutung von Patsch gefallen ist, die Wahrheit hervorschlüpfen lassen und diesen stolzen Recken auf das Heldendenkmal emporheben, das ihm gebührt. Auch wenn mich Hohlscheins Rache in Gestalt eines jähen Blitzes treffen sollte, weil ich mein Schweigegelübde nun breche, es muss aus mir heraus: Skratschko war es – und niemand anderes, wie manche Sage uns inzwischen weiß machen will – er war es, der die Welt von der Wilden Annamarie befreit hat. Ja, ihr habt richtig gehört: Der Wilden Annamarie. Der Wilden Annamarie.

Falls der Leser zu denjenigen zählen sollte, die tatsächlich noch nichts von der Wilden Annamarie vernommen haben und, so wie ich damals, noch zu den Ahnungslosen gehören, so frage er seine Großeltern. Hat er sich nie gefragt, warum seine Oma so humpelt oder nur noch auf einem Auge sieht oder warum seinem Opa ein Finger oder ein Ohr fehlt? Aber wenn der Leser sie fragt – lass er sich nicht mit billigen Ausreden abspeisen! Frage er direkt nach der Wilden Annamarie, auch wenn sie dabei blass vor Schreck werden.

Ich muss meinen Bericht hier unterbrechen und die ersten zarten Blätter dieses Manuskriptes schnell verstecken. Ich höre Schritte auf dem Gang. Hohlschein hat seine Spitzel – überall.

2. Kapitel

enthält eine Beschreibung der beiden ungleichen Helden sowie erste Enthüllungen über die Eigentlichen.

Hätte ich damals auch nur geahnt, welche Enthüllungen mir bevorstanden, ich wäre wahrscheinlich nie wieder zu den beiden in den Wald gegangen, sondern hätte mich zitternd für den Rest meines Lebens im Bett verkrochen. Aber so ging ich gleich am nächsten Tag wieder zu ihnen. Ich hielt sie immer noch für etwas schrullige und zwergwüchsige, aber trotz allem normale Menschen.

Anfangs besuchte ich sie aus purer Neugier und weil es bei ihnen nie langweilig war. Sie hatten immer etwas zu erzählen. Dass heißt, Skratschko hatte immer was zu erzählen. Patsch dagegen, erklärte mir Skratschko schon bei meiner zweiten Begegnung mit ihnen, könne keine wahrhaft wirklichen Geschichten erzählen. Er würde die Dinge stets verdrehen oder Sachen erfinden. „Seine Fantasie“, sagte Skratschko oft, „ist ein von einer Wespe gestochenes Wildpferd, das davon stürmt, sobald er den Mund auf macht.“

Meist gab es gleich eine Balgerei, wenn Skratschko dies sagte, denn in diesem Punkt war Patsch sehr empfindlich. Überhaupt gehörten Balgereien bei den zweien dazu wie bei uns das tägliche Zähneputzen. Obwohl es dabei nicht gerade harmlos zuging. Das Geringste war noch, wenn sie sich ihre Nasen verbogen oder sich gegenseitig Knoten in ihre bis zu den Schultern herabhängenden Ohrläppchen machten. Doch wie übel sie sich auch zurichteten, anschließend waren sie stets bester Laune.

Da ich gerade die langen Ohrläppchen erwähnt habe, möchte ich kurz noch die markanten Gesichter der beiden beschreiben, von denen es weder Fotos noch Gemälde gibt (Skratschko sagte, es diene ihrem eigenen Schutz, dass niemand ihr Gesicht kenne; aber in erster Linie war es seine übergroße Bescheidenheit, die ihn jede Öffentlichkeit scheuen ließ).

Skratschkos Gesicht strahlte eine tiefe Würde aus, obwohl es im Grunde eher als hässlich zu bezeichnen war. Es war über und über von Falten zerfurcht und auf der rechten Nasenseite befand sich eine dicke, rote Warze, aus der drei lange, sich kräuselnde Haare wuchsen. Die üppigen, schwarzen Haare auf seinem Kopf machten einen verwahrlosten Eindruck, doch mittlerweile habe ich Gründe zu glauben, dass diese in unseren Augen völlig verschnittene Frisur bei den Eigentlichen eine tiefe symbolische Bedeutung hat. Der Schnurrbart dagegen war auch in unseren Augen eine wahre Pracht. Skratschko zwirbelte die beiden Hälften jeden Morgen auf und machte sie mit Hilfe einer speziellen Pomade so steif, dass er sie in einem rechten Winkel nach oben knicken konnte. Die dünn auslaufenden Spitzen der beiden Schnurrbarthälften endeten in Höhe der stahlblauen Augen, die dadurch einen wahrhaft stechenden Blick bekamen. Das bereits erwähnte nervöse Zucken des rechten Mundwinkels beim Sprechen ließ diese Schnurrbarthälfte ständig hin und her wippen. Ich kann nur vermuten (denn natürlich verrieten die beiden mir nicht alle ihre Tricks), dass dieses Zucken mit so einer Art hypnotisierender Fähigkeit zusammenhing, die Skratschko bei Bedarf auf sein Gegenüber anwenden konnte.

Doch wichtiger als alle Äußerlichkeiten dieses markanten Gesichts war die Ausstrahlung. Das Gesicht – nein, die ganze Person Skratschkos – strahlte eine solch tiefe Würde aus, dass man gar nicht anders konnte, als ihm mit Ehrfurcht und Respekt gegenüber zu stehen.

Im Gegensatz zu Skratschko wäre Patsch als außerordentlich schön zu bezeichnen gewesen, wenn er bloß mehr Wert auf sein Äußeres gelegt hätte. Eine ordentliche Haarwäsche hätte wahrscheinlich genügt und jedes Opernhaus hätte ihn ohne Prüfung seiner Gesangsstimme als blonden, jugendlichen Helden engagiert. So aber floss sein langes, blondes, vor Fett triefendes Haar wie kümmerliche Rinnsale an Kopf und Schultern hinab. Skratschko sagte einmal: „Patsch ist und bleibt ein verwahrlostes Objekt. Dabei habe ich schon mächtig an ihm zurechtgebogen und poliert. Du hättest ihn sehen müssen als ich ihn gefunden habe. Ein schmieriger, stinkender Dreckhaufen in Form einer zu kurz geratenen Bohnenstange. Ein unverständlich lallender, lausiger Lump, dem unentwegt der Sabber aus dem Munde floss.“

Patsch, der diese Bemerkung gehört hatte, verdrehte die Augen und machte mit der Hand ein Zeichen, das mir bedeuten sollte, ich solle Skratschko nicht ernst nehmen. Aber weiter regten ihn abfällige Bemerkungen über sein Äußeres nicht auf.

Das einzige, worauf er achtete, war, die Augenbrauen hoch zu bürsten, damit er etwas wilder aussah. „Muss ja nich gleich jeder merken“, erklärte er mir, „dass icke im Grunde von meim Herzen janz zartfühlend bin.“

Aus dem gleichen Grund malte er sich gelegentlich mit Kohle einen schwarzen Bart an. Das passte natürlich nicht zu seinen blonden Haaren, aber ein blonder Bart wäre kaum aufgefallen. Daneben gab es nur eins, was seine so grazilen Gesichtzüge verunzierte. Eine große Narbe auf seiner linken Wange.

Das eitle Gehabe mit seinen Augenbrauen und seinem angemalten Bart, das in so merkwürdigem Kontrast zu seinem ungepflegten, schmierigen Äußeren stand, war es jedoch nicht, was in mir von Anfang an ein Gefühl des Unbehagens auslöste. Ich hätte damals nicht sagen können, was dieses Unbehagen, dieses Misstrauen eigentlich hervorrief. Auch war ich mir dieses Gefühls lange selbst kaum bewusst, da ich viel zu sehr im Bann von Skratschkos Persönlichkeit stand, um über Patsch groß nachzudenken.

Doch lassen wir jetzt mein Verhältnis zu Patsch beiseite. Ich denke, die Zeit ist nun reif, mich etwas deutlicher über das Wesen der beiden auszulassen. Ich selbst war damals noch sehr naiv und brauchte eine Weile, bis ich mir nach und nach – aufgrund ihrer Erzählungen, die ich anfangs nur für lustige Geschichten gehalten hatte – eingestehen musste, dass ich es nicht mit gewöhnlichen Menschen zu tun hatte. Irgendwann war jedoch meine Verunsicherung so groß, dass ich es wagte, sie zu fragen, ob sie so etwas wie Kobolde oder Elfen wären.

Skratschko holte tief Luft und wurde so aufgebracht, wie ich ihn noch nie erlebt hatte. „Mein hitziges Blut gerät in wogende Wallung, wenn ich diesen Quatsch höre, in der Tat“, schrie er mich an. „Diesen zehnmal durchgewalkten Schwachsinn, den sich schwadronierende Schreiberlinge seit Jahrhunderten aus der Feder quetschen und auf Papier klecksen. – Und Ihn haben sie also auch schon eingewickelt.“

„Dann vielleicht Hobbits?“, fiel ich ihm ins Wort – in der irrwitzigen Hoffnung, meine lächerliche und Skratschko offensichtlich zutiefst beleidigende Bemerkung damit gut zu machen.

Skratschko erstarrte. Sein Kopf nahm die Farbe eines glühenden Feuerballs an. „HO – BBITS? Will er mich zu wahrhaft infernalisch glühender Weißglut bringen? Hobbits! Diese missgestalteten Kopfgeburten dieses phantasiezerfressenen englischen Professors, dieses irrlichternden Geschichtendichters, dieses Elfen-Legasthenikers, dieses mickrigen Mythenquacksalbers, dieses – dieses – J. – R. – R. – Tollkirsch!“

Er stieß mir mit seinem Zeigefinger so heftig gegen die Brust, dass ich einen Schritt rückwärts stolperte.

„Gib Er zu, Er hat viel zu viele dieser schändlichen Bücher gelesen.“ Wenn er ganz besonders streng sein wollte, redete er einen mit Er und Ihn an. Dann war wirklich nicht mit ihm zu spaßen.

„Aber ... aber Lesen ist doch wichtig“, versuchte ich mich zu verteidigen. „Das sagt auch mein Deutschlehrer.“

„Lehrer! Lehrer!“, fuhr Skratschko auf und tippte mir wieder so heftig mit dem Finger gegen die Brust, dass es schmerzte. „Wären Lehrer doch auch bloß solch Fantasiegezücht wie Elfen, Kobolde, Feen, Zyklopen, Glasmännchen und wie sie alle heißen. Diese Bücher wollen Ihn einwickeln und seine Fantasie vertrocknen. Schon der alte, wackere Merlin hat versucht, euch Menschlinge vor diesem Laster zu bewahren, in der Tat. Merk Er sich die Warnung, die Merlin in der Höhle der unerreichbaren Wahrheiten in Butter meißeln ließ:

Ein Buch, sie zu knechten, eins sie zu binden

Ins Dunkle zu schreiben, in Nebel zu winden.

Buch um Buch und Seite für Seite

Führt die Lämmer in ganz leere Weite.

Viele dergleichen, das Hirn zu beschleichen.

Fantastisches in maßloser Fülle

Und Fantasie wird leere Hülle.“

Ich war ziemlich verwirrt und sagte zaghaft: „Aber mein Deutschlehrer sagt, viel lesen würde die Fantasie anregen.“

Skratschko strafte meinen kindlichen Widerspruchsgeist, indem er mir erneut seinen Zeigefinger in die Brust bohrte und wütend schnaubte. „Er soll mir von diesen liederlichen Lehrern und quacksalbernden Querulanten schweigen. Diesen schamlosen Scharlatanen und berufsmäßigen Dummschwätzern.“ Er holte tief Luft, schloss die Augen und bemühte angestrengt, sich zu beruhigen. Mit etwas gedämpfter Stimme fuhr er fort: „Eins dieser Bücher mag vielleicht noch angehen, in der Tat. Aber die Dosis macht das Gift!“

„Den Spruch kenn ich“, entgegnete ich schnell, froh, endlich was Zustimmendes sagen zu können. „Der Spruch stammt von irgend so einem berühmten Arzt aus dem Mittelalter. Para... Para...lyse oder so ähnlich hieß der.“

Ein Schmunzeln huschte über Skratschkos Mund und mit wieder freundlich-väterlicher Stimme verbesserte er mich: „Paracelsus.“ Er machte eine leichte Verbeugung. „Er steht vor dir.“

Verdutzt rieb ich mir die Augen. „Wie, ich denke, du heißt Skratschko?“

„Sicher, mein Kleiner. Paracelsus war im Mittelalter bloß eine zeitlang mein Künstlername. Damals grassierte überall diese grässliche Latein-Mode. Seit Jahrhunderten lebte kein Lateiner mehr, aber jeder, der was auf sich hielt, redete nur noch lateinisch. Ohne lateinische Namen ging nichts mehr. Ohne lateinischen Namen hätte wahrlich kein Pestkranker sich von mir heilen lassen, in der Tat. Wenn ich die dahinsterbende Menschheit nicht ihrem Schicksal überlassen wollte, so war ich gezwungen, mich dieser kindischen Mode zu beugen.“

 

Nun war ich vollends verwirrt und fragte: „Seid ihr also doch ganz normale Menschen, bloß etwas älter?“

Skratschko zuckte zurück und rief angewidert: „Igitt igitt igitt. Wir und Menschlinge? Zügle Er sein liederliches Mundwerk!“

Patsch, der wie meist auf seine übliche, lässige Art auf der Wiese gelegen hatte, war wie ein Blitz aufgesprungen und drückte mir ein langes Messer an die Kehle. Das Messer hatte er, schneller als meine Augen es wahrnehmen konnten, irgendwo aus verborgenen Taschen seiner Nadelstreifenhose gezückt. Im Umgang mit seinen Messern war Patsch ein wahrer Zauberkünstler. Ich sah mein letztes Stündlein gekommen, doch Skratschko packte Patschs Handgelenk und sagte: „Beruhige dein aufschäumendes Gemüt, Patsch. Er kann ja nichts dafür, dass die Erwachsenen aus lauter Angst nie die Wahrheit erzählen.“

„Welche Wahrheit?“, brachte ich stotternd hervor. „Wovon redet ihr?“

Skratschko und Patsch verständigten sich kurz mit Blicken, dann meinte Skratschko mit einem Kopfnicken zu Patsch: „Erzähl du’s ihm. Du redest doch so gern. Aber keine fantastischen Ausschmückungen. Immer hübsch bei der Wahrheit bleiben. Hast du mich verstanden, Patsch?“

Dieser antwortete mit einer wegwerfenden Handbewegung und wandte sich an mich: „Okay, Milchbubi! Jetzt janz locker bleiben. – Es gibt euch Menschlinge – die kennste ja zur Jenüge – und es gibt die Eijentlichen. Det sind nich alles solche Prachtexemplare wie icke, es jibt darunter sogar ausjesprochen fiese Arten wie etwa die Schleimbeutler, die Schnurks oder den Tanz-Wüterich. Die meisten erwachsenen Menschlinge wissen ooch einigermaßen Bescheid über die Eijentlichen und vor allem über die ...“, er versicherte sich mit einem Blick zu Skratschko, bevor er mit gesenkter Stimme weiter redete, „... über die Wilde Annamarie. Aber sie ham so viel Schiss vor ihr, dass sie wie jelähmt sind, wenn sie nur an sie denken. Keener wagt, ihren Namen auszusprechen. Nich mal mit andern Erwachsenen sprechen sie über uns Eijentliche. Jeder weeß, dass jeder Bescheid weeß. Aber das Grauen lässt ihre Zunge jefrieren. Und selbst die, denen die Wilde Annamarie en Bein oder en Arm abjebissen hat, erzählen noch heute sojar ihrem engsten Freund, es sei ein Unfall mit der Motorsäge jewesen.“

Skratschko klatschte bedächtig in die Hände und sagte anerkennend: „Fürwahr, ich staune, Patsch. Wenn es sein muss, kannst du ja tatsächlich deine notorische Flunkerei sein lassen.“

Patsch spuckte bloß aus und grummelte: „Ach, wat weeßt du denn schon.“

Das Lob von Skratschko war ehrlich gemeint, doch er hatte Patsch auch unterbrochen, um ihn daran zu hindern, mir zu viel auf einmal zu erzählen. Denn natürlich war das noch nicht die ganze Wahrheit. Skratschko wollte mir die Qualen der Erkenntnis nur nach und nach zumuten. Er wollte mich immer noch schonen. Und auch ich will die Ahnungslosen unter meinen Lesern noch eine Weile schonen. Ihr solltet mir dankbar dafür sein.