Politische Philosophie des Gemeinsinns

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Immer hat die Herrschaft im Reiche des Begriffs etwas von der realen Herrschaft an sich oder ist ein Kompensationsprodukt realer Herrschaft. Die Entfaltung dieser begrifflichen Systeme ist auch ein Produkt der Reduktion des Realitätsgehaltes. Aber gerade deshalb konnte diese Philosophie eine Dimension und Tiefe erreichen, die politisch in dem Sinne nicht angreifbar und anfechtbar war wie andere Systeme, die nur im Bereich des Gedankens sich entfalteten, und somit Methoden entwickeln, die weit über diese Systeme hinausgingen. Das heißt, die Widersprüchlichkeit innerhalb des deutschen Idealismus erzeugt zwei Dinge: auf der einen Seite eine Entmaterialisierung der politischen und ökonomischen Bewegungen und bürgerlichen Revolutionen, insbesondere der Französischen Revolution, auf der anderen Seite die Freisetzung des spekulativen Gedankens, der sich aus der Spekulation heraus dieser Realität bemächtigt und sie mit dem Begriff noch einmal durchgeht und zwar relativ unabhängig von unmittelbarer politischer Repression.

Wir wissen heute durch die Arbeiten von Karl-Heinz Ilting (1925–1984), der Kollegnachschriften der Hegel’schen Rechtsphilosophie aufgedeckt hat, dass Hegels Vorlesungen von seiner veröffentlichten Rechtsphilosophie abwichen. Er sprach sehr viel offener, als er sich in der Druckfassung äußerte, die nach den Karlsbader Beschlüssen, nach dem Einläuten dieser ungeheuer reaktionären Periode verfasst wurden. Aber gleichwohl ändert das nichts Grundsätzliches an der These, dass die Revolution bereits auf einen ruhigen Boden der geistigen Entwicklung in Deutschland hinübergerettet war. In der »Phänomenologie des Geistes« heißt es:

Die absolute Freiheit hat also den Gegensatz des allgemeinen und einzelnen Willens mit sich selbst ausgeglichen; der sich entfremdete Geist, auf die Spitze seines Gegensatzes getrieben, in welchem das reine Wollen und das rein Wollende noch unterschieden sind, setzt ihn zur durchsichtigen Form herab, und findet darin sich selbst. – Wie das Reich der wirklichen Welt in das Reich des Glaubens und der Einsicht übergeht, so geht die absolute Freiheit [das ist die Freiheit, wie sie sich in der Französischen Revolution darstellt als Wirklichkeit zerstörende Abstraktion, Anm. Negt] aus ihrer sich selbst zerstörenden Wirklichkeit in ein anderes Land des selbstbewußten Geistes über [das ist Deutschland im Gegensatz zu Frankreich, Anm. Negt], worin sie in dieser Unwirklichkeit [die Materialität ist abgezogen und erscheint in der Unwirklichkeit von Moralität, Anm. Negt] als das Wahre gilt, an dessen Gedanken er sich labt, insofern er Gedanke ist und bleibt, und dieses in das Selbstbewußtsein eingeschlossene Sein als das vollkommne und vollständige Wesen weiß. Es ist die neue Gestalt des moralischen Geistes entstanden.113

Wenn Sie so wollen, kehrt die Revolution zu Kant zurück. Der eigentliche Übergang besteht für Hegel aber darin, wie der Geist von der Französischen Revolution wegkommt. Wenn er bei Kant ist, dann ist er auf derselben Ebene wie die Hegel’sche Philosophie. Wenn die geschichtliche Substanz in die Moralität Kants gerettet ist, dann ist der Gedanke gesichert in seinem ruhigen Reich. Die Kritik bezieht sich ja auch auf die abstrakte Moralität, die in dieser Revolution steckt.

Wir können hier die Interpretation von Kant einbeziehen: Sofern die Revolution Gedanke und Geschichtszeichen ist, Zeichen der Natur, ist die Revolution bei sich, ist sie nichts völlig anderes mehr. Diese Transposition in die Denkweise und in das Geschichtszeichen ist die Rückkehr des Geistes aus einer entfremdeten Realität in sich selbst. Diese neue Gestalt bleibt aber nicht der moralische Geist, und das ist der Schritt, den Hegel weit über Kant hinaus vollzieht. Sondern dieser moralische Geist ist die absolute Freiheit seiner selbst. Das ist die Grundlage der neuen Welt, der bürgerlichen Welt, aber in der Kantischen Form abstrahiert von der Realität. Das heißt, Moralität und Realität waren bei Kant absolut nicht aufeinander beziehbar, hatten keine Vermittlungsmomente in sich. Diese Vermittlungsmomente zeigt Hegel hier nun auf, wenn er sagt: Es ist schon die Wahrheit, aber nicht die ganze Wahrheit, nicht die Wahrheit, die sich innerhalb des Begriffs und in der Realität entfaltet.

Gewalt bei Hegel und Volk bei Kant

Vorlesung vom 22. November 1974

Ich bin, von einigen, die sehr intelligent sind, darauf hingewiesen worden, dass sie absolut nichts von dem verstanden haben, was ich zuletzt gesagt habe. Diesen Vorwurf nehme ich sehr ernst, weshalb ich noch einmal das Problem der Gewalt bei Hegel aufgreifen will, um dann den verloren gegangenen Gedanken zur Zwiespältigkeit des Begriffs ›Volk‹ bei Kant zu erörtern.

Hegel geht davon aus, dass Gewalt als eine vom Gesamtzusammenhang isolierte Potenz das System oder die Gesellschaft nicht verändert, weil sie in dieser Form eine Abstraktion von allen anderen Zusammenhängen ist. Abstraktion bedeutet bei Hegel und in der Dialektik immer Isolierung. Dabei gebraucht Hegel allerdings nicht den üblichen Begriff der Abstraktion, der vom Konkreten abzieht. In den Begriff des Konkreten und seine vollständige Entfaltung geht die Unmittelbarkeit sinnlicher Erfahrung und so weiter ein. Das Allgemeine ist hier daher das Konkrete und nicht das Abstrakte. Bei Hegel sind Abstraktionen abhängige Momente, ist Abstraktion immer mit dem behaftet, wovon sie abstrahiert ist. Sie hat das, wovon sie abstrahiert, an sich, aber nicht für sich, nicht als Begriffenes. Das heißt, eine Gewalt, die sich in einem System als einzelnes, abstraktes Gewaltmoment verselbstständigt, ist mit diesem System völlig behaftet, reproduziert es also auf einer bestimmten Ebene und ist ihm gegenüber ohnmächtig, weil sie nicht die volle Konkretion eingeht. Das ist ein Grundgedanke Hegels zum Problem der Gewalt.

Ich möchte das anhand eines Ausspruchs aus der »Enzyklopädie« §209 erläutern.

Die Vernunft ist ebenso listig als mächtig. Die List besteht überhaupt in der vermittelnden Tätigkeit, welche, indem sie die Objekte ihrer eigenen Natur gemäß aufeinander einwirken und sich aneinander abarbeiten läßt, ohne sich unmittelbar in diesen Prozeß einzumischen, gleichwohl nur ihren Zweck zur Ausführung bringt. Man kann in diesem Sinne sagen, daß die göttliche Vorsehung, der Welt und ihrem Prozeß gegenüber, sich als die absolute List verhält. Gott läßt die Menschen mit ihren besonderen Leidenschaften und Interessen gewähren, und was dadurch zustande kommt, das ist die Vollführung seiner Absichten, welche ein anderes sind als dasjenige, um was es denjenigen, deren er sich dabei bedient, zunächst zu tun war.114

Hier kehrt in etwas variierter Form ein Grundmotiv des bürgerlichen Denkens wieder, das wir schon bei Kant kennengelernt haben, in Form der List, also jenes Verhaltens, in dem Zwecke realisiert werden, die nicht in den einzelnen Individuen enthalten sind. Die Realisierung dieser Zwecke vollzieht sich so, dass die beteiligten Individuen es nicht wissen. Aber es gibt ein Ziel, auf das die einzelnen Interessen und Bedürfnisse hin geordnet sind. Das Bezeichnende hierbei ist, dass sich etwas vollzieht, was für die Bestimmung der Gewalt wichtig ist: Gewalt als eine Intention der Veränderung von Realität, der Realisierung eines bestimmten Zwecks.

Nun stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen die Vernunft »ebenso listig als mächtig« ist. Sie ist nicht als solche mächtig, genauso wenig wie Gewalt als solche mächtig und listig ist. List ist immer damit verknüpft, dass man auf die Stärke des Gegners eingeht. Die Stärke des Gegners zum Hebel für eigene Zwecke zu machen, darin besteht die List und nicht darin, den Gegner an der schwachen Seite zu fassen. Dann könnte man die Kräfte nicht gegeneinander ausspielen und sie sich nicht aneinander abarbeiten lassen. Wer nicht die Stärke des Gegners angreift, zielt deshalb eigentlich am Gegner vorbei.

Die Vernunft überlistet deshalb, weil sie mehr weiß. Sie weiß ihren eigenen Zweck und sie weiß die Koordination, die Verfügbarkeit der Mittel. Dieses doppelte Wissen befähigt sie, sich so zu verhalten, als ob sie sich nicht in den objektiven Prozess einmischt, sondern diesen gewissermaßen mit leichter Hand reguliert. Und sie ist mächtig, weil sie eben imstande ist, den objektiven Prozess, der abläuft, zu begreifen und jene Gesetzmäßigkeiten in die eigene Teleologie, in die eigene Zweckmäßigkeit, einzubeziehen, sodass sie nicht mehr ein ihm vollkommen Fremdes, ihm Gegenüberstehendes, das heißt Abstraktes ist. In diesem Prozess wird sowohl die Subjektivität der Zwecksetzung etwas Objektives als auch die Objektivität, in das ein subjektives, handelndes und begreifendes Moment hineinkommt, etwas Subjektives. Der sich hier abspielende Realisierungsprozess bedeutet, dass die Einseitigkeit neutralisiert und aufgehoben wird. Das heißt, die Einseitigkeit, das absolut Fremde, das dem subjektiven Zweck entgegensteht, wird genau in der Realisierung dieser Zwecke aufgehoben. Es wird neutralisiert in seiner absoluten Wirksamkeit: das Subjekt in seiner absoluten Moralität und das Objekt in seiner absoluten Gewalt und Übermacht. Der Zweck erhält sich gegen und in dem Objektiven, weil er nicht nur das einseitige Subjektive ist, das Besondere, sondern auch das konkrete Allgemeine, die an sich seiende Identität beider.

Das ist ein Prozess der Aufhebung von Abstraktionen verschiedener Art, zunächst der Abstraktion von Subjekt und Objekt. Wo diese unvermittelt entgegenstehen, sind sie beide abstrakt, begrenzt und bloße Momente. Nun geht es aber um die Aufhebung der Abstraktionen und die Objektivität in ihrer bloß angeschauten Form, nicht in ihrer Komplexität und Gesetzmäßigkeit. Hegel spricht in diesem Fall von physikalischen und chemischen Erscheinungen, von objektiven Gesetzmäßigkeiten. Die stehen allein in der begrenzten Form, auf die sich die Subjektivität bezieht. Wenn die Subjektivität diese begrenzte Form aufhebt, muss sie die Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen und nicht die einzelnen Erscheinungen erkennen. Erst die Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen macht es möglich, dass im Objekt selbst ein subjektives Moment enthalten ist, nämlich der Begriff von Gesetz und gesetzlicher Entwicklung. Umgekehrt muss man begreifen, dass die davon zurückgeworfene, davon abgetrennte Subjektivität eine Abstraktion ist und mit den abstrakten Momenten der Realität behaftet, abhängig. Abstraktionen bezeichnen immer ein Abhängiges, von dem sie abstrahiert sind. Man kann sonst nicht die in das Subjekt selbst eingehende Objektivität der Gesellschaft und der Geschichte begreifen. Man ist auch nicht imstande, die Gesetzmäßigkeit in den Objekten für diesen Prozess zu benutzen.

 

Die List bei Hegel ist nicht etwas Überlistendes, so eine Art geschichtliche Bauernschläue, die bloß die Schwäche der anderen, der Herrschenden erkennt. Es hat nichts mit einer Schwejk-Haltung gegenüber der Geschichte zu tun und der Frage, wie man am besten überlebt und die Herrschenden aufs Kreuz legt. Diese List bei Hegel ist etwas Hochartifizielles, Bewusstes, ist eigentlich der äußerste Punkt des Bewusstseins, setzt höchste Reflexion voraus, und wie immer bei Hegel hat höchste Reflexion stets gleichzeitig ein mimetisches Element, die Fähigkeit der Sensibilität gegenüber Dingen und Menschen. Diese Formalisierung der Reflexion, abgetrennt vom Moment der Unmittelbarkeit, der Anschauung, verfehlt immer den Zweck und das Ziel. Aber diese List hat etwas an sich, was sowohl Selbstreflexion auf die Begrenztheit des eigenen subjektiven Standpunkts bezeichnet wie auch auf die Begrenztheit des bloß Objektiven. Nur in diesem Sinne stellt das Bewusstsein die Begrenztheit des Objektiven fest und kann das Objektive zu einem Hebel gegen sich selbst machen. Das ist prozesshaft tätigende Vermittlung aller Elemente und Momente, die in diesem Zusammenhang ins Spiel kommen können.

Was aber macht diese vermittelnde Tätigkeit? Sie überfällt die Objekte nicht und rennt nicht gegen die Objekte an, sondern es besteht eine Haltung des Abwartens und der Distanz gegenüber den Objekten, das heißt, diese Form von Praxis hat nichts von dem an sich, was man unmittelbare Aktion nennt, bei der alles miteinander verknüpft ist, wo man mitten drin ist und auch gar nicht sieht, wie man wieder herauskommt. Action painting, diese Form der Kunstproduktion, hat auf den Begriff gebracht, was Aktion ist, wo alles durcheinander geht, diese chaotische Form der Vermittlung mit dem Objekt. Das ist jedenfalls kein listiges, sondern wäre für Hegel ein absolut dummes und unkluges Verhalten.

In Hegels List, welche »Objekte ihrer eigenen Natur gemäß aufeinander einwirken und sich aneinander abarbeiten läßt«, ist wieder dieses liberale Motiv enthalten, dass Individuen mit ihren Interesse im Spiele sind, sich aneinander abarbeiten und was dabei rauskommt, ist ein anderes. Ob es ein Gemeinwohl oder was auch immer ist, jedenfalls springt ein Allgemeines aus diesem Abarbeiten der Kräfte aneinander heraus. Das lässt sich an der Maschinenstürmerei verdeutlichen, an jener Protest- und Verhaltensform vom Anfang der Arbeiterbewegung, die sich als solche noch nicht wirklich konstituiert hatte.

Die Erfahrung, dass Maschinenstürmerei zu nichts führt, weil Maschinen zwar ein Kapitalverhältnis ausdrücken, dieses aber nicht selbst darstellen, war ein ungeheurer Prozess, den das Proletariat in seiner Anfangskonstitution durchlief. In der Tat ist diese Unmittelbarkeit der Gewalt etwas, was Hegel als Breitseite der Gewalt gegen Verhältnisse bezeichnen würde. Dieser Lernprozess, dass es nicht darauf ankommt, Maschinen zu zerstören, ist der Arbeiterbewegung nie wieder ganz verloren gegangen. Natürlich gibt es auch später noch Sabotageakte und Stilllegungen von Maschinen, aber die Annahme, dass Maschinen unmittelbar Herrschaft ausdrückten, ist doch in den größten Teilen der europäischen Arbeiterbewegung überwunden. Bei den weiteren einschneidenden Veränderungen der Produktionsprozesse – Mechanisierung, Fließband, der ganze Fordismus Anfang des 20. Jahrhunderts – hat es kaum noch Maschinenstürmerei gegeben, sondern man hat in der Tat gesehen, dass diese Formen nur einzubringen sind in eine Emanzipation der Klasse. Insofern ist, und darauf möchte ich auch hinzielen, dieses Element der Gewaltinterpretation von Hegel tatsächlich übernommen worden. Der späte Engels, der sich mit der Gewaltfrage herumschlagen musste, weil Dühring sie wieder auf diesem abstrakten undialektischen Niveau übernommen hatte, vertrat im Grunde den Hegel’schen, beziehungsweise diesen dialektisch gewendeten Gewaltbegriff, wonach es nicht darauf ankomme, punktuell bestimmte Verhältnisse aufzubrechen. Vielmehr sei die proletarische Gewalt eine massenhafte und keineswegs positiv definierte im Sinne gewaltsamer Veränderung. Engels hat immer wieder betont, dass es unmöglich oder unwahrscheinlich sei, das bestehende System gewaltlos zu stürzen, aber nicht weil wir die Gewalt wollen, sondern weil die anderen mit Gewalt die Verhältnisse verteidigen werden. Dieses Moment der Gewalt ist innerhalb des Marxismus nie positiv formuliert worden, sondern immer als eine Form von Gegengewalt, von revolutionärer Gewalt als Gegengewalt.

Man kann in vielfachen geschichtlichen Unternehmungen diese Breitseite der Gewalt feststellen, etwa in der Kriegsführung durch die deutsche Heeresleitung in Russland, die darin bestand, immer ganze Heeresverbände nach Norden marschieren zu lassen, um dann einen Kessel zu machen. So sind sie bis Stalingrad marschiert und haben einige Millionen Gefangene gemacht. In Stalingrad aber war der Punkt erreicht, an dem die Flexibilität von Gewalt, auch militärischer Gewalt, verloren ging. Hier war es nicht mehr möglich, sich in irgendeiner Weise strategisch listig zu verhalten. Stattdessen hieß es, wenn wir diesen Punkt verlieren, geht es rückwärts.

Es kommt hier aber vor allem darauf an, was die russische Generalität daraus gelernt hat. Die kehrte die Sichelform nämlich einfach um. Die Sowjetunion hat ihre Truppen immer nach Süden geschickt und dann den Sichelschnitt nach oben gemacht. So hat sie bis nach Berlin alles abgeschnürt, ohne dass die deutsche Heeresleitung imstande gewesen wäre, dieses System zu begreifen. Als die Russen etwa in Danzig waren, war Königsberg noch völlig frei, da war noch kein Schießen zu hören. Ich habe das selbst miterlebt.

Das heißt, entscheidend ist die Möglichkeit, sich auf die Stärke des Gegners einzustellen, was auch die Vietcong demonstriert haben. Deren Strategie, sich zurückzuziehen und keine Positionen zu verteidigen, die nicht zu halten sind, hat jeden Kessel und jede Entscheidungsschlacht unmöglich gemacht. Deshalb ist William Westmoreland (1914-2005) schließlich darauf verfallen, Gebiete derart zu demolieren, dass sich keiner mehr bewegen konnte.

Aber auch hier unterlag letztlich die Dummheit der Gewalt, auch wenn solche strategischen Konzeptionen ein ungeheures Elend anrichten, was aber für Hegel, wenn er den Vietnamkrieg hätte interpretieren können, ein Beweis dafür gewesen wäre, dass hier bestimmte Schemata und abstraktes Denken im Grunde auf der einen Seite stehen und konkretes, verallgemeinerndes, erfahrungsreiches Denken auf der anderen. Denn beim konkreten Denken besteht die Möglichkeit, auf die Schwächen und Stärken des Gegners einzugehen, was für die Vietcong bedeutete, sich keiner irgendwie gearteten Entscheidungsschlacht zu stellen. Das wäre ein Stück Moralität gewesen und in der Tat war Stalingrad ein Stück verkommener deutscher Moralität, und sonst nichts. Dass die Soldaten dort aushalten und verhungern sollten für den deutschen Sieg, ist weder strategisch und fast gar nicht soziologisch zu begreifen, sondern das war diese heruntergekommene, in Disziplin gegossene Moralität der deutschen Geschichte und sollte in der Tat ein aufgepflanztes Geschichtszeichen sein. Natürlich ist aber eine solche Niederlage kein Geschichtszeichen, sondern führt nur zur Demoralisierung.

Was mit der Breitseite der Gewalt gemeint ist, lässt sich also ausführlich veranschaulichen. Im Übrigen hat das Carl von Clausewitz (1780–1831), von dem Engels sehr viel gelernt hat, als einziger Stratege wirklich erkannt. Ich will an diesem Punkt aber mit Hegel weitergehen, der in der ausführlich zitierten Passage darlegt, die List bestehe gerade darin, sich nicht unmittelbar in den Prozess einzumischen und dennoch nur die eigenen Zwecke »zur Ausführung« zu bringen. Ich möchte darauf hinweisen, dass Marx das im »Kapital« bei der Analyse des Arbeitsprozesses aufgreift,115 wo er sagt, im Grunde realisierten sich im Arbeitsprozess individuelle Zwecksetzungen. Somit wird die Subjektivität aufgebraucht und aufgearbeitet, und der Wert wird konstituiert als ein Moment des Subjektiven, als ein durch Arbeitskraft eingebrachtes Moment.

Wenn es nun weiter heißt bei Hegel: »Man kann in diesem Sinne sagen, daß die göttliche Vorsehung, der Welt und ihrem Prozeß gegenüber, sich als die absolute List verhält«, dann ist das wieder dieses alte Syndrom, von dem wir schon mehrmals gesprochen haben: abstrakte Moralität, die den Vermittlungsprozess nicht durchläuft, die keine vermittelnde Tätigkeit ist. Deshalb kann ich auch die aktuellen Ereignisse nicht moralisch beurteilen und sagen, das sei verwerflich, die Ziele seien verwerflich. Es handelt sich bei der RAF und anderen sicherlich um revolutionäre Ziele. Auch der Brief von Holger Meins drückt die Subjektivität dieser Ziele noch einmal klar aus.116 Nur bin ich der Auffassung, darauf lief meine ganze Argumentation hinaus, dass die Subjektivität dieser Ziele nicht ausreicht, um daraus revolutionäre Handlungen oder revolutionäre Prozesse zu machen. Die Abstraktheit und die Isoliertheit dieser Ziele sind zu kritisieren, nicht aber ihr Inhalt. Und es ist nicht die revolutionäre Gesinnung als solche zu kritisieren, sondern dass sie sich auf dieser isolierten Ebene nicht objektivieren kann und damit selbst in einen Zerfallsprozess gerät, das heißt ebenfalls falsche Moralität wird, die zwar mit preußischem Disziplingeist nichts zu tun hat, aber als Moralisierung der Politik eben doch Erbteil der deutschen Geschichte ist – in der verkommensten und in der edelsten Form zugleich. Es geht hier nicht darum, plakative Moralurteile zu verhängen, sondern ich versuche, Begriffe für die Erklärung dieser Zusammenhänge zu finden.

Zwei Punkte möchte ich in diesem Zusammenhang noch erörtern. Die Gewalt, die das System aufrechterhält, ist nicht dieselbe, die es sprengt. Die Gewalt, die das System aufrechterhält als rechtsetzende und rechterhaltende Gewalt, wie es Walter Benjamin einmal gesagt hat,117 folgt einem anderen Gesetz, einem anderen Mechanismus als jene Gewalt, welche die bestehende sprengen will. Es ist geradezu die Fatalität in Deutschland, nicht nur der Geheimdienste und des Staates, sondern auch der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung, dass sie nie in den Traditionen, in den Schulbüchern oder andernorts etwas wie eine gelungene deutsche Revolution vorgefunden haben, die auch vermittelt werden konnte ohne irgendwelche Verklemmungen und Unterdrückungen. Das bedeutet allerdings auch für diese herrschende Klasse, dass sie im Grunde revolutionäre Gewalt genauso interpretiert wie konterrevolutionäre, mit anderen Worten, dass sie die Zerschlagung von revolutionärer Gewalt nach demselben Schema interpretiert wie die Entstehung von revolutionärer Gewalt. Das kann nur dazu führen, dass man glaubt, linke Bewegungen kämen genauso zustande, wie man Leute bespitzelt, durch Rädelsführer, durch einzelne Leute, durch Überreden, Manipulationen und so weiter, jedenfalls nach demselben Interpretationsschema, mit dem sie diese Gewalt bekämpfen. Das hat natürlich Folgen, und das gilt im Übrigen genauso für die amerikanische Gesellschaft. Man kann da, glaube ich, sehr wichtige Unterscheidungen zwischen der französischen und italienischen auf der einen Seite und der amerikanischen und der westdeutschen auf der anderen Seite vornehmen. Wo tatsächlich revolutionäre Erfahrungen als Massenbewegungen gemacht worden sind, betrifft das auch das Bürgertum, etwa bei den mehr oder weniger gelungenen Revolutionen wie der Französischen und in den italienischen Volksbewegungen. Im italienischen Widerstand, in dem Intellektuelle, Bürgerliche, Liberale und Arbeiter gekämpft haben, haben sich wie im französischen Widerstand solche Erfahrungskonstellation auch für andere gesellschaftliche Gruppen ergeben. Sie machen aus dem Revolutionsgespenst etwas Konkretes, das nicht auf Verfolgungswahn und Projektionen von Einzelnen beruht. In Deutschland hingegen prägt das Fehlen solcher Erfahrungen nach wie vor die Prozesse gegen Linke. Wie soll hier ein Richter überhaupt verstehen, warum jemand revolutionäre oder auch nur linke Ziele vertritt? Wie das in Deutschland bei einem anständigen Menschen überhaupt möglich ist, das kann er schlicht nicht verstehen. Und schon gar nicht kann er verstehen, dass das nicht auf Gewissensnot beruht, sondern etwas Kollektives oder gar Elementares ist, wie Kant das gesehen hat, wobei schon für Kant dieses Elementare etwas Bedrohliches ist, und am besten ist es, man lässt das ganz aus dem Spiel und nimmt nur das Resultat auf.

 

Diese Verbindung von reaktionärer und revolutionärer Gewalt findet sich in der großen Philosophie unmittelbar nebeneinander. Was Hegel hier mit diesem Gewaltbegriff formuliert, ist ein revolutionärer Gewaltbegriff. Das ist die Dialektik der Gewalt, die selbst noch waltet, wenn er am System festhält und sagt, es gehe in der Geschichte nichts über den preußischen Staat hinaus.

Wir werden später noch darauf kommen. Ich möchte hier nur die staatliche als die unbedingte Gewalt bei Kant und Hegel, die sich auch im Strafrecht ausdrückt, abgrenzen von der revolutionären Gewalt. Das sind zwei ganz verschiedene Gewaltformen. Wo bei Kant im Strafrecht Individuen ausbrechen aus dem kollektiven Zusammenhang, wird eine ungeheure Brutalität demonstriert. Es ist eine demonstrative Gewalt für den machthabenden Souverän, nicht für den gesetzgebenden Souverän, also denjenigen, dem die Gesetze zur Durchführung obliegen, der exekutiven Gewalt.

Kant hat in diesem Zusammenhang einmal gesagt, wenn sich eine Gemeinschaft auflöst, und es ist da noch jemand, der zuvor zum Tode verurteilt worden ist, dann sei es die absolute Pflicht dieser Gemeinschaft, diesen noch hinzurichten, selbst wenn die Gesellschaft ohnehin zerstört wird.118 Dieses Übermaß an Vergeltung oder dieses Maß an Übervergeltung spielt in den staatlichen Gewaltbegriff hinein, obwohl auch bei Kant schon der Gewaltbegriff, sofern er Naturzwecke realisiert, etwas vonseiten der Natur mitbekommt, das heißt auf Zwecke gerichtet und nicht verselbstständigt, nicht bloßes Mittel ist, sondern an Naturzwecke, geschichtliche Zwecke und an Menschheitszwecke gebunden ist. Die Gewalt hat bei Kant immer auch etwas von dieser naturrechtlichen Seite, auch wenn wir später sehen werden, dass der Naturbegriff der »Kritik der reinen Vernunft« ein ganz anderer ist. Aber hier sind diese Momente von Bergendem, von Schutz selbst in der Gewalt enthalten, jedenfalls des Widerstandes gegen Entwürdigung der menschlichen Verhältnisse und so weiter. Aber es ist nicht einfach nur ein brutales Mittel gegenüber dem Menschen, sondern es realisiert einen an sich vernünftigen, menschlichen Zweck.

Was beiden, Kant und Hegel, in dieser Gewaltfrage gemeinsam ist, und das haben verschiedene Autoren kontrovers interpretiert, ist ihr Antiliberalismus. Denn es ist unmöglich, Kant dem Liberalismus zuzuschlagen, trotz des Versuchs Poppers und anderer, ihn für die offene, liberale Denkweise zu reklamieren. Kants und Hegels Antiliberalismus besteht darin, dass es bei ihnen eine Form von positiv betrachteter Gewalt gibt, während das liberale System sich als gewaltlos versteht. Man kann sich gar nicht vorstellen, wie wenig Kant von bloßer Diskussion gehalten hat. Durch bloße Diskussion verändert sich ihm zufolge überhaupt nichts in der Geschichte: Wie man mit Kant zu einem Kommunikationsbegriff kommen kann, wie ihn die Liberalen fetischisieren, oder wie man mit ihm zum Begriff der offenen Gesellschaft kommen kann, das ist mir völlig unerfindlich.

An sich weist kein einziger Satz in diese Richtung, es sei denn man abstrahiert aus der Koppelung Freiheit und Gewalt einfach die Gewalt und macht Kant damit zu einem Vertreter liberaler Freiheitsrechte. Aber das wäre eine totale Verfälschung von Kants Gedanken. Kant und Hegel haben nicht nur die im Kapitalismus der bürgerlichen Gesellschaft fortexistierenden Gewaltverhältnisse erkannt, sondern auch versucht, dagegen etwas zu errichten. Im Grunde ist die bestehende Gewalt, wie sie bei ihnen konstruiert ist, jene Instanz, welche die von ihnen erkannte revolutionäre Gewalt blockieren und aufheben soll. Der Hegel’sche Staat ist eine reine Konstruktion, wenn auch mit preußischen Elementen durchsetzt, mit der Funktion, die innere Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft zum Stillstand zu bringen. In dem Sinne sind auch die Kantischen Gesetze nichts anderes als Waffenstillstandsbedingungen für den permanent bestehenden Krieg unter den Menschen, die irgendwie dazu kommen werden, dass ihnen die Vernunft sichtbar wird und einleuchtet.

Kant und Hegel sind in dem Sinne keine Konsensusphilosophen, selbst wenn man verschiedentlich, auch Habermas hat das in seinem Öffentlichkeitsbuch getan, diese Kommunikation von Privatleuten und Privateigentümern als das bezeichnet, was Öffentlichkeit konstituiert. In der Tat spielt der Öffentlichkeitsbegriff bei Kant eine ganz zentrale Rolle, nämlich die, dass öffentliche Kommunikation darauf angewiesen ist, nicht durch Gewalt abgebrochen zu werden. Ein gewaltloses Element ist darin enthalten, aber das ist nicht die geschichtliche Triebkraft dieser Öffentlichkeit für Kant, sondern ein Moment eines Emanzipationszustandes, den er in dieser Form nicht in der bürgerlichen Gesellschaft sieht, obwohl er ihn als Postulat der Vernunft für notwendig hält.

Ich möchte jetzt, was ich Stunde für Stunde verschoben habe, zum Begriff des Volkes bei Kant zurückkehren. Die ganze bürgerliche Theorie oder jedenfalls sehr viele bürgerliche Theorien können diesen Begriff, und das liegt selbstverständlich in der Sache begründet, nicht eindeutig fassen. Ganz ähnlich wie im Römischen Recht kein allgemeiner Personenbegriff gefasst werden konnte, ergeht es der Philosophie mit dem Begriff des Volkes, der nicht als allgemeiner zu fassen ist und eine Widersprüchlichkeit an sich hat, die sich in verschiedenen Lösungsversuchen niederschlägt.

Zunächst bedeutet für Kant der Begriff des Volkes ein Gesamt von Menschen auf einem bestimmten Territorium, in das alle einbezogen sind, die nach rechtlichen Grundsätzen mündig sind, wobei er klar zwischen Bürgern als Mitgesetzgebern und Bürgern als Schutzgenossen unterscheidet, wie sich noch zeigen wird. Dieser Begriff des Volkes ist so definiert, dass er zwar eine Rechtsgemeinschaft bezeichnet, aber eine Rechtsgemeinschaft mit sehr verschiedenen Rechten. Das gilt es im Einzelnen zu erläutern.

Zunächst ist dieser Begriff des Volkes so gefasst, dass das öffentliche Recht als Akt des öffentlichen Willens dargestellt wird, insofern als dieses Recht keinem Einzelnen Unrecht tun könne, »da alle über alle, mithin ein jeder über sich selbst beschließt«.119 Das ist die Vorstellung von einem Volk mit öffentlichen Gesetzen und öffentlichem Recht, wobei nach Kant das öffentliche Recht ein Akt dieser Gesamtheit sein soll; es sind alle, sagt Kant. Weil es alle sind und Gesetze über alle und von allen beschlossen werden, also Menschen Gesetze über sich selbst beschließen, zieht Kant die Konsequenz daraus, keinem könne Unrecht getan werden. Das Grundgesetz, das aus dem allgemeinen vereinigten Volkswillen entspringen kann, sei der ursprüngliche Vertrag. Kant nimmt also für die Konstitution eines Staates und einer Gesellschaft einen ursprünglichen Vertrag an, wobei auf dieser Ebene allgemeiner Volkswille und vereinigter Volkswille gleichgesetzt sind, was aber grundsätzlich verschieden ist.

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