Das Bildnis des Dorian Gray

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»Sie gehen nach Amerika«, murmelte Lord Henry.

Sir Thomas runzelte die Stirn. »Ich fürchte, Ihr Neffe hat ein Vorurteil gegen dieses große Land«, sagte er zu Lady Agatha. »Ich habe ganz Amerika bereist, in Salonwagen, die die Direktionen mir stellten. Man ist dort in diesen Dingen äußerst entgegenkommend. Ich versichere Sie, es ist ein Bildungselement, das Land kennenzulernen.«

»Aber müssen wir wirklich nach Chicago reisen, um gebildet zu werden?« fragte Herr Erskine in klagendem Ton. »Ich bin nicht aufgelegt zu der Reise.«

Sir Thomas schob seine Hand durch die Luft. »Herr Erskine hat die Welt in seinen Bücherschränken. Wir Männer der Praxis möchten die Dinge sehen, nicht über sie lesen. Die Amerikaner sind ein überaus interessantes Volk. Sie sind ganz und gar vernünftig. Ich glaube, das ist ihr Kennzeichen. Jawohl, Herr Erskine, ein ganz und völlig vernünftiges Volk. Ich versichere Sie, es gibt keinen Unsinn bei den Amerikanern.«

»Wie grässlich!« rief Lord Henry. »Ich kann brutale Gewalt aushalten, aber brutale Vernunft ist ganz unerträglich. Es ist unbillig, sie anzuwenden. Es heißt, den Intellekt unterdrücken.«

»Ich verstehe Sie nicht«, sagte Sir Thomas und wurde etwas rot.

»Ich verstehe, Lord Henry«, sagte Herr Erskine lächelnd.

»Paradoxa sind in ihrer Art ganz gut …«, versetzte Sir Thomas.

»War das paradox?« fragte Herr Erskine. »Ich hielt es nicht dafür. Vielleicht. Nun, der Weg zur Wahrheit führt über Paradoxien. Um die Wahrheit zu prüfen, muss man sie seiltanzen lassen. Wenn die Wahrheiten Akrobaten werden, können wir über sie urteilen.«

»Mein Gott!« sagte Lady Agatha, »wie diskutiert ihr Männer! Wahrhaftig, ich bringe nie heraus, wovon ihr sprecht. O Harry, ich bin ganz böse mit dir! Warum versuchst du, Herrn Gray zu überreden, nicht mehr ins Eastend zu gehen? Ich versichere dich, er wäre dort ganz unschätzbar. Die Leute wären entzückt über sein Spiel.«

»Ich habe den Wunsch, dass er für mich spielt«, rief Lord Henry lächelnd und blickte ans Ende des Tisches, von wo er einen strahlenden Blick zur Antwort erhielt.

»Aber die Menschen in Whitechapel sind so unglücklich«, fuhr Lady Agatha fort.

»Ich kann mit allem Mitgefühl haben, nur nicht mit Leiden«, sagte Lord Henry und zuckte mit den Schultern. »Da kann ich nicht mitfühlen. Es ist zu hässlich, zu schauderhaft, zu quälend. Es liegt etwas schrecklich Krankhaftes in dem Mitgefühl unsrer Zeit mit dem Elend. Man sollte mit der Farbigkeit, der Schönheit, der Freude des Lebens mitfühlen. Je weniger über den Jammer des Lebens gesagt wird, um so besser.«

»Jedoch das Eastend ist eine sehr wichtige Frage«, bemerkte Sir Thomas und schüttelte ernsthaft den Kopf.

»Ganz richtig«, antwortete der junge Lord. »Es ist das Problem der Sklaverei, und wir machen den Versuch, es dadurch zu lösen, dass wir die Sklaven amüsieren.«

Der Politiker warf ihm einen durchdringenden Blick zu. »Welche Änderung schlagen Sie denn also vor?« fragte er.

Lord Henry lachte. »Ich habe nicht den Wunsch, irgendetwas in England zu ändern, außer dem Wetter«, war seine Antwort. »Ich ergebe mich in philosophischer Beschaulichkeit und bin zufrieden damit. Indessen, da das neunzehnte Jahrhundert durch übermäßigen Verbrauch von Mitgefühl Bankrott gemacht hat, möchte ich vorschlagen, wir wenden uns an die Wissenschaft, damit sie uns aufrichtet. Der Nutzen der Empfindungen ist, dass sie uns in die Irre führen, und der Nutzen der Wissenschaft ist, dass sie nicht empfindsam ist.«

»Aber wir haben eine so ernste Verantwortung«, wagte Frau Vandeleur schüchtern einzuwerfen.

»Furchtbar ernst«, stimmte Lady Agatha bei.

Lord Henry blickte zu Herrn Erskine hinüber.

»Die Menschheit nimmt sich selbst zu ernst. Das ist die Erbsünde der Welt. Wenn der Höhlenmensch sich aufs Lachen verstanden hätte, wäre die Geschichte andre Wege gegangen.«

»Sie sind fürwahr sehr tröstlich«, zwitscherte die Herzogin. »Ich habe immer ein Schuldgefühl verspürt, wenn ich Ihre liebe Tante besuchte, denn ich interessiere mich nicht im Mindesten für Eastend. In Zukunft werde ich ihr ohne Erröten in die Augen sehen können.«

»Erröten steht den Damen sehr gut«, bemerkte Lord Henry. »Nur wenn man jung ist«, antwortete sie. »Wenn eine alte Frau wie ich errötet, ist es ein sehr schlimmes Zeichen. Ach, Lord Henry, ich wollte, Sie könnten mir sagen, wie man wieder jung wird!«

Er dachte einen Augenblick nach. »Können Sie sich an irgendeinen großen Fehler erinnern, den Sie in jungen Tagen begangen haben, Frau Herzogin?« fragte er und blickte sie über den Tisch hin an.

»Oh, an sehr viele, fürchte ich!« rief sie aus.

»Dann begehen Sie sie noch einmal«, sagte er ernsthaft. »Um seine Jugend wiederzuerlangen, braucht man bloß seine Torheiten zu wiederholen.«

»Eine reizende Theorie!« rief sie. »Ich muss sie in die Praxis umsetzen.«

»Eine gefährliche Theorie!« kam es zwischen den zusammengepressten Lippen Sir Thomas’ hervor. Lady Agatha schüttelte den Kopf, konnte aber nichts dagegen tun, dass das Gespräch sie amüsierte. Herr Erskine hörte zu.

»Ja«, fuhr Lord Henry fort, »das ist eins der großen Geheimnisse des Lebens. Heutzutage sterben die meisten Menschen an einer Art schleichendem Menschenverstand und kommen, wenn es zu spät ist, dahinter, dass die einzigen Dinge, die einer nie bereut, seine Fehler sind.«

Ein Lachen erhob sich am Tisch.

Nun spielte er mit dem Gedanken, wie es ihm beliebte; warf ihn in die Luft und wandelte ihn um; ließ ihn verschwinden und fing ihn wieder auf; ließ ihn phantastisch funkeln und beflügelte ihn mit Paradoxien. Das Lob der Narrheit erhob sich, als er fortfuhr, zu einer Philosophie, und die Philosophie selbst wurde jung, und zum Klang der tollen Musik der Lust bekleidet, mochte es einen bedünken, mit ihrem befleckten Gewande und einem Efeukranz im Haar – tanzte sie wie eine Bacchantin über die Hänge des Lebens und neckte den trägen Silen, weil er nüchtern blieb. Die Tatsachen flohen vor ihr wie erschreckte Tiere des Waldes. Ihre weißen Füße traten die mächtige Kelter, an der der weise Omar sitzt, bis der schäumende Traubensaft in purpurnen Blasen wogend an ihren nackten Beinen hochstieg oder in rotem Schaum über die schwarzen, tropfenden, bauchigen Seiten des Fasses herablief. Es war eine glänzende Improvisation. Er spürte, dass die Augen Dorian Grays auf ihn gerichtet waren, und das Bewusstsein, dass unter seinen Zuhörern einer war, dessen Naturell er bezaubern wollte, schien seinen Witz funkelnd zu machen und seiner Phantasie Farbe zu geben. Er war glänzend, phantasievoll, unwiderstehlich. Er entzückte seine Zuhörer aus sich selber, und lachend folgten sie seinen verführerischen Tönen. Dorian Gray verwandte den Blick nicht von ihm, sondern saß wie unter einem Banne da; ein Lächeln nach dem andern glitt über sein Gesicht, und schweres Staunen stieg in seine umdunkelten Augen.

Endlich trat in der Livree des Jahrhunderts die Wirklichkeit ins Gemach, und zwar in Gestalt eines Bedienten, der der Herzogin meldete, dass ihr Wagen vorgefahren war. Sie rang die Hände in affektierter Verzweiflung.

»Wie schade!« rief sie. »Ich muss meinen Mann im Klub abholen und mit ihm in so eine alberne Versammlung bei Willies gehen, wo er den Vorsitz führt. Wenn ich zu spät komme, wird er gewiss wütend, und wenn ich diesen Hut aufhabe, vertrage ich keine Szene. Er ist zu diffizil. Ein starkes Wort – und er ist ruiniert. Nein, ich muss gehen, liebe Agatha. Adieu, Lord Henry! Sie sind sehr amüsant und schrecklich unmoralisch. Wahrhaftig, ich weiß nicht, was ich zu Ihren Ansichten sagen soll. Sie müssen einmal bei uns zu Abend essen. Vielleicht Dienstag? Sind Sie am Dienstag frei?«

»Für Sie würde ich jeden sitzen lassen, Frau Herzogin«, sagte Lord Henry mit einer Verbeugung.

»Ah! Das ist sehr hübsch und sehr abscheulich von Ihnen«, rief sie; »so kommen Sie also, bitte«, und sie rauschte hinaus, gefolgt von Lady Agatha und den andern Damen.

Als Lord Henry sich wieder gesetzt hatte, näherte sich ihm Herr Erskine, setzte sich neben ihn und legte die Hand auf seinen Arm.

»Sie reden wie ein Buch«, sagte er, »warum schreiben Sie keins?«

»Ich lese so gern Bücher, dass ich mir nichts daraus mache, welche zu schreiben, Herr Erskine. Gewiss, einen Roman würde ich gern schreiben, der so schön und so unwirklich wie ein persischer Teppich sein müsste. Aber es gibt in England kein literarisches Publikum, außer für Zeitungen, Fibeln und Nachschlagewerke. Von allen Menschen der Welt haben die Engländer den geringsten Sinn für die Schönheit der Literatur.«

»Ich fürchte, Sie haben recht«, antwortete Herr Erskine. »Ich hatte auch einmal literarischen Ehrgeiz, aber ich habe ihn seit Langem aufgegeben. Und nun, lieber junger Freund – wenn Sie mir erlauben wollen, Sie so zu nennen –, darf ich fragen, ob Sie wirklich alles im Ernst meinten, was Sie beim Frühstück zu uns sprachen?«

»Ich weiß gar nicht mehr, was ich sagte«, lächelte Lord Henry. »War es alles sehr böse?«

»Sehr böse, allerdings! Ich halte Sie für überaus gefährlich, und wenn unsrer guten Herzogin etwas zustößt, werden wir alle Sie in erster Linie dafür verantwortlich machen. Aber ich unterhielte mich gern mit Ihnen über das Leben. Die Generation, in die ich hineingeboren bin, war sehr trist. Kommen Sie einmal, wenn Sie genug von London haben, zu mir nach Treadley, und erklären Sie mir Ihre Philosophie der Lust bei einem vorzüglichen Burgunder, den zu besitzen ich mich freue.«

»Das wird mir großes Vergnügen machen. Ein Besuch in Treadley ist ein großer Vorzug. Es hat einen vollendeten Wirt und eine vollendete Bibliothek.«

»Die mit Ihnen komplett sein wird«, antwortete der alte Herr mit artiger Verbeugung.

 

»Und jetzt muss ich mich von Ihrer trefflichen Tante verabschieden. Ich muss in den Athenäum-Klub gehn. Es ist die Stunde, wo wir da schlafen.«

»Sie alle, Herr Erskine?«

»Vierzig, in vierzig Lehnstühlen. Wir üben uns für eine Académie Anglaise.«

Lord Henry lachte und stand auf. »Ich gehe in den Park«, rief er.

Als er hinaustrat, berührte ihn Dorian Gray am Arm. »Ich möchte mit Ihnen gehen«, sagte er leise.

»Aber ich dachte, Sie hätten Basil Hallward versprochen, zu ihm zu kommen«, erwiderte Lord Henry.

»Ich möchte lieber mit Ihnen gehen; ja, ich fühle, ich muss mit Ihnen gehen. Erlauben Sie es mir? Und versprechen Sie mir, die ganze Zeit zu mir zu sprechen? Niemand spricht so wundervoll wie Sie.«

»Ach! Ich habe für heute gerade genug geredet«, sagte Lord Henry lächelnd. »Alles, was ich jetzt wünsche, ist, das Leben zu beschauen. Wenn Sie wollen, so kommen Sie mit und beschauen Sie es mit mir.«

Viertes Kapitel

Eines Nachmittags, einen Monat später, saß Dorian Gray zurückgelehnt in einem üppigen Lehnstuhl in dem kleinen Bibliothekzimmer im Hause Lord Henrys in Mayfair. Es war in seiner Art ein entzückendes Zimmer mit seiner hohen, getäfelten Wandverkleidung aus olivenfarbenem Eichenholz, mit seiner mattgelben Decke und dem Fries mit Stuckverzierungen und dem ziegelmehlfarbenen Filzteppich, auf dem seidene, langbefranste persische Decken herumlagen. Auf einem zierlichen Tischchen aus Satinholz stand eine Statuette von Clodion, und daneben lag ein Exemplar der Cent Nouvelles, das Clovis Eve für Margarete von Vabis gebunden hatte und in das vergoldete Gänseblümchen geprägt waren, die diese Königin als ihr Wahrzeichen erwählt hatte. Ein paar große blaue Porzellankrüge und Papageientulpen standen auf dem Kaminsims, und durch die kleinen, mit Blei eingefassten Scheiben der Fenster floss das aprikosenfarbene Licht eines Londoner Sommertags.

Lord Henry war noch nicht gekommen. Er verspätete sich immer aus Prinzip, da es sein Prinzip war, dass Pünktlichkeit einem die Zeit stiehlt. So sah der junge Mann recht verdrießlich drein, wie er lässig eine reich illustrierte Ausgabe der Manon Lescaut durchblätterte, die er in einem der Bücherschränke gefunden hatte. Das regelmäßige, eintönige Ticken der Louis-Quatorze-Uhr quälte ihn. Ein- oder zweimal dachte er daran fortzugehen. Endlich hörte er einen Schritt draußen, und die Tür öffnete sich. »Wie spät du kommst, Harry!« sagte er mit leisem Vorwurf.

»Ich fürchte, es ist nicht Harry, Herr Gray«, antwortete eine scharfe Stimme.

Er blickte sich schnell um und sprang auf die Füße.

»Ich bitte um Entschuldigung. Ich dachte…« »Sie dachten, es sei mein Mann. Es ist nur seine Frau. Sie müssen gestatten, dass ich mich selbst vorstelle. Ich kenne Sie ganz gut von Ihren Photographien her. Ich glaube, mein Mann hat siebzehn.«

»Doch nicht siebzehn, Lady Henry.«

»Nun denn also achtzehn. Und ich sah Sie gestern Abend mit ihm in der Oper.« Sie lachte nervös, während sie sprach, und beobachtete ihn mit ihren verschwommenen Vergissmeinnichtaugen. Sie war eine absonderliche Frau, die fast immer in jemanden verliebt war und die, da ihr Gefühl nie erwidert wurde, sich alle ihre Illusionen bewahrt hatte. Sie versuchte, malerisch auszusehen. Es gelang ihr aber nur, unordentlich gekleidet zu sein. Sie hieß Viktoria und hatte eine krankhafte Neigung, in die Kirche zu gehn:

»Das war im ›Lohengrin‹, Lady Henry, nicht wahr?«

»Ja, es war im herrlichen ›Lohengrin‹. Ich liebe Wagners Musik mehr als irgendeine andre. Sie ist so laut, dass man sich die ganze Zeit unterhalten kann, ohne dass andre Menschen hören, was man sagt. Das ist ein großer Vorteil; meinen Sie nicht auch, Herr Gray?«

Dasselbe nervöse, kurz abgebrochene Lachen kam von ihren dünnen Lippen, und ihre Finger fingen an, mit einem langen Schildpattpapiermesser zu spielen.

Dorian lächelte und schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, ich meine es nicht, Lady Henry. Ich spreche nie während der Musik – wenigstens nicht während guter Musik. Wenn man schlechte Musik hört, hat man die Pflicht, sie im Gespräch zu ertränken.«

»Oh! Das ist einer von Harrys Sätzen, nicht wahr, Herr Gray? Ich höre Harrys Sätze immer aus dem Munde seiner Freunde. Es ist die einzige Art, auf die ich sie erfahre. Aber Sie dürfen nicht denken, dass ich gute Musik nicht liebe. Ich verehre sie, aber ich habe Angst davor. Sie macht mich zu romantisch. Ich habe Pianisten geradezu angebetet – manchmal zwei zu gleicher Zeit, behauptet Harry. Ich weiß nicht, was das mit ihnen ist. Vielleicht kommt es daher, dass sie Ausländer sind. Sie sind es alle, nicht wahr? Selbst die, die in England geboren sind, werden nach einiger Zeit Ausländer, nicht wahr? Das ist so klug von ihnen und für die Kunst so schmeichelhaft. Das macht sie kosmopolitisch, nicht wahr? Sie sind nie bei einer meiner Gesellschaften gewesen, nicht wahr, Herr Gray? Sie müssen kommen. Orchideen kann ich mir nicht leisten, aber für Ausländer ist mir nichts zu teuer. Sie machen ein Haus so malerisch. Aber hier ist Harry! – Harry, ich kam, um nach dir zu sehn, ich wollte dich etwas fragen – ich weiß nicht mehr was –, und ich fand Herrn Gray hier. Wir haben so reizend über Musik geplaudert. Wir denken ganz gleich darüber. Nein, ich glaube, wir denken ganz verschieden darüber. Aber er ist sehr charmant gewesen. Ich freue mich so sehr, dass ich ihn gesehn habe.«

»Das ist recht, meine Liebe, ganz recht«, sagte Lord Henry, zog seine dunklen, sichelförmigen Brauen hoch und blickte die beiden mit vergnügtem Lächeln an. »Es tut mir so leid, dass ich mich verspätet habe, Dorian. Ich sah mich in Wardour Street nach einem Stück alten Brokat um und musste stundenlang darum handeln. Heutzutage kennen die Menschen den Preis von allen Dingen und den Wert von keinem.«

»Ich fürchte, ich muss gehen«, rief Lady Henry und brach ein unangenehmes Schweigen mit ihrem albernen unmotivierten Lachen. »Ich habe versprochen, mit der Herzogin auszufahren. Adieu, Herr Gray! Adieu, Harry! Du isst nicht zu Hause, nicht wahr? Ich auch nicht. Vielleicht sehe ich dich bei Lady Thornbury.«

»Sehr wahrscheinlich, meine Liebe«, sagte Lord Henry und schloss die Tür hinter ihr, als sie, anzusehen wie ein Paradiesvogel, der die ganze Nacht im Regen gewesen, wie auf der Flucht das Zimmer verlassen hatte. Sie hinterließ einen leichten Duft von Jasminparfüm. Lord Harry steckte eine Zigarette an und machte sich’s auf dem Sofa bequem.

»Heirate nie eine Frau mit strohfarbenem Haar, Dorian«, sagte er nach einigen Zügen.

»Warum nicht, Harry?«

»Weil sie so sentimental sind.«

»Aber ich liebe sentimentale Menschen.«

»Heirate überhaupt nie, Dorian. Männer heiraten, weil sie müde sind; Frauen, weil sie neugierig sind: beide werden enttäuscht.«

»Ich glaube nicht, dass ich heiraten werde, Harry. Ich bin zu sehr verliebt. Das ist eins deiner Aphorismen. Ich setze es in Praxis um, wie alles, was du sagst.«

»In wen bist du verliebt?« fragte Lord Henry nach einer Pause.

»In eine Schauspielerin«, sagte Dorian Gray errötend.

Lord Henry zuckte die Achseln. »Das ist ein recht gewöhnliches Debüt.«

»Das sagtest du nicht, wenn du sie sähest, Harry.« »Wer ist es?«

»Sie heißt Sibyl Vane.«

»Habe nie von ihr gehört.«

»Niemand kennt sie. Aber die Menschen werden eines Tages von ihr hören. Sie ist ein Genie!«

»Mein lieber Junge, kein Weib ist ein Genie. Die Weiber sind das dekorative Geschlecht. Sie haben nie etwas zu sagen, aber sie sagen es entzückend. Die Weiber verkörpern den Triumph der Materie über den Geist, so wie die Männer den Triumph des Geistes über die Moral vorstellen.«

»Harry, wie kannst du!«

»Lieber Dorian, das ist sehr wahr. Ich bin gerade mit einer Analyse der Weiber beschäftigt, daher muss ich es wissen. Der Gegenstand ist nicht so verworren, wie ich dachte. Ich finde, es gibt schließlich nur zwei Arten von Frauen, die schlichten und die geschminkten. Die schlichten sind sehr nützlich. Wenn du in den Ruf der Ehrbarkeit kommen willst, musst du nur mit einer von ihnen zu Abend essen gehen. Die andern Frauen sind sehr reizend. Einen Fehler jedoch begehen sie: Sie gebrauchen Farbe in der Absicht, jung auszusehen. Unsre Großmütter gebrauchten Farbe, um glänzend zu plaudern. Rouge und Esprit gingen gewöhnlich zusammen. Das ist jetzt alles vorbei. Solange eine Frau zehn Jahre jünger aussehen kann als ihre Tochter, ist sie völlig zufriedengestellt. Was die Unterhaltung angeht, so gibt es nur fünf Frauen in London, mit denen es sich zu reden lohnt, und zwei davon sind in anständiger Gesellschaft unmöglich. Indessen, erzähle mir von deinem Genie! Seit wann kennst du sie?«

»Ach, Harry, deine Worte entsetzen mich!«

»Kümmere dich nicht darum. Seit wann kennst du sie?« »Seit ungefähr drei Wochen.«

»Und wie kamst du mit ihr zusammen?«

»Ich will es dir erzählen, Harry; aber du darfst es nicht leichthin nehmen. Schließlich wäre es nie dazu gekommen, wenn ich dich nicht gefunden hätte. Du fülltest mich mit einem wilden Verlangen, alles im Leben kennenzulernen. Viele Tage, nachdem ich dich kennengelernt hatte, schien etwas in meinen Adern zu pochen. Wenn ich im Park spazierte oder nach Piccadilly schlenderte, schaute ich jeden an, der mir begegnete, und wollte mit wilder Neugier herausbekommen, was für ein Leben sie alle führten. Einige von ihnen zogen mich an, andere füllten mich mit Schauder. Es lag ein verführerisches Gift in der Luft. Meine Sinne dürsteten nach Erlebnissen … Nun, eines Abends gegen sieben Uhr beschloss ich auszugehen, auf die Suche nach einem Abenteuer. Ich empfand, unser graues, ungeheures London mit seinen vielen Hunderttausenden, seinen schmutzigen Sündern und seinen glänzenden Sünden, wie du dich einmal ausdrücktest, müsse etwas für mich in Bereitschaft halten. Ich träumte von tausend Dingen. Schon die bloße Gefahr machte mir Genuss. Ich erinnerte mich an die Worte, die du an dem wundervollen Abend zu mir sprachst, als wir zuerst zusammen speisten, von dem Suchen nach der Schönheit, die das wahre Geheimnis des Lebens ist. Ich weiß nicht, was ich erwartete, aber ich ging los und wanderte in den Osten, wo ich bald in einem Gewirr von rußigen Gassen und schwarzen Plätzen, die kein Fleckchen Grün hatten, meinen Weg verlor. Gegen halb acht Uhr kam ich an einem komischen kleinen Theater mit großen flackernden Gasflammen und grellen Ankündigungen vorbei. Ein scheußlicher Jude, der das absonderlichste Wams trug, das ich in meinem Leben gesehen habe, stand am Eingang und rauchte eine stinkende Zigarre. Er hatte fettige Ringellöckchen, und ein riesiger Diamant blitzte auf seiner schmutzigen Hemdenbrust. »Billett gefällig, Herr Baron?« fragte er, als er mich sah, und nahm mit einer Miene großartiger Unterwürfigkeit den Hut ab. Es war so erlesen scheußlich. Du wirst mich natürlich auslachen, aber ich trat tatsächlich ein und zahlte zwanzig Mark für die Proszeniumsloge. Noch heute weiß ich nicht, warum ich das tat; und doch, wenn es nicht geschehen wäre – liebster Harry, wenn es nicht geschehen wäre, würde mir das größte Ereignis meines Lebens entgangen sein. Ich sehe, du lachst. Es ist abscheulich von dir!«

»Ich lache nicht, Dorian; wenigstens lache ich nicht über dich. Aber du solltest es nicht das größte Ereignis deines Lebens nennen. Es wäre eher das erste Ereignis deines Lebens zu nennen. Du wirst immer geliebt werden, und du wirst immer in die Liebe verliebt sein. Eine grande passion ist das Vorrecht der Menschen, die nichts zu tun haben. Das ist der einzige Nutzen der Faulenzerklasse eines Landes. Sei nicht zaghaft! Köstliche Dinge warten auf dich. Das ist nur der Anfang.«

»Hältst du meine Natur für so oberflächlich?« rief Dorian zornig.

»Nein, ich halte sie für so tief.« »Wie verstehst du das?«

»Mein lieber Sohn, die Menschen, die nur einmal im Leben lieben, sind in Wahrheit die Oberflächlichen. Was sie ihre Treue nennen, nenne ich entweder die Trägheit der Gewohnheit oder ihren Mangel an Phantasie. Treue ist für das Gefühls- und Triebleben, was die Konsequenz für das geistige Leben ist – weiter nichts als ein Eingeständnis der Schwäche. Treue! Ich muss mich einmal daran machen, sie zu analysieren. Es liegt Besitzgier in ihr. Wie viele Dinge würden wir wegwerfen, wenn wir nicht fürchteten, andre würden sie aufheben. Aber ich will dich nicht unterbrechen. Erzähle weiter!«

»Also, ich saß in einer schauderhaften kleinen verhängten Loge und hatte den gemeinen Vorhang direkt vor den Augen. Ich blickte hinter der Gardine vor und sah mich im Hause um. Es war alles lächerlich ausgeputzt, lauter Cupidos und Füllhörner, wie auf einem Hochzeitskuchen schlimmster Sorte. Die Galerie und der Stehplatz waren ziemlich voll, aber die beiden Reihen schmutziger Sperrsitze waren ganz leer, und kaum ein Mensch war auf dem Platz, den sie vermutlich den ersten Rang nannten. Frauen liefen mit Orangen und Ingwerbier herum, und schrecklich viele Haselnüsse wurden aufgeknackt.«

 

»Es muss genau wie in der Blütezeit des englischen Dramas gewesen sein.«

»Genau so, glaube ich, und sehr deprimierend. Ich hatte angefangen, mir zu überlegen, was in aller Welt ich tun sollte, als mein Blick auf den Theaterzettel fiel. Was glaubst du, das sie spielten, Harry?«

»Ich sollte meinen: ›Der arme Kretin oder Blödsinn und Unschuld‹. Unsre Väter liebten diese Art Stücke, glaube ich. Je länger ich lebe, Dorian, um so stärker fühle ich, dass alles, was für unsere Väter gut genug war, für uns nicht gut genug ist. In der Kunst wie in der Politik les grand-pères ont toujours tort.«

»Das Stück, das da gespielt wurde, war gut genug für uns, Harry. Es war ›Romeo und Julia‹. Ich muss gestehen, ich war bei dem Gedanken, Shakespeare in so einem elenden Loche spielen zu sehen, ziemlich niedergeschlagen. Und doch war ich in gewisser Weise interessiert. Jedenfalls beschloss ich, den ersten Akt abzuwarten. Es spielte ein schreckliches Orchester, das ein junger Hebräer leitete. Er saß an einem schetterigen Klavier, das mich beinahe vertrieben hätte; aber endlich ging der Vorhang auf, und das Stück begann. Romeo war ein vierschrötiger älterer Herr mit geschwärzten Brauen, einer heisern Komödiantenstimme und einer Gestalt wie ein Bierfass. Mercutio war fast ebenso schlimm. Er wurde vom Komiker gespielt, der neue Stellen von sich aus improvisiert hatte und mit der Galerie auf bestem Fuße stand. Sie waren beide so grotesk wie die Dekoration, und die sah aus, als käme sie aus einer Jahrmarktsbude. Aber Julia! Harry, stell dir ein Mädchen vor, kaum siebzehn Jahre alt, mit kleinem blumenhaften Gesicht, schmalem griechischen Kopf mit dunkelbraunen Zöpfen, mit Augen wie blaue Brunnen der Glut, mit Lippen, die wie Rosenblätter waren. Ich habe nie etwas Schöneres im Leben gesehen. Du sagtest einmal zu mir, Pathos lasse dich ungerührt, aber Schönheit, reine Schönheit an sich könne deine Augen mit Tränen füllen. Ich sage dir, Harry, ich konnte dieses Mädchen vor dem Tränenschleier, der mein Auge verdunkelte, kaum sehen. Und ihre Stimme – ich habe nie eine solche Stimme gehört. Sie war zuerst sehr leise, mit tiefen, vollen Tönen, die einem jeder für sich ins Ohr zu fallen schienen. Dann wurde sie ein wenig lauter und klang wie eine Flöte oder eine entfernte Oboe. In der Gartenszene hatte sie all die zitternde Inbrunst, die man hört, wenn die Nachtigallen vor Morgengrauen singen. Es gab im weitern Augenblicke, wo die Stimme die glühende Wildheit der Geige hatte. Du weißt, wie eine Stimme einen erschüttern kann. Deine Stimme und die Stimme Sibyl Vanes, die beiden werde ich niemals vergessen. Wenn ich die Augen schließe, höre ich sie, und jede von ihnen sagt etwas andres. Ich weiß nicht, welcher ich folgen soll. Warum sollte ich sie nicht lieben? Harry, ich liebe sie! Sie ist mir alles im Leben. Abend für Abend gehe ich hin, um sie spielen zu sehen. An einem Abend ist sie Rosalinde, am nächsten Imogen. Ich habe sie im Dunkel eines italienischen Grabgewölbes gesehen, wie sie das Gift von den Lippen ihres Geliebten küsste und starb. Ich habe gesehen, wie sie durch die Ardennen wanderte, als hübscher Knabe verkleidet, in kurzen Hosen und im Wams und mit kecker Mütze. Sie ist wahnsinnig gewesen und ist vor einen schuldvollen König getreten und gab ihm Raute zu tragen und bittere Kräuter zu kosten. Sie ist unschuldig gewesen, und die schwarzen Hände der Eifersucht würgten ihren zarten Hals. Ich sah sie in jedem Jahrhundert und in jeder Tracht. Gewöhnliche Frauen erwecken einem nie die Phantasie. Sie bleiben in ihrem Jahrhundert. Kein Zauber verklärt sie und gibt ihnen neue Gestalt. Man erkennt ihren Geist so leicht wie ihre Hüte. Man findet sie immer heraus. Nichts Geheimes ist in ihnen. Sie reiten morgens in den Park und schnattern nachmittags beim Tee. Sie haben ihr stereotypes Lächeln und ihr Benehmen nach der Mode. Sie liegen völlig auf der Hand. Aber eine Schauspielerin! Wie anders ist es mit einer Schauspielerin! Harry! Warum sagtest du mir nicht, dass nichts wert ist, geliebt zu werden, als eine Schauspielerin?«

»Weil ich ihrer so viele geliebt habe, Dorian.«

»Oh! Gewiss grässliche Personen mit gefärbtem Haar und geschminkten Gesichtern.«

»Mach nur gefärbtes Haar und geschminkte Gesichter nicht schlecht. Es liegt manchmal etwas überaus Reizvolles in ihnen.«

»Ich wollte, ich hätte dir nicht von Sibyl Vane gesprochen.« »Du musstest mir davon sprechen, Dorian. Dein ganzes Leben lang wirst du mir alles sagen, was du tust.«

»Ja, Harry, ich glaube, das ist wahr. Ich muss dir alles sagen. Du hast einen seltsamen Einfluss auf mich. Wenn ich je ein Verbrechen beginge, käme ich zu dir und beichtete es. Du verstündest mich.«

»Menschen wie du – die kecken Sonnenstrahlen des Lebens – begehen keine Verbrechen, Dorian. Aber trotzdem verbindlichsten Dank für das Kompliment. Und nun sage mir – gib mir Feuer, sei so gut; danke schön! – in was für einem Verhältnis stehst du jetzt zu Sibyl Vane?«

Dorian Gray sprang errötend und mit blitzenden Augen auf. »Harry! Sibyl Vane ist mir heilig!«

»Nur heilige Dinge verlohnt es sich anzurühren, Dorian«, sagte Lord Henry, und ein seltsamer Anflug von Pathos war in seine Stimme gekommen. »Aber warum willst du böse sein? Ich vermute, sie wird dir eines Tages gehören. Wenn man verliebt ist, betrügt man immer anfangs sich selbst und am Ende die andern. Das nennt die Welt einen Liebesroman. Du hast sie doch jedenfalls kennengelernt, denke ich?«

»Natürlich kenne ich sie. Als ich am ersten Abend im Theater war, kam der grässliche alte Jude nach der Vorstellung an meine Loge und bot mir an, er wolle mich hinter die Kulissen führen und mich ihr vorstellen. Ich war wütend und sagte zu ihm, Julia sei seit ein paar Hundert Jahren tot, und ihr Leichnam sei in einem marmornen Grab in Verona bestattet. Nach seinem bestürzten Blick zu schließen hatte er den Eindruck, ich hätte zu viel Champagner getrunken oder etwas der Art.«

»Durchaus zu begreifen.«

»Dann fragte er mich, ob ich für irgendeine Zeitung schriebe. Ich antwortete, dass ich nicht einmal eine läse. Er schien darüber furchtbar enttäuscht und vertraute mir an, alle Theaterkritiker hätten sich gegen ihn verschworen, und sie wären einer wie der andre zu kaufen.«

»Es sollte mich nicht wundern, wenn er damit ganz recht hätte. Aber anderseits, nach ihrem Äußern zu urteilen, können die meisten von ihnen nicht sehr teuer sein.«

»Immerhin schien er zu glauben, sie gingen über seine Verhältnisse«, lachte Dorian. »Mittlerweile waren aber die Lichter im Theater ausgedreht worden, und ich musste gehn. Er bat mich, ein paar Zigarren zu versuchen, die er mir lebhaft empfahl. Ich dankte. Am nächsten Abend war ich natürlich wieder da. Als er mich sah, verbeugte er sich tief vor mir und versicherte mich, ich sei ein edelmütiger Gönner der Kunst. Er war ein sehr abstoßender Kerl, obwohl er eine ungewöhnliche Leidenschaft für Shakespeare hatte. Er erzählte mir einmal mit stolzer Miene, seine fünf Bankrotte verdanke er ausschließlich ›dem Barden‹, wie er ihn hartnäckig nannte. Er schien das für eine Ehre zu halten.«

»Es ist eine Ehre, lieber Dorian – eine große Ehre. Die meisten Leute werden bankrott, weil sie zu viel in der Prosa des Lebens angelegt haben. Sich durch Poesie zugrunde gerichtet zu haben, ist ein auszeichnender Vorzug. Aber wann sprachst du zum ersten Mal mit Fräulein Sibyl Vane?«

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