Das Bildnis des Dorian Gray

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Lord Henry trat heran und blickte prüfend auf das Bild. Es war ohne Frage ein wundervolles Kunstwerk, und ebenso wundervoll war die Ähnlichkeit.

»Mein Lieber, ich gratuliere dir herzlich«, sagte er. »Das ist das beste Porträt unsrer ganzen Zeit. Herr Gray, kommen Sie und sehen sich an.«

Der junge Mann fuhr auf wie aus einem Traum geweckt. »Ist es wirklich fertig?« fragte er und kam von dem Podium herab.

»Völlig fertig«, antwortete der Maler. »Und du hast heute glänzend gesessen. Ich bin dir überaus dankbar.«

»Das ist ganz und gar mein Verdienst«, warf Lord Henry ein. »Nicht wahr, Herr Gray?«

Dorian gab keine Antwort, sondern ging, ohne hinzuhören, auf das Bild zu. Als er es sah, trat er zurück, und seine Wangen erröteten einen Augenblick vor Vergnügen. Ein Ausdruck der Freude kam in seine Augen, als ob er sich zum ersten Mal selbst gesehen hätte. Er stand reglos und staunend da, wobei er undeutlich hörte, dass Hallward zu ihm sprach, aber den Sinn der Worte nicht verstand. Der Eindruck seiner eigenen Schönheit kam wie eine Offenbarung über ihn. Er hatte ihn nie zuvor gehabt. Basil Hallwards Schmeicheleien waren ihm nur als reizende Übertreibungen der Freundschaft erschienen. Er hatte sie gehört, über sie gelacht und sie vergessen. Sie hatten keinen Einfluss auf sein Wesen gehabt. Da war Lord Henry Wotton mit seinem seltsamen Hymnus auf die Jugend, seiner furchtbaren Warnung vor ihrer Flüchtigkeit gekommen. Das hatte ihn zur rechten Zeit geweckt, und als er jetzt dastand und das Abbild seiner eigenen Schönheit beschaute, brach die volle Wirklichkeit der Schilderung über ihn herein. Ja, es kam ein Tag, an dem sein Antlitz verrunzelt und welk war, seine Augen trübe und farblos, die Grazie seiner Gestalt gebrochen und entstellt. Das Scharlachrot verschwand von seinen Lippen, und der Goldschimmer schlich sich aus seinen Haaren weg. Das Leben, das seine Seele bildete, zerstörte seinen Körper. Es war ihm beschieden, grässlich, widerwärtig, abscheulich zu werden.

Als er daran dachte, durchfuhr ihn ein stechender Schmerz wie ein Messer, und jede zarte Fiber seines Wesens erbebte. Seine Augen verdunkelten sich, und ein Tränenschleier fiel über sie. Er hatte das Gefühl, es lege sich eine eisige Hand auf sein Herz.

»Gefällt es dir nicht?« rief Hallward endlich, dem das Schweigen des Jünglings, dessen Bedeutung er nicht verstand, ein Stachel war.

»Natürlich gefällt es ihm«, sagte Lord Henry. »Wem sollte es nicht gefallen! Es gehört zum Größten in der modernen Kunst. Ich gebe dir dafür, was du verlangst. Ich muss es haben!«

»Es ist nicht mein Eigentum, Harry.«

»Wessen denn?«

»Dorians natürlich«, antwortete der Maler. »Da ist er glücklich zu preisen.«

»Wie traurig ist das!« sagte Dorian Gray leise und wandte die Augen nicht von seinem eigenen Bildnis. »Wie traurig ist das! Ich werde alt und grässlich und widerwärtig werden, aber dieses Bild wird immer jung bleiben. Es wird nie älter sein als dieser Junitag heute … Wenn es nur umgekehrt wäre! Wenn ich immer jung bleiben könnte und dafür das Bild immer älter würde! Dafür – dafür – dafür gäbe ich alles! Ja, es gibt nichts in der ganzen Welt, was ich nicht dafür gäbe! Ich gäbe meine Seele dafür!«

»Du wärst mit einer solchen Abmachung schwerlich einverstanden, Basil«, rief Lord Henry lachend. »Dein Bild würde bald schlimm aussehen.«

»Ich würde entschieden protestieren, Harry«, sagte Hallward.

Dorian Gray wandte sich um und sah ihn an. »Das glaube ich dir, Basil. Du liebst deine Kunst mehr als deine Freunde. Ich bin für dich nicht mehr, als eine Figur aus grüner Bronze ist. Kaum so viel, dürfte ich sagen.«

Der Maler starrte ihn erstaunt an. Es sah Dorian so gar nicht ähnlich, so zu sprechen. Was war geschehen? Er schien heftig erregt. Sein Gesicht war gerötet, und seine Wangen glühten.

»Ja«, fuhr er fort, »ich bin dir weniger als dein Hermes aus Elfenbein oder dein silberner Faun. Die wirst du immer lieb haben. Wie lange wirst du mich lieb haben? Vermutlich bis zur ersten Runzel. Ich weiß jetzt, dass man, wenn man erst seine Schönheit verliert, alles verloren hat. Dein Bild hat mich das gelehrt. Lord Henry Wotton hat völlig recht. Es gibt nur ein Ding, das zu haben sich lohnt: Jugend. Wenn ich merke, dass ich alt werde, werde ich mich umbringen.«

Hallward wurde blass und griff nach seiner Hand. »Dorian, Dorian!« rief er, »sprich nicht so! Ich hatte nie einen Freund wie dich, und ich werde nie wieder so einen haben. Du bist doch nicht eifersüchtig auf tote Dinge, wie? – Du, der schöner ist als irgendeins von ihnen!«

»Ich bin eifersüchtig auf alles, dessen Schönheit nicht stirbt. Ich bin eifersüchtig auf das Bild, das du von mir gemalt hast. Warum soll es behalten, was ich verlieren muss? Jeder Augenblick, der vergeht, nimmt mir etwas und gibt ihm etwas. Oh, wenn es nur umgekehrt wäre! Wenn das Bild sich verändern könnte, und ich immer sein könnte, was ich jetzt bin! Warum hast du es gemalt? Es wird mich eines Tages verhöhnen – furchtbar verhöhnen!« Heiße Tränen traten ihm in die Augen; er riss seine Hand los, warf sich auf den Diwan und barg sein Gesicht in den Kissen, als ob er betete.

»Das ist dein Werk, Harry«, sagte der Maler in bitterem Tone.

Lord Henry zuckte die Achseln. »Es ist der wahre Dorian Gray – weiter nichts.«

»Das ist er nicht.«

»Wenn er es nicht ist, was habe ich damit zu tun?«

»Du hättest weggehen sollen, als ich dich darum bat«, zürnte er.

»Ich blieb, als du mich batest«, war Lord Henrys Antwort.

»Harry, ich kann nicht auf einmal mit meinen zwei besten Freunden streiten; aber ihr beide seid schuld, dass ich das schönste Werk, das ich je schuf, hassen muss, und ich will es vernichten. Was ist es als Leinwand und Farbe? Ich will nicht zugeben, dass es zwischen uns drei Lebendige tritt und unser Leben zerstört.«

Dorian Gray hob seinen goldig schimmernden Kopf aus dem Kissen und sah bleich und noch mit Tränen in den Augen zu ihm hin, wie er zu dem kienenen Maltisch hinüberging, der unter dem hohen Fenster stand. Was wollte er tun? Seine Finger wühlten unter den herumliegenden Zinntuben und trockenen Pinseln, als suchten sie etwas. Ja, sie suchten das lange Malmesser mit seiner dünnen Klinge aus biegsamem Stahl. Er hatte es endlich gefunden. Nun wollte er die Leinwand zerschneiden. Mit einem unterdrückten Seufzer sprang der junge Mann vom Diwan auf, rannte auf Hallward zu, riss ihm das Messer aus der Hand und warf es ans Ende des Ateliers.

»Tu es nicht, Basil, tu es nicht!« rief er. »Es wäre Mord.«

»Es freut mich, dass dir mein Werk endlich gefällt, Dorian«, sagte der Maler kalt, als er sich von seiner Überraschung erholt hatte. »Ich hätte es gar nicht gedacht.«

»Gefällt? Ich bin verliebt in das Bild, Basil. Es ist ein Teil von mir selbst. Ich fühle es.«

»Schön, sobald du trocken bist, wirst du gefirnisst, gerahmt und zu dir hingeschickt. Dann kannst du mit dir machen, was du willst.« Und er ging zur Glocke, um Tee zu bestellen. »Du nimmst doch Tee, Dorian? Du auch, Harry? Oder hast du etwas gegen so einfache Genüsse?«

»Ich liebe einfache Genüsse leidenschaftlich«, sagte Lord Harry. »Sie sind die letzte Zuflucht des Komplizierten. Aber ich bin kein Freund von Szenen, außer auf der Bühne. Was für törichte Burschen ihr seid, alle beide! Ich möchte wissen, wer es gewesen ist, der den Menschen als vernünftiges Tier definiert hat. Der Mensch ist vielerlei, aber er ist nicht vernünftig. Alles in allem bin ich froh, dass er es nicht ist: obwohl ich wünsche, ihr sonderbaren Kerle ließet den Zank um das Bild. Du hättest viel besser getan, es mir zu geben, Basil. Dieser törichte Knabe braucht es nicht wirklich; aber ich brauche es.«

»Wenn du es einem andern gibst als mir, Basil, werde ich dir nie verzeihen!« rief Dorian Gray, »und ich erlaube niemandem, mich einen törichten Knaben zu nennen.«

»Du weißt, das Bild gehört dir, Dorian. Ich gab es dir, bevor es entstanden war.«

»Und Sie wissen, Sie waren ein bisschen töricht, Herr Gray, und Sie protestieren nicht ernsthaft dagegen, daran erinnert zu werden, dass Sie überaus jung sind.«

»Ich hätte heute morgen noch sehr lebhaft protestiert, Lord Henry.«

»Ah, heute morgen! Sie haben seitdem einiges erlebt.«

Es klopfte an die Tür; der Diener trat ein und servierte auf einem japanischen Tischchen den Tee. Die Tassen klapperten, und ein georgischer Samowar summte. Zwei gewölbte Schüsseln wurden von einem jungen Diener hereingebracht. Dorian Gray goss den Tee ein. Die beiden Männer gingen langsam zum Tisch und sahen nach, was unter den Deckeln war.

»Wir wollen heute Abend ins Theater gehen«, sagte Lord Henry. »Es ist sicher irgendwo etwas los. Ich habe versprochen, im White’s Klub zum Essen zu sein, aber es ist nur ein alter Freund, der auf mich wartet; so kann ich ihm ein Telegramm schicken, ich sei krank, oder ich sei infolge einer späteren Verabredung am Kommen gehindert. Ich glaube, das wäre eine recht hübsche Entschuldigung: Sie hätte ganz das Überraschende der Aufrichtigkeit.«

»Es ist so lästig, sich umzuziehen«, brummte Hallward. »Und wenn man den Gesellschaftsanzug anhat, dann ist er so grässlich.«

»Ja«, antwortete Lord Henry träumerisch, »die Tracht unsres Jahrhunderts ist abscheulich. Sie ist so düster, so drückend. Die Sünde ist das einzige wirkliche Farbenelement, das dem Leben unsrer Zeit geblieben ist.«

»Du solltest wirklich vor Dorian solche Dinge nicht sagen, Harry.«

»Vor welchem Dorian? Dem einen, der uns den Tee eingießt, oder dem andern auf dem Bilde?«

»Vor keinem.«

»Ich ginge gern mit Ihnen ins Theater, Lord Henry«, sagte der junge Mann.

 

»Dann kommen Sie; und du auch, Basil, nicht wahr?«

»Ich kann wirklich nicht. Lieber nicht; ich habe eine Menge zu tun.«

»Schön. Dann werden wir zwei also allein gehn, Herr Gray.«

»Das wird mir großes Vergnügen machen.«

Der Maler biss sich auf die Lippen und schritt mit der Tasse in der Hand auf das Bild zu. »Ich werde beim wirklichen Dorian bleiben«, sagte er traurig.

»Ist es der wirkliche Dorian?« fragte das Original des Bildes und ging langsam zu ihm. »Sehe ich wirklich so aus?«

»Ja, du siehst genau so aus.« »Wie wundervoll, Basil!«

»Wenigstens ist deine Erscheinung genau so. Aber es wird sich nie verändern«, seufzte Hallward. »Das will etwas heißen!«

»Was die Menschen von der Beständigkeit und Treue für einen Lärm machen!« rief Lord Henry aus. »Und doch ist die Treue selbst in der Liebe lediglich eine Frage der Physiologie. Sie hat nichts mit unserm eigenen Willen zu tun. Junge Männer möchten treu sein und sind es nicht; alte Männer möchten treulos sein und können es nicht: Weiter lässt sich nichts sagen.«

»Geh heute Abend nicht ins Theater, Dorian«, sagte Hallward. »Bleib hier und iss mit mir.«

»Ich kann nicht, Basil.« »Warum?«

»Weil ich Lord Henry Wotton versprochen habe, ihn zu begleiten.«

»Er hat dich darum nicht lieber, dass du deine Versprechen hältst. Er bricht seine immer. Ich bitte dich, nicht zu gehen.«

Dorian Gray lachte und schüttelte den Kopf. »Ich beschwöre dich!«

Der Jüngling zögerte und blickte zu Lord Henry hinüber, der sie vom Teetisch aus mit belustigtem Lächeln beobachtete.

»Ich muss gehen, Basil«, antwortete er.

»Schön«, sagte Hallward und stellte seine Tasse auf das Tablett. »Es ist ziemlich spät, und da ihr euch noch umzuziehen habt, ist es besser, keine Zeit zu verlieren. Adieu, Harry! Adieu, Dorian! Komm bald zu mir. Komm morgen.«

»Gewiss.«

»Du vergisst es nicht?«

»Nein, natürlich nicht«, rief Dorian. »Und – Harry!«

»Ja, Basil?«

»Vergiss nicht, worum ich dich bat, als wir heute morgen im Garten waren!«

»Ich habe es vergessen.«

»Ich verlasse mich auf dich!«

»Ich wollte, ich könnte mich auf mich selbst verlassen«, sagte Lord Henry lachend. »Kommen Sie, Herr Gray, mein Wagen steht unten, und ich kann sie nach Hause fahren. Adieu, Basil! Es war ein sehr interessanter Nachmittag.«

Als die Tür sich hinter ihnen schloss, warf sich der Maler auf ein Sofa, und ein schmerzlicher Ausdruck kam in seine Züge.

Drittes Kapitel

Um halb ein Uhr am nächsten Tag schlenderte Lord Henry Wotton von Curzon Street nach The Albany hinüber, um seinen Onkel Lord Fermor, einen lustigen, aber etwas rauhen alten Junggesellen, zu besuchen, den die Außenwelt selbstsüchtig nannte, weil sie keinen besonderen Nutzen von ihm zog, der aber von der Gesellschaft freigebig genannt wurde, weil er den Menschen, die ihn amüsierten, gut zu essen gab. Sein Vater war britischer Botschafter in Madrid gewesen, als Isabella jung war und man an Prim noch nicht dachte, hatte sich aber in einem Augenblick ärgerlicher Laune aus dem diplomatischen Dienst zurückgezogen, weil man ihm nicht die Botschaft in Paris angeboten hatte, einen Posten, auf den er seiner Meinung nach aufgrund seiner Geburt, seiner Trägheit, des guten Englisch seiner Depeschen und seiner zügellosen Vergnügungslust Anspruch hatte. Der Sohn, der der Sekretär seines Vaters gewesen war, war zugleich mit seinem Chef zurückgetreten, was man damals ziemlich närrisch fand, und als der Titel einige Monate später auf ihn überging, hatte er sich dem ernsthaften Studium der großen aristokratischen Kunst gewidmet, absolut nichts zu tun. Er hatte zwei große Stadthäuser, zog es aber vor, in einer Junggesellenwohnung zu leben, da es bequemer war, und nahm meistens seine Mahlzeiten im Klub ein. Er widmete der Verwaltung seiner Bergwerke in den Midlandgrafschaften einige Aufmerksamkeit und entschuldigte diesen Schandfleck industrieller Betätigung gewöhnlich damit, dass er sagte, der Besitz von Kohle habe den einen Vorteil, einen Gentleman instandzusetzen, sich den Luxus zu leisten, auf seinem eigenen Herde Holz zu brennen. In der Politik war er Tory, ausgenommen wenn die Tones am Ruder waren, denn während dieser Zeit schimpfte er auf sie und nannte sie geradeheraus ein Pack von Radikalen. Er war ein Held seinem Bedienten gegenüber, der ihn terrorisierte, und ein Schrecken für die meisten seiner Verwandten, die er seinerseits terrorisierte. Nur England hatte ihn hervorbringen können, und er pflegte immer zu sagen, England komme auf den Hund. Seine Prinzipien waren altmodisch, aber seine Vorurteile waren nicht übel.

Als Lord Henry eintrat, saß sein Onkel in einer gewöhnlichen Jagdjoppe da, rauchte seine Manila und las brummend in den Times. »Na, Harry«, sagte der alte Herr, »was bringt dich so früh heraus? Ich dachte, ihr Stutzer steht nie vor zwei Uhr auf und seid nicht vor fünf Uhr sichtbar.«

»Reiner Familiensinn, ich versichere dich, Onkel Georg. Ich möchte etwas aus dir herausbringen.«

»Vermutlich Geld«, sagte Lord Fermor und verzog das Gesicht. »Nun, so setz dich und erzähle mir alles. Die jungen Leute von heutzutage meinen, Geld sei alles.«

»Ja«, erwiderte Lord Henry und befestigte seine Knopflochblume, »und wenn sie älter werden, wissen sie es. Aber ich brauche kein Geld. Nur Menschen, die ihre Rechnungen bezahlen, brauchen Geld, und ich bezahle meine nie. Kredit ist das Kapital eines Zweitgeborenen, und man lebt famos mit seiner Hilfe. Außerdem gehe ich immer zu Dartmoors Kaufleuten, und daher kommt es, dass sie mich in Ruhe lassen. Was ich brauche, ist Belehrung; keine nützliche Belehrung natürlich, nutzlose.«

»Nun, Harry, ich kann dir alles sagen, was in einem englischen Blaubuch steht, obwohl diese Kerle heutzutage eine Menge Unsinn schreiben. Als ich im diplomatischen Dienst stand, war es besser bestellt. Aber ich höre, sie stellen ihre Leute jetzt aufgrund von Prüfungen an. Was kann man davon erwarten? Prüfungen, Wertgeschätzter, sind reiner Humbug von Anfang bis zu Ende. Wenn einer ein Gentleman ist, weiß er völlig genug, und wenn er kein Gentleman ist, ist alles, was er weiß, von Übel für ihn.«

»Herr Dorian Gray hat nichts mit Blaubüchern zu tun, Onkel Georg«, sagte Lord Henry in seinem müden Ton.

»Herr Dorian Gray? Wer ist das?« fragte Lord Fermor und zog seine buschigen weißen Augenbrauen zusammen.

»Um das zu erfahren, bin ich hergekommen, Onkel Georg. Oder besser gesagt, ich weiß, wer er ist. Er ist der Enkel des letzten Lord Kelso. Seine Mutter war eine Devereux, Lady Margaret Devereux. Ich habe den Wunsch, dass du mir etwas von seiner Mutter erzählst. Was für eine Bewandtnis hatte es mit ihr? Wen heiratete sie? Du hast in deiner Zeit fast alle Menschen gekannt, und du wirst sie wohl auch gekannt haben. Ich habe für Herrn Gray zur Zeit sehr viel Interesse. Ich habe ihn jetzt eben kennengelernt.«

»Kelsos Enkel!« wiederholte der alte Herr, »Kelsos Enkel! … Natürlich … Ich kannte seine Mutter sehr genau. Ich glaube, ich war bei ihrer Taufe. Sie war ein außergewöhnlich schönes Mädchen, Margaret Devereux, und machte alle Männer fast toll, als sie mit einem jungen Habenichts durchbrannte, einer vollkommenen Null, Wertgeschätzter, einem Fähnrich in einem Musketierregiment oder so was Ähnliches. Natürlich. Ich erinnere mich an die ganze Geschichte, als wäre sie gestern gewesen. Der arme Kerl wurde ein paar Monate nach der Hochzeit in einem Duell in Spaa getötet. Es war eine hässliche Sache dabei. Man erzählte, Kelso habe einen schurkischen Abenteurer, so einen Viechkerl aus Belgien, angeworben, um seinen Schwiegersohn öffentlich zu beleidigen, habe ihn bezahlt, Wertgeschätzter, damit er es tue, bezahlt, und der Bursche spießte seinen Mann auf wie eine Taube. Die Sache wurde vertuscht, aber Kelso aß eine Zeitlang sein Kotelett allein im Klub. Ich hörte, er habe seine Tochter zu sich zurückgeholt, und sie habe nie mehr ein Wort mit ihm gesprochen. O ja, es war eine schlimme Geschichte. Das Mädchen starb auch, starb binnen einem Jahr. So, sie hinterließ einen Sohn; wirklich? Das hatte ich vergessen. Was für ein Junge ist er? Wenn er seiner Mutter gleicht, muss er ein hübscher Bengel sein.«

»Er ist sehr hübsch«, bestätigte Lord Henry.

»Ich hoffe, er kommt in die rechten Hände«, fuhr der alte Mann fort. »Eine Menge Geld wartet auf ihn, wenn Kelso recht an ihm handelte. Seine Mutter hatte auch Geld. Die ganze Besitzung Selby fiel ihr zu von Seiten ihres Großvaters. Ihr Großvater hasste Kelso, hielt ihn für einen gemeinen Hund. Das war er auch. Kam einmal nach Madrid, als ich da war. Wahrhaftig, ich schämte mich des Kerls. Die Königin fragte mich öfter, wer der englische Edelmann sei, der sich mit den Kutschern um den Fuhrlohn zankte. Eine ganze Geschichte haben sie daraus gemacht. Ich traute mich vier Wochen nicht an den Hof. Ich hoffe, er hat seinen Enkel besser als die Droschkenkutscher behandelt.«

»Ich weiß nichts davon«, erwiderte Lord Henry. »Ich denke mir, der Junge wird einmal wohlhabend sein. Er ist noch nicht großjährig. Selby gehört ihm, das weiß ich. Er sprach mir davon. Und … seine Mutter war sehr schön?«

»Margaret Devereux war eins der entzückendsten Menschenkinder, die ich je sah, Harry. Was in aller Welt sie dazu gebracht hat, so zu handeln, wie sie tat, habe ich nie verstehen können. Sie hätte, wen sie wollte, heiraten können. Carlington war verrückt nach ihr. Allerdings war sie eine Romantische. Alle Frauen der Familie waren es. Die Männer waren eine traurige Bande, aber, bei Gott! die Weiber waren entzückend! Carlington rutschte auf den Knien vor ihr. Hat er mir selbst erzählt. Sie lachte ihn aus, dabei gab es damals in London kein Mädchen, das nicht auf ihn aus gewesen wäre. Nebenbei, Harry, weil wir schon über törichte Heiraten sprechen: Was ist das für ein Blödsinn, den mir dein Vater von Dartmoor erzählt, er wolle eine Amerikanerin heiraten? Sind englische Mädchen ihm nicht gut genug, hä?«

»Es ist jetzt Mode, Amerikanerinnen zu heiraten, Onkel Georg.«

»Ich werde die englischen Frauen gegen die ganze Welt verteidigen, Harry«, sagte Lord Fermor und schlug mit der Faust auf den Tisch.

»Man wettet auf die Amerikanerinnen.« »Sie halten sich nicht, hab ich gehört.«

»Eine lange Verlobung erschöpft sie, aber in einer Steeplechase sind sie prächtig. Sie nehmen alles im Flug. Ich glaube nicht, dass Dartmoor Aussichten hat.«

»Was sind ihre Angehörigen?« grollte der alte Herr. »Hat sie überhaupt welche?«

Lord Henry schüttelte den Kopf. »Amerikanische Mädchen sind so geschickt im Verbergen ihrer Eltern, wie englische Frauen im Verbergen ihrer Vergangenheit«, sagte er und erhob sich zum Gehen.

»Sie sind vermutlich Schweinefleischpacker?«

»Ich hoffe es, Onkel Georg, um Dartmoors willen. Man hat mir gesagt, dass das Schweinefleischpacken in Amerika nach der Politik die einträglichste Beschäftigung ist.«

»Ist sie hübsch?«

»Sie tritt auf, als ob sie schön wäre. Das tun die meisten Amerikanerinnen. Es ist das Geheimnis ihrer Anziehungskraft. «

»Warum bleiben diese Amerikanerinnen nicht bei sich zu Hause? Sie erzählen uns immer, es sei das Paradies für Frauen.«

»Das ist es. Das ist der Grund, warum sie wie Eva so gierig danach sind, herauszukommen«, sagte Lord Henry. »Adieu! Onkel Georg! Ich komme zu spät zum Frühstück, wenn ich länger bleibe. Danke sehr für die Belehrung, die du mir gabst! Es ist mir immer recht, von meinen neuen Freunden alles und von meinen alten nichts zu wissen.«

»Wo wirst du frühstücken, Harry?«

»Bei Tante Agatha. Ich habe mich und Herrn Gray bei ihr eingeladen. Er ist ihr neuester Protegé.«

»Hm! Sage deiner Tante Agatha, Harry, sie solle mich mit ihren Wohltätigkeitsaufrufen in Ruhe lassen. Die habe ich satt. Wahrhaftig, die gute Frau meint, ich hätte nichts Besseres zu tun, als für ihre albernen Liebhabereien Schecks zu schreiben.«

»Schon recht, Onkel Georg, ich will es ihr sagen, aber es wird zwecklos sein. Wohltätige haben allen Sinn für Menschlichkeit verloren. Daran erkennt man sie.«

Der alte Herr brummte zustimmend und läutete seinem Diener. Lord Henry ging durch den niedrigen Säulengang nach Burlington Street und wandte seine Schritte in der Richtung nach Berkeley Square.

Das war also die Geschichte der Eltern Dorian Grays. So roh die Form war, in der sie ihm berichtet worden, hatte sie ihn doch erregt und ihm den Eindruck eines seltsamen, fast modernen Romans gemacht. Eine schöne Frau, die alles um eine wahnsinnige Leidenschaft wagt. Ein paar wilde Wochen des Glücks, kurz abgeschnitten durch ein scheußliches, verräterisches Verbrechen. Monate sprachloser Verzweiflung und dann ein Kind, das in Schmerzen geboren wurde. Die Mutter vom Tode weggenommen, der Knabe in Einsamkeit und der Tyrannei eines lieblosen alten Mannes überlassen. Ja, das war ein interessanter Hintergrund. Er gab dem jungen Menschen Relief, machte ihn vollkommener als zuvor. Hinter allem Erlesenen in der Welt lag etwas Tragisches, Welten hatten kreisen müssen, damit das unscheinbarste Blümchen aufblühen konnte … Und wie entzückend war er gestern Abend gewesen, als er mit erschreckten Augen, die Lippen in scheuer Luft geöffnet, ihm im Klub gegenübersaß und die roten Schirme der Kerzen das erwachende Wunder seines Gesichts noch rosiger färbten. Zu ihm sprechen war, wie wenn man auf einer köstlichen Geige spielte. Er entsprach jedem Strich und jeder zitternden Bewegung des Bogens … Es war doch etwas schrecklich Unterjochendes in der Ausübung eines Einflusses. Keine andre Betätigung war ihr zu vergleichen. Seine Seele in eine anmutige Gestalt zu projizieren und sie dort einen Augenblick verweilen zu lassen; seine eigenen Geistestendenzen im Echo zu hören, vermehrt um all die Musik der Leidenschaft und Jugend; sein Temperament in ein andres hineinzuleiten, als ob es ein feines Fluidum oder ein seltsamer Duft wäre: Darin lag eine wahrhafte Freude – vielleicht die befriedigendste Freude, die uns in einer Zeit geblieben, die so beschränkt und gemein war wie unsre, die in ihren Genüssen so grob fleischlich und in ihren Zielen so grob gewöhnlich war … Auch war er ein wunderbarer Typus, dieser Jüngling, den er durch so seltsamen Zufall in Basils Atelier kennengelernt hatte, oder konnte wenigstens zu einem wundervollen Typus gemodelt werden. Grazie war ihm verliehen und die weiße Reinheit der Knabenunschuld, und Schönheit, wie sie alte griechische Marmorwerke bewahrten. Es gab nichts, was sich nicht aus ihm machen ließ. Er konnte zu einem Titanen oder zu einem Spielzeug gemacht werden. Was war es für ein Jammer, dass solche Schönheit zum Verwelken bestimmt war! … Und Basil? Wie interessant er, psychologisch betrachtet, doch war! Die neue Art in der Kunst, die neue Weise, das Leben anzusehen, so seltsam erweckt durch das bloße sichtbare Dasein eines Menschen, der von alledem nichts wusste; der stille Geist, der in einer düsteren Waldlandschaft wohnte und ungesehen im freien Felde wandelte, zeigte sich plötzlich, dryadengleich und ohne Scheu, weil in der Seele dessen, der auf der Suche nach ihm war, die wundervolle Vision erwacht war, der allein wundervolle Dinge offenbart werden. Die bloßen Formen und Abbilder von Dingen wurden gleichsam geläutert und erlangten eine Art symbolischer Bedeutung, als ob sie selber Abbilder einer andern und vollendetern Form wären, deren Schatten sie zur Wirklichkeit machten: Wie seltsam das alles war! Er erinnerte sich an Ähnliches in der Geschichte. War es nicht Platon, der Künstler in der Welt des Denkens, der es zuerst untersucht hatte? War es nicht Buonarroti, der es in die farbigen Marmorstücke einer Sonettenfolge gemeißelt hatte? Aber in unserm Jahrhundert war es seltsam … Ja, er wollte den Versuch machen, für Dorian Gray zu sein, was, ohne es zu wissen, der Jüngling dem Maler war, der das wundervolle Porträt geschaffen hatte. Er wollte suchen, in ihm Herr zu sein – hatte es in Wahrheit bereits halb und halb erreicht. Er wollte diesen wundervollen Geist zu seinem eigenen machen. Es war etwas unwiderstehlich Anziehendes in diesem Kind der Liebe und des Todes.

 

Plötzlich blieb er stehen und blickte an den Häusern empor. Er merkte, dass er schon vor einer Weile am Hause seiner Tante vorübergegangen war, und kehrte still lächelnd wieder um. Als er in die etwas düstere Halle eintrat, sagte ihm der Diener, man habe bereits mit dem Frühstück begonnen. Er gab einem Lakaien Hut und Stock und ging ins Speisezimmer.

»Spät, wie gewöhnlich«, rief seine Tante und schüttelte den Kopf.

Er erfand geschickt eine Entschuldigung, setzte sich auf den leeren Stuhl neben ihr und blickte sich um, um zu sehen, wer da war. Dorian, der am Ende der Tafel saß, grüßte ihn schüchtern, und ein freudiges Erröten trat auf seine Wangen. Gegenüber saß die Herzogin von Harley, eine bewunderungswürdig gutmütige und gut gelaunte Dame, die jeder gern hatte, der sie kannte, und die in den umfangreichen Maßen gebaut war, die man bei Frauen, die nicht Herzoginnen sind, Beleibtheit nennt. Neben ihr, zu ihrer Rechten, saß Sir Thomas Burdon, ein radikales Parlamentsmitglied, das im öffentlichen Leben seinem Leader und im Privatleben den besten Köchen folgte, und in Gemäßheit einer weisen und wohlbekannten Regel mit den Tones speiste und mit den Liberalen dachte. Den Platz zu ihrer Linken nahm Herr Erskine of Treadley ein, ein alter charmanter und gebildeter Herr, der jedoch die schlechte Gewohnheit des Schweigens angenommen hatte, da er, wie er einmal Lady Agatha erklärt hatte, mit allem, was er zu sagen hatte, vor seinem dreißigsten Lebensjahr fertig geworden war. Seine eigene Nachbarin war Frau Vandeleur, eine der ältesten Freundinnen seiner Tante, eine vollkommene Heilige unter Frauen, aber so schrecklich angezogen, dass sie einem wie ein geschmacklos gebundenes Gebetbuch vorkam. Zum Glück für ihn hatte sie an der andern Seite Lord Faudel, eine sehr intelligente Mittelmäßigkeit im besten Alter, der so kahl war wie die Mitteilung eines Ministers im Unterhaus, und mit dem sie sich in dem tiefernsten Tone unterhielt, der, wie Lord Henry einmal selbst bemerkt hatte, der eine unverzeihliche Fehler ist, in den alle wahrhaft guten Menschen verfallen, und den keiner unter ihnen ganz vermeiden kann.

»Wir sprechen über den armen Dartmoor, Lord Henry«, rief die Herzogin und nickte ihm vergnügt über den Tisch weg zu. »Glauben Sie, dass er wirklich dieses reizende junge Mädchen heiraten wird?«

»Ich glaube, Frau Herzogin, sie hat sich in den Kopf gesetzt, um ihn anzuhalten.«

»Wie schrecklich!« rief Lady Agatha. »Wirklich, es sollte sich jemand ins Mittel legen.«

»Ich erfahre aus vorzüglicher Quelle, ihr Vater habe ein amerikanisches Kurzwarengeschäft«, sagte Sir Thomas Burdon mit stolzem Blick.

»Mein Onkel hat bereits behauptet, er habe eine Schweinefleischpackerei, Sir Thomas.«

»Kurzwaren! Was sind amerikanische Kurzwaren?« fragte die Herzogin und erhob staunend ihre großen Hände.

»Amerikanische Romane«, antwortete Lord Henry. Die Herzogin machte ein erstauntes Gesicht.

»Hören Sie nicht auf ihn, Liebste«, flüsterte Lady Agatha. »Er meint nie im Ernst, was er sagt.«

»Als Amerika entdeckt wurde«, hub der radikale Abgeordnete an und ließ etliche langweilige Tatsachen los. Wie alle Menschen, die ein Thema erschöpfen wollen, erschöpfte er seine Zuhörer.

Die Herzogin seufzte und übte ihr Vorrecht, zu unterbrechen. »Wollte Gott, es wäre überhaupt nie entdeckt worden!« rief sie aus. »Wahrhaftig, unsre jungen Mädchen haben keine Aussichten heutzutage. Es ist empörend!«

»Wenn man’s recht betrachtet, ist Amerika vielleicht gar nicht entdeckt worden«, sagte Herr Erskine in orakelhaftem Ton; »ich würde vorziehen zu sagen: man ist dahinter gekommen.«

»Aber ich habe Exemplare der Einwohnerinnen gesehen«, antwortete die Herzogin zerstreut. »Ich muss gestehen, die meisten von ihnen sind überaus hübsch. Und zudem ziehen sie sich gut an. Sie lassen alle ihre Kleider in Paris machen. Ich wollte, ich könnte mir das auch leisten.«

»Man sagt, wenn gute Amerikaner sterben, gehen sie nach Paris«, kicherte Sir Thomas, der einen großen Schrank voll abgelegter Witze besaß.

»Wirklich? Und wohin gehen schlechte Amerikaner, wenn sie sterben?« fragte die Herzogin.