Der Weg der Liebe

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5. Der Traum von der Brüderlichkeit

Im alten Rom pflegten die Matronen ihre Handarbeit zum Kolosseum und den Gladiatorenspielen mitzunehmen und dort lange Stunden mit ihren Vettern und Basen zu verplaudern, während die christlichen Märtyrer in die Arena geworfen wurden und mit Bestien, deren wilde Gier man durch tagelange Nahrungsentziehung gesteigert hatte, um ihr Leben kämpften. Auch die Kinder wurden mitgenommen, um Zeugen dieser schrecklichen Schauspiele zu sein; sie klatschten entzückt in die Hände, während ihre Mütter mit wollüstiger Freude sich an dem Todeskampf der christlichen Blutzeugen weideten, die von den Ungeheuern in Stücke gerissen wurden.

Nero ließ oft einen seinem goldenen Palast gegenüberliegenden See mit lebendigen Fackeln beleuchten, die aus zusammengebundenen und mit Teer bestrichenen Christen hergestellt waren. Es war ein weit verbreiteter Brauch, kranke oder verkrüppelte Kinder auf verlassenen Orten auszusetzen, wo sie dem Hungertod oder den wilden Tieren preisgegeben wurden. Ebenso grausam verfuhr man mit Greisen, die infolge Altersschwäche dienstunfähig geworden waren.

Trotzdem die ganze Macht des römischen Weltreichs gegen die Christen aufgeboten wurde, fuhren sie fort, das Evangelium zu predigen und das Werk Christi weiterzuführen. Und siehe, trotz aller Verfolgung, trotz Marter und Kreuzespfahl, wirkte langsam, aber sicher der Sauerteig der christlichen Lehre, bis schließlich das ehemals stockheidnische Rom der Mittelpunkt der Christenheit wurde. Heute birgt es eine unübersehbare Fülle christlicher Denkmäler.

Aber was ist zu sagen zu den Verfolgungen, die im Namen der Christenheit verhängt werden? Was zu den Greueln des Weltkriegs? Zu den unaussprechlichen Grausamkeiten und Barbareien, welche sogenannte Christen verüben? Die Antwort lautet dahin, daß trotz all dieser Untaten des Kriegs der Sauerteig der Liebe still weiterschafft.

Ein Augenzeuge, der die europäischen Schlachtfelder besucht hat, sagt: „Du siehst die Hölle weit offen auf dem Kampfplatz, aber der Himmel ist's nicht minder. Dieses Heldentum, diese Ausdauer, Hingabe, Freudigkeit auch im schwersten Leiden, die Bereitwilligkeit, das Leben zu opfern, um einen Kameraden zu retten, das sind alles Tugenden, die mehr bedeuten und höher zu bewerten sind als die Erfüllung der unmittelbaren militärischen Dienstpflichten.“ Ein anderer sagt: „Wahres Christentum zeigt sich auf dem Schlachtfeld in wunderbarer Vollendung. Das Schlachtfeld wird zum Schauplatz der Liebe.“

Obschon der große europäische Krieg der grauenhafteste der Weltgeschichte ist, so fehlt es doch nirgends an Beweisen für die fortdauernde Wirkung und Herrschaft der Liebe. Die selbstloseste Hingabe beseelt das große Heer der Helfer und Helferinnen des Roten Kreuzes, die ohne Ansehen der Volks- oder Kirchen-Zugehörigkeit, der Rassen- oder Standesunterschiede alle verwundeten Soldaten auf den Kampfplätzen der ganzen Welt als Brüder behandeln, indem sie ihnen die Wunden verbinden und durch ihre Pflege Gesundheit und Leben wieder schenken.

Wie oft kommt es vor, daß Soldaten verschiedener Nationen, die in der Schlacht grimmige Feinde waren und auf jede Weise einander nach dem Leben trachteten, Seite an Seite im Lazarett herausfinden, daß sie in Wirklichkeit eins sind in ihren Gefühlen und Empfindungen, Brüder dem Herzen nach, ohne daß sie es vorher wußten. Fern von der Stätte des Hasses und Blutvergießens schließen sie Freund- und Bruderschaft fürs Leben.

Pessimisten erblicken in dem Krieg nur die Vernichtung der Zivilisation und die Loslassung aller Dämonen des Hasses. Aber die Liebe ist stärker als der Haß und erzeugt Leben selbst aus dem Tod. Sogar auf dem Schlachtfeld streut sie die Saat eines neuen großen Lebens aus, das alles, was die Welt bisher gesehen, in Schatten stellt.

Nie seit Menschengedenken ist der Wahlspruch der französischen Revolution „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ so Allgemeingut der Menschheit geworden wie während des Weltkriegs. Das große Unglück hob alle Klassen- und Parteiunterschiede auf. Die scharfen sozialen, religiösen und politischen Grenzlinien, die vorher in den kriegführenden Ländern gezogen waren, verschwanden an vielen Orten. Die gemeinsame Not brachte die Menschen einander näher. Männer und Frauen aller Stände und Parteien wirkten zusammen auf das eine Endziel hin.

Vornehme Familien nahmen Kriegswitwen und -waisen bei sich auf. Damen von Rang und Stand verrichteten die niedrigsten Dienste der Krankenpflege, stellten sich in den Dienst der niederen und höheren Schule, arbeiteten auf kaufmännischen und behördlichen Schreibstuben und lenkten den Kraftwagen oder die Straßenbahn. In Deutschland sind Frauen, vorher an keine Art von Arbeit gewöhnt, freudig an die Stelle ihrer Männer getreten, als diese dem Ruf des Vaterlandes zu den Waffen folgten, und haben, auch als infolge der Absperrung unserer Aus- und Einfuhr die Schwierigkeiten sich bergehoch vor ihnen auftürmten, mit unerschütterlicher Treue standgehalten. Ähnliches liest man auch von anderen Ländern, die in das Völkerringen verwickelt waren.

Hoffen wir, daß die von der Liebe und dem Geist der Brüderlichkeit aufgehobenen Schranken nie wieder errichtet werden; daß der Friede — wenn er einmal wirklich seinen Einzug hält — eine Wiedergeburt der Völker auf neuer Grundlage bringen wird.

Ein denkwürdiger Vorgang hat sich in den Vereinigten Staaten am 21. Juli 1911, fünfzig Jahre nach der Schlacht bei Bull Run, zugetragen. Die Überlebenden der blauen und der grauen Armee kamen zusammen und begruben den letzten Rest feindlicher Absonderung, der aus den Tagen des Bürgerkriegs noch vorhanden war und die Beziehungen zwischen den Nord- und Südstaaten beschattete. „Die Veteranen stellten sich in Reih und Glied auf und marschierten auf der Heinrichshöhe gegeneinander, wobei sie die Gefechtsbewegungen, die sie vor fünfzig Jahren auszuführen gehabt hatten, wiederholten. Als die beiden langen Linien sich trafen, machten sie Halt und reichten sich die Hände. Ein mächtiger Jubelruf erdröhnte, und manchem alten Graubart rollten die Tränen über die Wange herab.“

Es mag lange dauern, bis die Wunden, die der Weltkrieg geschlagen, vernarbt und all die Greuel, die verübt wurden, aus dem Gedächtnis ausgewischt sind; aber der Tag wird kommen, wo alle Nationen sich brüderlich die Hand reichen und zum Besten der ganzen Welt zusammenwirken. Der Haß wird der Liebe weichen, und die Liebe wird allen Streit und Krieg, alle Rache, Selbstsucht und Raubgier aus der Welt verbannen. Jahrhundertelang haben die Menschen es mit dem Haß, dem Krieg und dem Blutvergießen versucht — umsonst; denn mit Gewalt ist noch nie etwas ausgerichtet worden. Im zwanzigsten Jahrhundert ist kein Platz mehr für Staatslenker oder Völker, die eine Säbelherrschaft gründen wollen. In unserem Zeitalter bedeutet Friede so viel wie Fortschritt.

Eine hochstehende Frau, die viele Jahre lang zusammen mit ihrem Gemahl für humanitäre Zwecke tätig war, hatte einst einen merkwürdigen Traum von einem neuen Zeitalter, das für die Menschheit anbrach. Sie erzählte ihn folgendermaßen:

„Mir träumte einst von dem Kommen einer neuen Zeit, in der Männer und Frauen gleicherweise und mit vereinten Kräften kämpfen für die Emporhebung des Menschengeschlechts und die Befreiung der Welt von allem Übel. Ich sah die Menschenkinder aller Himmelsstriche wie die Bienen arbeiten, um die Wurzeln der Übel, womit die menschliche Gesellschaft behaftet ist, bloßzulegen und das ganze Gewebe des Lasters und Elends zu enthüllen; aber auch um die besten Heilmittel gegen all diese Übel und Leiden zu entdecken.

Da erschien plötzlich ein neues, wunderbares, alles durchdringendes Licht, dessen Glanz mit menschlichen Worten sich nicht beschreiben läßt — das Licht einer neugeborenen Hoffnung und Liebesflamme. Die Quelle dieses Lichts war menschliche Anstrengung — das unsterbliche Ringen und Schaffen von Tausenden und Abertausenden von Männern und Frauen. Ich sah sie alle, Seite an Seite, Schulter an Schulter, erfüllt von demselben unwiderruflichen Vorsatz, jedes Antlitz zu erleuchten mit einem Glanz, der nicht von dieser Welt stammt. Alle stürmten auf ein gemeinsames Ziel los, alle strebten danach, einem und demselben Feind den Fuß auf den Nacken zu setzen, ein und dasselbe unvergängliche Gut zu erringen.

Und dann kam der Sieg. Alles Übel war von der Erde verschwunden. Alles Elend ausgemerzt. Die Menschheit war erlöst und gerüstet, um in ein neues Zeitalter menschlichen Verstehens, allumfassenden Mitgefühls und ewig dienstbereiter Hilfe einzutreten: das Zeitalter des unzerstörbaren Friedens und der vollkommenen Liebe, die alles Denken übersteigt.“

Das ist der Traum von Jahrtausenden, die Hoffnung des Menschen seit dem Sündenfall; und jedes Jahrhundert, jedes Jahr bringt uns seiner Erfüllung näher. Trotz widersprechenden Erfahrungen und so vielen offenkundigen Übeln in unsrer Mitte, trotz so manchen Rückfällen und Entmutigungen gewinnt der Geist Christi, der Geist der menschlichen Brüderlichkeit, langsam an Boden und durchdringt die Massen. Die Nächstenliebe hat in den letzten 25 Jahren größere Fortschritte gemacht als in den vorangehenden zwei Jahrhunderten. Das tritt uns auf allen Gebieten des Lebens entgegen. Wir sehen es daran, daß Männer und Frauen überall ihren weniger glücklichen Mitmenschen ein lebhafteres Interesse, eine wärmere Teilnahme zuwenden. In allen Teilen der zivilisierten Welt erfahren die Armen und Kranken, die Alten und Gebrechlichen, die Zerschlagenen und Verstoßenen, die Gefallenen und Verbrecher eine menschenwürdigere und freundlichere Behandlung als jemals zuvor in der Geschichte der Menschheit.

Man denke bloß an die Fortschritte in der Behandlung der Irrsinnigen. Es ist nicht allzulange her, daß diese Unglücklichen in der unmenschlichsten Weise mißhandelt, in Ketten gelegt, geschlagen, gepeitscht und auf alle mögliche Weise mißbraucht wurden, als hätten sie keinerlei Anspruch auf unsere Liebe und Teilnahme.

 

Ebenso sind auf dem Gebiet der Gefangenenfürsorge bemerkenswerte Fortschritte erzielt worden. In alten Zeiten wurden die Verbrecher in barbarischer Weise gezüchtigt — man riß ihnen die Ohren aus, brannte ihnen mit glühenden Zangen die Augen aus, verstümmelte ihre Körper mittelst der Folterwerkzeuge und Daumenschrauben, riß ihnen buchstäblich Arme und Beine aus und tötete sie langsam in grausamen, oft tagelangen Marterqualen.

Der Krieg hat leider oft und viel die niedersten Triebe — Grausamkeit, Mordlust und Blutdurst — entfesselt und die Menschen in reißende Tiere verwandelt. Insbesondere werden aus Gefangenenlagern Greuel und Grausamkeiten berichtet, die jeder Kultur, Zivilisation und Humanität — den hochklingenden Schlagwörtern unseres „überfeinerten“ Zeitalters — Hohn sprechen; Untaten, die um so abstoßender und unmenschlicher sind, als sie nicht an strafwürdigen Unholden, sondern an Männern verübt wurden, deren einziges Verbrechen darin bestand, daß sie ihr Vaterland mit den Waffen verteidigt haben. Aber abgesehen von diesen Kriegsgreueln trägt heutzutage in vielen unserer Gefängnisse die freundliche und besonnene Behandlung, die an Stelle des alten unmenschlichen Systems „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ getreten ist, tatsächlich dazu bei, den Verbrecher zu bessern und ihn wieder zu einem brauchbaren Glied der menschlichen Gesellschaft zu machen. Derartige Bestrebungen stammen — in der Theorie wenigstens — schon aus dem 18. Jahrhundert. Damals lehrte J. J. Rousseau, daß der Mensch von Natur gut sei und nur durch die Berührung mit der Kultur und der menschlichen Gesellschaft verdorben werde. Auf dieser Grundlage selbständig weiterbauend suchte J. H. Pestalozzi, von edelster und uneigennützigster Menschenliebe getrieben (vgl. Kap. 6), in seinem Dorfroman „Lienhard und Gertrud“ sowie in einer gleichzeitig veröffentlichten Schrift über „Gesetzgebung und Kindermord“ nachzuweisen, daß die Gesellschaft die Hauptschuld am Verbrechen trage und die Behandlung der Strafgefangenen dahin zielen müsse, sie für das soziale Leben wieder brauchbar zu machen. Das alte System tötete oder quälte die Gefangenen, brach ihren Geist und verhärtete ihr Verbrechergemüt. Selten, wenn überhaupt einmal, besserte es. Das neue System will den Missetäter dahin bringen, daß er seine Verfehlungen erkennt und wieder gutzumachen sucht.

Die Liebe lehrt uns das Verbrechen zu behandeln, wie Christus die Sünde behandelte, nämlich als eine Krankheit, die mit dem Balsam der verzeihenden Barmherzigkeit statt mit brutalem Dreinschlagen geheilt werden muß. Letzten Endes aber wird die Liebe nicht bloß das alte grausame Verfahren der Sträflingsbehandlung, sondern das Verbrechen selbst aus der Welt schaffen. Denn wenn die Menschheit sich nach dem höchsten Sittengesetz regieren läßt, so wird die Versuchung zum Fehltritt allmählich aufhören und das Laster eines natürlichen Todes sterben.

Die Ungerechtigkeit und Ungleichheit, die immer noch besteht und von der Gier nach Reichtum und Macht genährt wird, ist großenteils schuld an dem Verbrechen und dem menschlichen Elend. Wenn einmal die Gerechtigkeit regiert und jeder Mensch die gleiche Möglichkeit hat vorwärtszukommen wie sein Nebenmensch, dann werden Schulen und Arbeitsgemeinschaften an die Stelle der Gefängnisse und Armenhäuser treten.

Die Hoffnung des Menschengeschlechts auf eine bessere Zukunft beruht auf der allgemeinen Durchführung der goldenen Regel des Sittengesetzes. Die eine kurze Zeitspanne im Jahr, da fast allgemein seine praktische Anwendung versucht wird, gibt uns einen schwachen Begriff davon, wie eine nach diesem Gesetz gelenkte Welt beschaffen wäre.

Um die Weihnachtszeit können wir nämlich beobachten, wie manchmal selbst die schmutzigsten und gemeinsten Geizhälse, die unerbittlichsten Halsabschneider, die selbstsüchtigsten und verschlossensten Herzen, erfaßt von dem Geist des Wortes „an den Menschen ein Wohlgefallen“, edelmütige Impulse in sich spüren. Mögen sie auch das ganze Jahr hindurch ihre Verschlagenheit und ihren Scharfsinn aufbieten, um den andern zu übervorteilen und selbst ein gutes Geschäft zu machen; mögen sie sonst auch noch so eigennützig, kaltherzig und gleichgültig gegenüber den Leiden und Drangsalen ihrer Mitmenschen sein, an diesem einen Tag zeigen sie Spuren von Freundlichkeit, Dienstfertigkeit und Großmut. Am Weihnachtstag erwachen Herzen, die tot waren, zu neuem Leben. Die Welt kommt der Glückseligkeit näher als in den übrigen 364 Tagen.

Warum? Weil der Traum der Brüderlichkeit in Erfüllung geht.

Welch ungeheuren Fortschritt würde es bedeuten, wenn es dahin käme, daß der Weihnachtsgeist der Brüderlichkeit sich das ganze Jahr hindurch betätigte! Könnte jeder von uns sich dazu aufraffen, andern gegenüber zu handeln, wie er wünscht, daß man ihm gegenüber handle, so würde dieser Traum bald zur Wahrheit werden.

6. Wie man oft das verscherzt,
wonach einen am meisten verlangt.

Ein weiser Mann ließ einst seinem verstorbenen Kinde folgende Worte auf den Grabstein setzen: „Ich möchte lieber sterben und lieben im Reich des Todes, als ewig leben, wo keine Liebe ist. Unser Leben ist unnütz, sofern wir die nicht kennen und lieben, die uns hier lieben.“

Der kostbarste Besitz auf dieser Welt, nach dem jedes Menschenkind am meisten verlangt, ist die Liebe. Ein Leben ohne sie ist undenkbar, denn leben heißt lieben. Wo keine Liebe ist, da ist kein Leben. Oder nur der Schein eines solchen.

Die traurigste Lebenslage, die auch den Mutigen zum Feigling zu machen droht, kommt von dem Gefühl, daß niemand sich um uns und unser Los kümmert, daß es jedermann gleichgültig läßt, ob wir im großen Spiel des Lebens gewinnen oder verlieren.

Anders ist uns zumut, wenn noch jemand da ist, der sich um uns sorgt. So verzweifelt und hoffnungslos die Zukunft vor uns liegen mag, das Bewußtsein, daß irgend jemand nach uns fragt und uns, wenn wir nicht mehr wären, vermissen würde, jemand, der an uns glaubt und sein Vertrauen in uns setzt — ein Weib, eine Mutter, ein Kind, ein Freund oder auch nur ein stummes Tier — befähigt uns, den Kampf ums Leben fortzusetzen. Aber die Empfindung, daß wir schlechthin allein dastehen, ohne Freunde, ohne jemand, der ein Interesse daran hat, ob es im Leben mit uns auf- oder abwärts geht, ob wir gewinnen oder verlieren, leben oder sterben, diese Empfindung ist niederdrückend. Unter solchen Umständen braucht man eine Natur von Stahl und Eisen, um durchzuhalten und seine Lebensaufgabe zu erfüllen.

Wenn es möglich ist, daß ein Mensch in den Zustand solcher Verlassenheit gerät, so muß er selbst die Liebe aus seinem Herzen ausgeschlossen haben. Er muß den Versuch, zu lieben und geliebt zu werden, aufgegeben haben. Er muß den vom Schöpfer in jedes Lebewesen gepflanzten Trieb der Zärtlichkeit, des Wohlwollens, der Teilnahme erstickt haben. Irgend etwas hat seine Natur verdreht. Er ist nicht normal; denn Gott schuf uns für die Liebe — damit wir lieben und wieder geliebt werden.

Kürzlich schrieb mir ein Bekannter, die Liebe sei ein für ihn toter Begriff, er wolle das Wort nie wieder hören noch lesen. Er lege jedes Buch beiseite, das von diesem Gegenstand handle. Stoße er zufällig darauf, so überschläge er das Kapitel. Er schwur, in seinem ganzen Leben wolle er mit der Liebe nichts mehr zu tun haben.

Dabei verschwieg er, was diesen Umschwung in ihm verursacht hatte. Möglich, daß eine herzlose Kokette ihr Spiel mit ihm getrieben, oder daß ein Freund, dem er sein ganzes Vertrauen geschenkt, ihn getäuscht und verraten hatte. Mag dem sein, wie ihm wolle, ich kann nicht anders, ich muß den Mann von ganzem Herzen bedauern. Er versucht, das Gut, welches den Menschen am nächsten zu Gott emporhebt, das ihn selbst zu einem göttlichen Wesen macht, das einzige, was das Leben lebenswert gestaltet, aus seinem Herzen auszurotten.

Viele Menschen sind schmerzlich enttäuscht, weil sie in ihrem Leben so wenig Liebe finden. Eine Frau sagte einst zu mir, sie glaube nicht an die Möglichkeit und das Vorhandensein einer wirklich selbstlosen Liebe. Sie habe herausgefunden, daß, was sie bei ihren sogenannten Freunden für Liebe gehalten habe, nichts als Eigennutz gewesen sei; denn, als das Unglück über sie hereingebrochen sei und sie ihren Verbindlichkeiten gegen sie nicht mehr habe nachkommen können, hätten sie ihr den Rücken gekehrt. Mit andern Worten: diese Frau glaubt, daß die Menschen einander nur lieben in dem Maß, als sie glauben, aus dem andern Nutzen ziehen zu können. Sie weiß offenbar nicht, daß ihre eigene Gemüts- und Herzensverfassung, ihr kaltes Mißtrauen gegen andere ihr die Liebe und Teilnahme ihrer Nebenmenschen rauben. Im Allgemeinen läßt sich sagen, daß wir von andern das Maß der Liebe empfangen, das wir ihnen geben. Die Empfindungen, die wir in andern wecken, die Gefühle, Erregungen und Leidenschaften, die wir entfachen, sind ein ziemlich getreuer Maßstab für unser eigenes Inneres und unsern Charakter. Wenn wir Argwohn, Mißtrauen, Neid und Eifersucht entfachen, so müssen solche Triebe bis zu einem gewissen Grad auch bei uns selbst vorhanden sein. Gleich und gleich gesellt sich gern. Wir rufen bei andern hervor, was mit unsrer innern Stellung ihnen gegenüber, mit der Behandlung, die ihnen von uns widerfährt, übereinstimmt.

Viele, die nach Liebe schmachten, denen es den herbsten Verdruß bereitet, daß ihr Liebestrieb keine Befriedigung findet, verwehren selbst der Liebe den Eintritt in ihr Herz und blockieren es mit Dingen, die sich mit der Liebe nicht vertragen. Ein Herz voll Bitterkeit, Neid und Eifersucht, voll von Eigennutz, Habgier und übersprudelndem Ehrgeiz, von Verlangen nach Stellung, Ruhm und Macht, ist keine Wohnstätte für die Liebe. Eine solche Luft kann sie nicht atmen. Darin würde sie ersticken.

Jedes normale Wesen verlangt nach Liebe, und doch, wie viele vertreiben sie von ihrer Türe durch ihr eigenes liebloses Gebaren! Oft geht es ja so im Leben, daß man durch seine verkehrte innere Haltung das verschmerzt, was einem der kostbarste Besitz zu sein dünkt.

Eine Mutter z. B., die ihr ganzes Leben lang nach Liebe lechzt, entfremdet sich ihre eigenen Kinder durch die leidenschaftlichen Ausbrüche und Forderungen ihres heißen Temperaments. Sie verbannt jede Gemütlichkeit aus der Wohnstube durch ihr aufgeregtes Wesen, ihren Mangel an Selbstbeherrschung und ihre Nörgelsucht. So fühlen sich ihre Kinder nie wohl in ihrer Nähe. Es erleichtert ihnen das Herz, und sie sind froh, wenn sie sich von ihr trennen können. Nichts, was sie tun, findet ihre Billigung. Beständig tadelt sie ihr Benehmen, ihren Anzug, ihre Gewohnheiten. Nie fließt ein Wort des Lobes aus ihrem Munde, wenn sie auch noch so sehr sich darum bemühen. So treibt sie, was die Kinder an Liebe für sie haben, aus ihrem Herzen aus.

Wahre Liebe fordert nicht, noch findet sie bloß Fehler an ihren Nebenmenschen. Sie ist nie unfreundlich, noch streitsüchtig. Willst du Liebe von andern, so mußt du es dir abgewöhnen, immer bloß die schlechten Eigenschaften der andern anzubellen, du mußt das Gute in ihnen ausfindig machen. Und suchst du treu, so findest du.

„Im Herzen Afrikas, zwischen den großen Seen,“ erzählt Drummond, „stieß ich auf schwarze Männer und Weiber, die sich des einzigen Weißen, den sie je zuvor gesehen, noch wohl erinnerten — David Livingstone's; wenn man seinen Spuren in dem dunkeln Erdteil nachgeht und von dem freundlichen Doktor redet, der vor vielen Jahren zu ihnen kam, so leuchten die Gesichter der Schwarzen auf. Sie verstanden seine Sprache nicht, aber sie spürten die Liebe, die für sie in seinem Herzen schlug.“

Über Lord Shaftesburys Gruft in der Westminster Abtei sind die zwei Wörter eingemeißelt: „Liebe, Dienst.“ Nicht sein Reichtum, noch sein Rang, noch seine Weisheit und seine staatsmännischen Talente sind es, die diesem Staatsmann einen Platz in dem Herzen seiner Landsleute sichern; nein, was ihn allen Ständen so wert und teuer macht, ist jene selbstlose Liebe, die ihn bewog, sein Leben dem Dienst seiner Mitbürger zu weihen.

Ein Grabstein ähnlichen Gedenkens findet sich auf dem Friedhof des Dorfes Birr im Kanton Aargau. Dort liegt der große Erzieher und Menschenfreund Johann Heinrich Pestalozzi begraben, der „Heros und König der Liebe“, von dem die segensreichste Umwälzung auf dem Gebiet des Unterrichts- und Erziehungswesens ausgegangen ist, und der mit vollem Recht sich rühmen durfte, das Leben eines Bettlers auf sich genommen zu haben, „um den Bettlern zu zeigen, wie sie als Menschen leben sollen.“ Sein Denkmal zieren die Worte: „Alles für andere, für sich nichts.“ Alle seine Schöpfungen, auch die von ihm ins Leben gerufenen Erziehungsanstalten, sind, da es ihm selbst an praktischem Geschick und an der nötigen Menschenkenntnis mangelte, schon bei seinen Lebzeiten untergegangen. Aber in unzähligen Waisenhäusern und Rettungsanstalten, zu denen sein Werk die Anregung gegeben hat, lebt Pestalozzis Geist, der Geist der erbarmenden Menschenliebe, heute noch fort, und sein Name ist einer der glänzendsten, welche die Geschichte des Schweizer Volkes aufweist.

 

Die Liebe ist der goldene Schlüssel, der alle Herzen öffnet; sie ist das verzauberte Tor, durch das wir hindurchgehen müssen, um in Beruf und Leben zum Erfolg zu gelangen.

Auch der beste Dienst ermangelt, wenn ohne Liebe erwiesen, dessen, was ihm den Stempel des Göttlichen aufdrückt. „Wir fangen damit an, daß wir sie lieben,“ gab mir ein Offizier der Heilsarmee zur Antwort, als ich ihn fragte, was der erste Schritt sei, den sie tun, um die armen Ausgestoßenen aus dem Sumpf des Elends herauszureißen. Hierin liegt das Geheimnis des wunderbaren Wachstums der Heilsarmee und ihrer Erfolge.

Bei allem, was du tust, mußt du diese mächtige, lebenschaffende Kraft zu Hilfe nehmen, sonst bleibt dir das Gelingen auch des edelsten und höchsten Planes versagt. Du magst — sei es aus einem Gefühl der Pflicht, weil du zum Kirchengemeinderat gehörst und hinter den andern nicht zurückbleiben willst, oder sei es aus irgend einem andern Grunde — in die Spelunken des verrufensten Stadtviertels oder auf die glänzenden Ringstraßen einer Großstadt gehen, um den dringendsten Bedürfnissen der Armen abzuhelfen, um die Unwissenden zu unterweisen und sie auf bessere Wege zu leiten; wenn du dein Werk ohne Liebe verrichtest, wenn du diejenigen, denen du helfen willst, nicht liebst, so wird all dein Bemühen vergeblich sein.

Wollen wir unser Leben mit Sonnenschein und Liebe überfluten, so müssen wir wirkliche Männer und Frauen sein. Dazu gehört aber mehr als bloß die Fähigkeit, für seinen und seiner Familie Unterhalt zu sorgen. Was immer unser Beruf sei, wir müssen uns in den Dienst der Menschenliebe stellen. In diesem Dienst gibt es mancherlei, dem wir uns neben unserem Beruf her widmen können; wir können z. B. andere aufmuntern, ihnen Mut zusprechen, ihnen Handbietung leisten.

Wie wenig kostet es uns, auf unserem Wege vor uns her Blumen zu streuen, auch wenn wir immer wieder neue Wege aufsuchen. Wenn unsre Mittel auch gering sind, so sollten wir doch für diejenigen unsrer Mitmenschen, die zu unsrer Behaglichkeit beitragen, denen wir die kleinen Annehmlichkeiten des Lebens verdanken, die uns bei unsrem Tagewerk behilflich sind, einen freundlichen Blick oder ein aufmunterndes Wort übrig haben: für den Briefträger, den Zeitungsjungen, die Milchfrau, den Aufwärter, die Hausnäherin, den Schaffner usw. Eine teilnehmende Frage, ein Lächeln, ein freundlicher Zuspruch oder ein kurzes Lob scheint vielen von uns etwas so Geringfügiges zu sein, und doch mag es unter Umständen für eine einsame und mutlose Seele, die nach Teilnahme und Aufmunterung dürstet, eine glückliche Wendung in ihrem Leben bedeuten.

So hat einmal ein Wort liebevollen Zuspruchs ein scheinbar unbedeutendes Bürschchen zu emsigem Streben angestachelt und einen berühmten Geschäftsmann aus ihm gemacht.

Bei einer Schulprüfung war er dem Visitator ausgefallen durch seine Antworten, die — so ungeschickt sie auch waren und so grobe Unkenntnis sie auch verrieten — doch eine gewisse Begabung vermuten ließen. Der Lehrer bezeichnete ihn als den dümmsten und ungeschicktesten Jungen in der ganzen Schule, dem er trotz aller Mühe nicht das mindeste Wissen beizubringen imstande sei. Aber der Visitator, der das Herz auf dem rechten Fleck hatte und wußte, daß es neben der Schulbegabung auch eine Lebensbegabung gibt, und daß mancher Junge, der in der Schule als „unverbesserlicher Dummrian“ gilt, es im Leben doch zu etwas Rechtem bringen kann, ersah sich, ehe er die Schule verließ, eine Gelegenheit, um den armen, verschüchterten Jungen aufzumuntern. Ihm wohlwollend auf die Schulter klopfend, sagte er: „Nur Mut, mein Lieber, wenn du tüchtig hinter der Arbeit her bist und dich nicht scheust, harte Bretter zu bohren, so kann noch ein berühmter Mann aus dir werden.“

Die Worte des hohen Herrn, die so teilnehmend und ermutigend geklungen hatten, entzündeten den Ehrgeiz des Knaben und füllten sein Herz mit neuer Hoffnung. Sie klangen in seinem Ohre nach und er gelobte sich selbst, nicht nachzulassen und dem Lehrer und seinen Schulkameraden zu zeigen, daß er keineswegs der stupide Taugenichts sei, für den ihn jedermann hielt. Dieser Knabe wanderte in noch jungen Jahren aus seiner deutschen Heimat aus und wurde später einer der hervorragendsten und reichsten Großindustriellen der neuen Welt.

Gibt es etwas Leichteres, als das Leben anderer durch ein bißchen Sonnenschein zu erheitern, als Frohsinn und Herzensgüte bei unserem Tun und Treiben walten zu lassen? An Gelegenheit dazu fehlt es nie; aber die Gelegenheit, die du heute versäumst, kommt morgen nicht wieder. Ein herzlicher Brief, ein aufrichtendes Wort, kleine im Vorübergehen erwiesene Aufmerksamkeiten — alles das wird tausendfach vergolten und schafft dauernde Befriedigung.

„Jeder Mensch,“ sagt der bekannte englische Schriftsteller Ruskin, „schuldet seinem Nächsten eine Riesensumme von Liebe, weil es keinen andern Weg gibt, die Liebesschuld abzutragen, welche wir der Vorsehung gegenüber eingegangen haben.“ Mit andern Worten: die Gewohnheit, Gutes mit Gutem zu vergelten, den Nebenmenschen durch gütigen Zuspruch zu erfreuen, ihm freundlich die Hand zu geben, ihm froh das Herz zu öffnen, ihm gütig den rechten Weg zu weisen — das ist nicht bloß Dienst an Menschen, sondern Dienst an Gott, der uns heute zu diesem, morgen zu jenem seiner Kinder schickt. Und diese kleinen Gefälligkeiten und Dienste des Alltags, die unserem Hauptberufe keinen Abbruch tun, tragen mehr zu unsrem Glück und unsrer Befriedigung bei als das Geld, das wir verdienen, oder irgend etwas, was wir von andern empfangen.

„Im Geben, nicht im Nehme»,

Liegt Glück und Seligkeit.“

Ein anderer Schriftsteller sagt einmal: „Wenn ich der Liebe Halt gebiete, so stockt mein Lebenspuls. Wenn ich hasse, so wird meinem Leben die Todeswunde geschlagen. Nur wenn ich mit allumfassendem Herzen, das keinen ausschließt, liebe, kann die allumfassende göttliche Liebe ihre Schönheit durch mich ausstrahlen und ihre heiligste Freude durch mich hinausjubeln.“

Nur durch die tägliche Betätigung der Liebe an allen, mit denen wir in Berührung kommen, können wir das erreichen, was das Wesen der Gottheit selbst ist — die große aus sich selbst geborene Liebe, nach der alle Herzen hungern und dürsten.

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