Der Weg der Liebe

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3. Das Größte auf Erden.

„Die Liebe ist der Seele Leben,

Sie ist des Weltalls Harmonie.“

Channing.

Wörterbücher widmen dem Begriff „Liebe“ eine halbe Spalte. Die Bibel lehrt uns ihre umfassende Bedeutung in vier Wörtern: „Gott ist die Liebe.“

Nach der übereinstimmenden Meinung der Menschenkinder aller Zeiten ist das herrlichste Ding auf dieser Erde, das alle menschlichen Wesen immer am dringendsten begehrt haben, die Liebe. Sie ist, wie H. W. Beecher sagte, „der Strom des Lebens in dieser Welt. Glaube nicht, der du an dem rieselnden Quell oder an dem plätschernden Bach stehest, daß du die Liebe kennest. Du mußt erst durch die felsigen Schluchten wandern, ohne den Strom zu verlieren, du mußt über die Wiesen und Felder der Ebene gehen, wo der Strom sich weitet und so tief wird, daß er Flotten auf seinem Rücken trägt; du mußt erst zu dem unergründlichen Weltmeer gelangen und deine Schätze seinen Tiefen übergeben — erst dann kannst du ermessen, was die Liebe ist.“

Irgendwo habe ich die Geschichte eines Sonnenstrahls gelesen. Der hatte gehört, es gebe Orte auf der Welt, so düster und unheimlich, daß es unmöglich sei, sie zu beschreiben. Er beschloß, diese Plätze ausfindig zu machen und begab sich mit Blitzesschnelle auf die Reise. Er suchte die verborgensten Höhlen auf, glitt in sonnenlose Hütten, in dunkle Alleen, in unterirdische Keller. In das finsterste Dickicht drang er auf seiner Suche, um zu sehen, wie die Dunkelheit ausschaue; aber nirgends fand der Sonnenstrahl die Finsternis, weil ihn überallhin sein eigenes Licht begleitete. Jeder Winkel, den er besuchte, mochte er noch so finster und unheimlich vor seinem Eintreten sein, wurde durch seine Gegenwart erleuchtet und erheitert.

Die Sonne ist ein schönes Sinnbild der Liebe. Sie sendet ihren erwärmenden und lebenspendenden Strahl ebenso unparteiisch in die ärmste Hütte und in die Gefängniszelle wie in den Palast des Reichen. Sie teilt sich selbst dem schlimmsten Unhold, dem elendesten Krüppel, der in Lumpen gehüllt auf der Erde umherkriecht, so uneingeschränkt und so freudig mit wie dem Monarchen auf dem Thron. Für sie gibt es kein Ansehen der Person; sie scheint auf die Gerechten und Ungerechten. Sie fragt nicht, wessen Korn, wessen Kartoffeln, wessen Rosen, wessen Heim sie erwärmen oder beleuchten soll. Sie fragt nicht nach unserem Herkommen, unseren Grundsätzen, unserer politischen oder religiösen Anschauung. Sie strahlt den Bösen wie den Guten, den Ungläubigen wie den Gläubigen, allen Völkern, allen Rassen: den Weißen, Schwarzen, Braunen und Gelben. Sie kennt weder Haß noch Vorurteil. Sie flutet einfach in jeden Winkel der Erde, der ihr zugänglich ist. Seien es die giftigsten Sümpfe, die ansteckendsten Moräste, Löcher voll Schmutz und Unrat, der Aufenthalt der gemeinsten und niedrigsten Lebewesen — sie läßt ihr Licht, ihre Schönheit und ihre Freude ohne Unterschied auf alle ausströmen.

Wie die Sonne, so erleuchtet und erwärmt auch die Liebe alles, was sie berührt, zu neuem Leben. Die Liebe ist für das Menschenherz, was die Sonne für die Rose ist. Duft und Schönheit, Pracht und Reichtum der Farben, alle darin verborgenen Möglichkeiten zaubert die Sonne aus der Blume hervor. So lockt auch die Liebe das Beste, was in uns ist, heraus; denn sie wendet sich an die edelsten Empfindungen und die erhabensten Ideale. Wahre Liebe erhebt, reinigt und stärkt jedes Herz, das sie berührt. Sie hebt uns über uns selbst empor, weil sie nur das Beste in uns erblickt. Sie achtet nicht unserer Schwachheit, unserer Niedrigkeit, unseres Verbrechertums und sieht nur den göttlichen Kern in uns, der zum Leben erweckt werden will. Die Liebe schließt unsere Natur auf und zieht wunderbare, in tiefster Vergessenheit begrabene Kräfte ans Tageslicht.

Die Liebe erkennt Gott in der elendesten menschlichen Ruine und schafft dem Verworfensten eine Möglichkeit der Rettung. Sollte man diese Gelegenheit verscherzen? Wenn nichts anderes mehr übrig bleibt, wenn das Leben voll ist von Angst und Pein, dann klopft der Betrüger, der Dieb, der Mörder, der Ausgestoßene an die Tür der Liebe und findet eine Zuflucht; denn „die Liebe höret nimmer auf“ und verschließt sich niemand. Sie ist für jedes menschliche Wesen, was die mütterliche Zärtlichkeit für das verlorene Kind ist. Kein Sohn, keine Tochter ist je so tief gefallen, daß es dadurch der Mutter Liebe verwirkte. Kein Mann noch Weib kann je dahin kommen, daß die Liebe sie nicht erlösen könnte. Sie ist das Heilkraut für alle Übel.

Eine Mutter fragt nicht: „Welches ist mein bestes Kind?“ um diesem einen vor allen andern ihre Gunst zuzuwenden. Nein, sie gibt sie allen. Wenn ein Unterschied gemacht werden muß, so gibt sie die meiste Liebe dem, das sie am nötigsten braucht — dem schwächsten, dem zartesten, dem von der Natur am wenigsten begünstigten, dem gebrechlichen, dem Krüppel, dem Mißgestalteten. Die Liebe kennt kein höheres Entzücken als das, dem Unglücklichen zu helfen und den Gefallenen aufzurichten. Wenn schwarze Wolken sich auftürmen und deine Gutwetterfreunde dich verlassen; wenn dein Geschäft zugrunde gerichtet ist, wenn du einen verhängnisvollen Irrtum begangen, wenn die Gesellschaft dir die Türe gewiesen hat; wenn deine Nächsten dich verleugnen und verleumden und alle Unternehmungen fehlschlagen, dann kommt die Liebe und steht dir bei, träufelt Öl auf deine Wunde und rettet dich aus der Nacht der Verzweiflung! Die Liebe richtet nicht und verdammt nicht. Sie verlangt immer Mitleid und mildernde Umstände für den Angeklagten. Sie sagt: „Verdammt nicht den armen Sünder, es ist noch ein göttlicher Kern in ihm“ — und ruft dem gefallenen Mädchen zu: „Gehe hin und sündige hinfort nicht mehr.“ Sie folgt dem schlimmsten Sünder und dem verhärtetsten Missetäter bis zum Grab — und darüber hinaus.

Die Liebe hat in der Weltgeschichte die größten Wunder gewirkt. Und wie oft sind wir Zeugen von Umwandlungen, die ein rauhes und verkommenes Leben durch sie erfährt! Ein junger Mensch, der auf schiefer Bahn rettungslos dem Abgrund entgegentreibt, faßt Neigung zu einem anmutigen und tugendhaften Mädchen und findet Gegenliebe. In kurzer Zeit ist er wie umgewandelt; die erneuernde Kraft der Liebe hat ihn dem Strudel entrissen. All seine Laster ersetzt er durch die entgegengesetzten Tugenden, und es beginnt für ihn ein neues Leben.

Wo jedes Besserungsmittel versagt, da triumphiert die Liebe, denn sie berührt die edelsten Triebfedern des Lebens, wie es sonst nichts vermag. Sie versenkt sich ins andere, weil sie mit ihm fühlt und wesensverwandt ist; sie hat eine Art, auf den tiefsten Grund der Dinge zu dringen, welche der Seele, die nicht von ihr geleitet wird, unbekannt bleibt. Immer wieder bekehrt sie die verworfensten Naturen, treibt sie das Tierische aus und entfaltet die feinsten und edelsten Regungen in einem Mann oder einer Frau. Welche Macht könnte der Gewalt der Liebe widerstehen, was könnte sie zerstören? Die Armut kann sie nicht ersticken, Mißachtung sie nicht schwächen, Schande sie nicht töten. Der abgestumpfte brutale Trunkenbold kann sie nicht dem ihm ergebenen Weibe aus dem Herzen reißen, der schwärzeste Undank die Liebesflamme im Mutterherzen nicht auslöschen.

Wunder vollbringt sie in den Gefängnissen, und auf dem Schlachtfeld waltet sie wie ein Engel vom Himmel. Ihr Vertreter, das Rote Kreuz, zeigt uns den Sinn der göttlichen Liebe: es verbindet die Wunde von Freund und Feind. Die Liebe fragt nicht nach Recht oder Unrecht; nicht, auf welcher Seite du gekämpft, nicht nach deiner Nationalität. Sie sieht nur Gottes Kinder in all den verwundeten und mit dem Tod ringenden Soldaten.

Die Liebe überwindet die Angst, denn sie ist das Gegengift der Furcht. Sie ist die einzige Macht, die dieser schlimmsten Feindin des Erdenbürgers, der Hauptquelle aller seiner Leiden, gewachsen ist. Die Liebe segnet, wo andere fluchen; erinnert sich, wo andere vergessen; verzeiht, wo andere verdammen; teilt aus, wo andere die Hand verschließen. „Die Liebe nimmt den Widerwärtigkeiten und Sorgen ihren Stachel, sie haucht Musik in deine Stimme und deine Schritte; sie umgibt die niedrigste Verrichtung mit Würde und Schönheit; sie schafft um dein Haus eine Atmosphäre sittlicher Gesundung; sie verleiht der Anstrengung Kraft und dem Fortschritt Flügel — kurz, sie ist allmächtig.“

Die Liebe ist's, die Herzen und Sinne öffnet, die guten Keime entwickelt, das Leben mit reichem Inhalt füllt und die Gesellschaft zusammenhält. Sie ist auch die einzige allgemein verstandene Sprache, sie selbst spricht alle Sprachen und Mundarten und ist ein offenes Buch für alle, die nicht lesen und ihren eigenen Namen nicht schreiben können. Sie ist das einzige, was den Sklavendienst, die Not und den Schmerz erträglich macht.

Gibt es größeres Glück und größere Lust hienieden als lieben und geliebt zu werden? Das menschliche Herz wurde geschaffen für die Liebe, und jeder darf soviel Liebe ernten als er gesät hat. Das Glück der Liebe besteht darin, daß sie andere glücklich macht. Die Liebe ist als Zwilling geboren und kann allein nicht glücklich sein. Darum muß sie auch alles, was sie hat, mit dem andern teilen; Selbstsucht, Neid und Habgier sind ihr fremd. Im Geschäftsleben behält sie auch den Vorteil des Partners und Widersachers im Auge; denn sie ist immer gerecht und vornehm, immer edelmütig, hilfreich und freundlich und übervorteilt nie den Nächsten.

In seiner unvergleichlichen Schrift „Das Größte auf Erden“ gibt der bekannte Naturforscher und Theologe H. Drummond eine Analyse vom Spektrum der Liebe. „Die Liebe ist nach Paulus nichts Einfaches, sondern etwas Zusammengesetztes. Wie der naturwissenschaftliche Forscher einen Lichtstrahl durch ein Kristallprisma leitet, so daß er auf der andern Seite herauskommt, gebrochen in die verschiedenen Farben, aus denen er zusammengesetzt ist — Rot, Blau, Gelb, Orange und die übrigen Regenbogenfarben — so läßt Paulus die Liebe durch das herrliche Prisma seines von Gott erleuchteten Geistes gleiten und zerlegt sie so in ihre verschiedenen Bestandteile.

 

Was ist also das Spektrum oder die Analyse der Liebe? Willst du sehen, was ihre Grundbestandteile sind? Du wirst finden, daß sie gewöhnliche Namen haben, daß es lauter Dinge sind, die von jedermann und überall angewendet werden können, und daß eine Menge kleiner Dinge und gewöhnlicher Tugenden als Summe das eine hohe Gut, das „summum bonum,“ ergibt. Die einzelnen Stücke sind Geduld: die Liebe ist langmütig; Güte: und gütig; Edelmut: sie ist nicht neidisch; Demut: sie rühmt sich nicht selbst, ist nicht aufgeblasen. Höflichkeit: sie beträgt sich geziemend; Selbstlosigkeit: sie sucht nicht das ihre; Sanftmut: sie läßt sich nicht aufreizen; Arglosigkeit: sie denkt nichts Übles; Aufrichtigkeit: sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sondern über die Wahrheit.“

Drummond erklärt das 13. Kapitel des 1. Korintherbriefs von Paulus für das großartigste Liebesgedicht, das je verfaßt worden sei. In einer Vorlesung fragte er einst seine Zuhörer: „Wie viele von euch Studenten wollen mit mir dieses Kapitel ein Vierteljahr lang einmal in der Woche lesen? Das tat einmal ein Mann, und diese Lektüre änderte sein ganzes Leben. Wollt ihr desgleichen tun?“

Das von Drummond so hochgehaltene Kapitel zählt nur dreizehn Verse. Es kann in kürzester Zeit dem Gedächtnis eingeprägt werden; wenn du dies tust und das Gelernte jeden Tag nachdenklich wiederholst, so wird es dein Leben von Grund auf umgestalten.

4. Wie man sein Leben zu einem Gesang macht.

Ein New Yorker Geistlicher fragte eines Tages seine Zuhörer, unter denen sich weltbekannte Männer, wie z. B. Andr. Carnegie, der Besitzer der größten Eisen- und Stahlwalzwerke der Welt, sowie Rabindranath Tagore, der indische Dichter und Philosoph, befanden, nach ihrer Meinung darüber, wie man sich am sichersten gegen die Versuchungen der Weltstadt schützen könne. Die beste der Antworten, die er sich schriftlich erbeten hatte, lautete:

„Dadurch, daß wir zu Gott als unserem allgegenwärtigen und erfahrensten Helfer aufblicken.“ Der Pastor gab dieser Antwort den Vorzug vor allen andern; fügte jedoch hinzu: „in allen unsern Angelegenheiten.“ Mit andern Worten: er meinte, wenn wir bei all unsern Angelegenheiten Gott, der die Liebe ist, im Auge behalten, so ist unser Leben gestärkt und gefestigt; wir sind geschützt vor dem Übel und ziehen wie ein Magnet alles Gute an.

Würde dieser Gedanke nicht bloß von der den großstädtischen Versuchungen am meisten ausgesetzten Jugend, sondern von jedermann, alt und jung, in allen Lebenslagen und Ständen, auf dem Land wie in der Stadt, beachtet und befolgt, wie unendlich viel Elend würde dadurch erspart! Wieviel glücklicher wären wir dann alle! Wie oft machen wir uns das Leben selbst zur Qual durch fortgesetztes Murren über unsre Umgebung, unsre Arbeit, unsre Nachbarn und unsre Lage im Allgemeinen, da wir nicht zu Gott in all unsern Angelegenheiten emporblicken!

Unter meinen Bekannten ist eine Frau, die unaufhörlich ihren Wohnort und die Leute darin verlästert. Sie fühlt sich ihnen nicht verwandt, sondern glaubt sich weit über sie erhaben. Sie hat sich nie mit ihrer Umgebung aussöhnen können und sagt, sie schäme sich, ihre Kinder in einem so „toten gottverlassnen Nest, wo dir Leute keinerlei Ideale haben“, aufziehen zu müssen. So ist sie über alle Maßen unbefriedigt und unglücklich.

Das Unglück kommt hier nicht von der Stadt, sondern von der Frau selbst. Sie weiß keine geistigen Beziehungen zu ihren Nachbarn anzuknüpfen, weil sie nicht von dem Geist der Liebe beseelt ist. Sie wohnte vorher in andern Städten, die nach der Ansicht ihrer Einwohner vortrefflich waren, in denen sie aber nicht glücklicher war, als sie es heute ist.

Die Wurzel dieser Unzufriedenheit ist hier und anderswo kleinlicher gesellschaftlicher Ehrgeiz. Sie ist eine Streberin, die immer nur sucht, in Kreise sich einzudrängen, die gesellschaftlich über ihr stehen, vorzugsweise in solche, deren Mitglieder viel reicher sind als sie selbst. Da sie nun aber mit diesen nicht gleichen Schritt halten kann, macht sie sich und ihre Familie elend, indem sie über den Ort und ihre eigene Gesellschaftsklasse den Stab bricht. Sie dünkt sich höher als diese, und wir können uns vorstellen, wie ein weibliches Wesen, das auf seine ganze Umgebung herabsieht, von dieser behandelt wird. Es ist nur zu begreiflich, daß ihre Nachbarn sie nicht schätzen und ihre Abneigung auf jede nur erdenkbare Weise zum Ausdruck bringen.

Viele Leute liegen allezeit im Streit mit ihrer Umgebung, weil sie in ihren Angelegenheiten nicht zu Gott emporblicken. Statt dessen verschwenden sie eine ungeheure Zeit und Energie, die sie zur Besserung ihrer Lage anwenden könnten, mit Nörgeln und unnützem Widerstreben.

Bist du ein Nörgler, ein Quälgeist, ein Pessimist, so wirst du deiner Umgebung unterliegen und eine Null in der Welt sein. Bist du aber auch in schweren Lebenslagen ein strahlender, hoffnungsfreudiger Optimist, so wird dein Leben ein voller Erfolg sein, sei deine Umgebung auch noch so ungastlich. Gott in dir selbst und in deiner Umgebung zu erkennen, bedeutet immer einen Gewinn.

Wir sollten uns bemühen, mit jeder Umgebung, sie mag beschaffen sein, wie sie will, so viel wie möglich „in Fried und Freundschaft“ zu leben, schon um ruhig unsre Arbeit verrichten zu können, um den Reibungen aus dem Weg zu gehen, die unsere Nerven zerreißen und unsere Kraft zerstören. Reibungen sind für uns Menschen, was der Sand für einen Mechanismus ist, der das Zapfenlager viel rascher zerreibt und abnützt, als es die Arbeit tut, welche die Maschine normalerweise zu verrichten hat.

Niemand kann seines Lebens froh werden und Gutes wirken, solange er andern gegenüber eine feindselige und pessimistische Haltung einnimmt. Pessimisten sind allezeit finstere Elemente, und diese wirken negativ, zerstörend, nicht aufbauend. Der Optimist, d. h. der Lebensbejaher, ist ein positives, aufbauendes Element; er findet den rechten Ton seinem Nächsten gegenüber; dadurch verbessert er seine Lage und sichert sich die Zuneigung und Hilfsbereitschaft der andern.

Wenn deine Arbeit oder deine Umgebung dich nicht befriedigt oder gar anwidert, so mache dich unverzüglich ans Werk, um dich für eine bessere Stellung und eine höhere Sphäre auszurüsten. Zanken, Zerren und Kritisieren pflegen die Dinge nur noch schlimmer zu gestalten und treiben dich unter Umständen von dem, was nach deinem Empfinden unter deiner Würde ist, zu einer noch verächtlicheren Handlungsweise und in eine noch geringere, dir noch weniger zusagende Umgebung hinein. Nörgelnd, schnaubend und wie ein Bullenbeißer, der gegen seine Nachbarn beständig die Zähne fletscht, durchs Leben zu gehen, heißt eben das aus seiner Nähe treiben, was man am liebsten an sich locken möchte. Willst du deine Umstände verbessern, so mußt du dich mit ihnen befreunden. Die Philosophie, welche auf den Widerstand verzichtet, hilft dir Lebenskräfte sparen und Vorräte anlegen, statt sie zu vergeuden. Sie hilft dir, eben das zu tun, was du zu tun begehrst. Sie arbeitet mit Gott, nicht gegen ihn. Sie blickt zu ihm empor in all deinen Angelegenheiten.

Unlängst stieß ich in irgend einem Buch auf folgende Zeilen, die mir einen tiefen Eindruck machten:

„Ich kämpfe keinen Kampf,

Ich singe meinen Sang.“

In ihnen liegt der ganze Unterschied zwischen denen, die im Leben versauert sind, unaufhörlich das Schicksal anklagen und ihre Arbeit als einen Sklavendienst und eine Menschenschinderei betrachten, und denen, die — mag kommen was will — wie Hagedorns „munterer Seifensieder“ und Lafontaine's sangeslustiger Schuhflicker ihr Lied singen, das Leben mit frohem Auge ansehen und in ihrem niedrigen Tagewerk ihr Vergnügen finden.

Der Optimist macht das Leben zu einem Gedicht, zu einem Gesang, der Pessimist, obwohl er dieselben Stoffe und Mittel, es zu gestalten, zur Hand hat, zu trockenster, traurigster Prosa.

Wie wir unser Leben gestalten, hängt davon ab, unter welchem Gesichtswinkel wir es betrachten. Unsere innere Haltung entscheidet, ob wir glücklich oder elend sein werden, ob unser Leben wohlklingende Harmonie oder schriller Mißklang sein wird.

Es gibt Leute, die eine staunenswerte Fertigkeit darin besitzen, nach falschen Tasten zu greifen und dem feinsten Instrument nichts als Mißakkorde zu entlocken. Wo sie gehen und stehen, stimmen sie die Tonart des Pessimismus an. Ihre Lieder gehen alle aus Moll. In ihren Bildern herrscht der Schatten vor. Um sie her kein Sonnenstrahl, kein Frohsinn, nichts, was Auge und Herz erfreut. Ihr Blick ist immer düster und zum Boden gerichtet; die Zeiten sind immer hart und das Geld rar. Ihr besseres Selbst scheint zusammenzuschrumpfen, ihr Lebenssaft zu vertrocknen, jede Knospe des Frohsinns zu verdorren; in ihrem ganzen Leben keine Blüte, kein Wachstum, kein sich Recken und Strecken.

Andere sind just das Gegenteil. Sie werfen keine Schatten. Sie verbreiten eitel Sonnenschein. Jede Knospe, an die sie rühren, öffnet ihre Blumenblätter, um in strahlender Schönheit süßen Wohlgeruch zu spenden. Sie nahen dir nie, ohne dich mit ihrem Frohsinn zu erwärmen; sie sprechen nie mit dir, ohne dich anzuregen und zu begeistern. Sie streuen Blumen um sich, wohin sie auch ihre Schritte lenken. Sie sind im Besitz des Steins der Weisen, der die Prosa in Poesie, die Häßlichkeit in Schönheit, den Mißklang in Harmonie verwandelt. Sie sehen nur das Beste in ihrem Nebenmenschen, und ihre Worte klingen immer heiter und hilfreich.

Der eine ist mit ganzem Herzen bei seinem nichts weniger als anziehenden Beruf und verleiht ihm nicht bloß Würde und Erhabenheit, sondern läßt ihn dadurch, daß er ihm seine Künstlerseele einhaucht, in himmlischer Schönheit erstrahlen, während der andere den erhabensten und schönsten Beruf zum Sklavendienst herabwürdigt.

Es gibt Frauen, die verbreiten solch strahlende Schönheit, warme Herzlichkeit und lachenden Frohsinn in den niedrigsten Wohnstätten, in Hütten mit leeren Stuben und nackten Wänden, daß diese wie glänzende Paläste erscheinen. Sie strahlen ein Licht aus, das durch die Ärmlichkeit ihrer Umgebung dringt und schöner nie gesehen ward, weder zu Wasser noch zu Land. Sie strahlen die Anmut und Süßigkeit der Liebe aus, welche die schlichteste und dürftigste Heimstätte verwandelt und verschönt, während andere Frauen trotz der Millionen, die sie aufzuwenden haben, ihren Wohnpalästen keinen Reiz, keine Anziehungskraft zu verleihen wissen. Die kostspieligsten Teppiche, die ausgesuchtesten Erzeugnisse der Kunst, all der raffinierte Luxus, mit dem sie sich umgeben, ersetzen nicht den Mangel an Harmonie, an jenem Glanz und Frohsinn, den ein feiner Geschmack erzeugt, welcher selber wieder von einem untrüglichen Sinn stammt für das, was zusammengehört und zusammenpaßt, und aus einem Herzen, das in warmer Liebe und Aufopferung für den Nebenmenschen schlägt.

Wem das Herz auf dem rechten Fleck sitzt, der kann die unscheinbarsten Gegenstände, die einfachste Verrichtung schön und angenehm gestalten; wem nicht, dem wird nichts im Leben schön oder wahr oder erhebend sein.

Wer sein Leben im rechten Licht betrachtet, wer vergnügt und hoffnungsfreudig sein Tagewerk verrichtet, immer in der Erwartung, daß ihm das Beste in den Schoß fällt, weil er an Gott als seinen Vater und den Spender alles Guten glaubt, der wird seine Fähigkeiten zu erstaunlicher Höhe erheben. Seine innere Haltung wird Hilfsquellen erschließen, die dem Unglücksraben und Schwarzseher verschlossen bleiben, weil seine innere Stellung seine Natur, sein Wesen nicht zu öffnen vermag. Er verneint das Leben, und damit verringert er seine schöpferischen Kräfte. Könnten wir nur den Geist des Optimismus in uns wachrufen und groß werden lassen, könnten wir in hoffnungsvoller Freude die Dinge ansehen, wie wir sie als Kinder eines allmächtigen Vaters natürlicherweise ansehen müßten, so würden wir unsre Leistungsfähigkeit verdoppeln und die Widerwärtigkeiten des Lebens auf ein verschwindend geringes Maß zurückführen.

Die Hälfte unserer Verdrießlichkeiten kommt davon her, daß wir die Zukunft immer in trübem Licht betrachten und von ihr immer das Schlimme, nie das Gute erwarten. Neun Zehntel der Leute, denen wir begegnen, sehen aus, als kämen sie von einem Begräbnis, und nicht, als wären sie auf dem Weg zu des Lebens großem Jubel- und Freudenfest.

Die Gewohnheit Schlimmes vorauszusagen, die beständige Furcht, daß ein Unglück im Anzug ist, zerstört den Seelenfrieden und damit die Gesundheit und Leistungsfähigkeit. Wir beweisen damit, daß wir in unserem Tun und Treiben nicht auf Gott schauen, sondern auf irgend eine teuflische Macht, die wir für stärker halten als den Schöpfer aller Dinge. Hast du dir jemals darüber Rechenschaft abgelegt, wie oft im Tage du den Ausdruck „ich fürchte“, „um Gottes willen“ oder Wendungen ähnlichen Sinnes gebrauchst. Viele von uns tun das und bedenken nicht, welch gefährliche Wirkung diese Worte auf Geist und Gemüt ausüben. Ich versuchte einmal, bei einem pessimistisch veranlagten Freunde festzustellen, wie oft im Tage er diesen Ausdruck brauchte. Als ich ihm am frühen Morgen begegnete, begrüßte er mich mit den Worten: „Ich fürchte, wir bekommen einen sehr kalten Winter, und die Kälte kann mein Geschäft schwer beeinträchtigen.“ Kurz darauf bemerkte er: „Ich fürchte, wir geraten in ernsthafte Verwicklungen mit England; und was kann nicht alles daraus entstehen?“ Zu Familienangelegenheiten überspringend fuhr er fort: „Ich fürchte, mein Junge, den ich in einer auswärtigen Schule untergebracht habe, wird krank. Überhaupt müssen wir uns auf manche Scherereien und Verdrießlichkeiten gefaßt machen. Und dann die Dienstboten! Ich fürchte, wir werden bald wieder wechseln müssen, und die neuen sind immer unbrauchbarer als die alten.“ Wir trennten uns dann; beim Weggehen aber gedachte er noch des Stands unserer Valuta und befürchtete, es werde noch schlimmer kommen. Als wir uns zufällig beim Mittagbrot wieder trafen, fürchtete er sich vor dem Fisch, dem Gemüse, dem Nachtisch und fürchtete sich weiter durch die ganze Mahlzeit und den ganzen Tag hindurch. Solange wir zusammen waren, habe ich sein „ich fürchte“ wenigstens fünfundzwanzigmal gehört.

 

Es gibt kaum ein Menschenkind, das nicht diesen oder jenen schwarzseherischen Ausdruck zwei oder dreimal im Tag, vielleicht aber auch viel öfter, gebraucht. Wir lassen dabei außer acht, daß wir jedesmal, wenn wir solche Worte in den Mund nehmen, einen Mangel an Selbstvertrauen bekunden und zweifeln, daß wir imstande seien, gegen all das, was wir befürchten, aufzukommen. So oft wir sagen, wir fürchten uns vor der Armut, vor Krankheit, vor geschäftlichen Schwierigkeiten, vor diesem und jenem, so untergraben wir die Kraft, dem Übel zu widerstehen, und führen unserem Gemüt ein Gift zu, das seine Wirkung auf die Gesundheit und Arbeitsfähigkeit nicht verfehlen wird.

Lassen wir ab von Dingen, die uns doch nur Schaden bringen. Fort mit der Furcht und der Schwarzseherei, die sich mit der Vorstellung quält, als führen die Pfade des menschlichen Lebens nur in Sümpfe und Abgründe. Betrachten wir lieber das Leben vom Standpunkt des Optimisten aus, der immer das Paradies und das gelobte Land mit Milch und Honig vor Augen hat. Der Optimist hält es mit Cäsar Flaischlen und singt:

„Hab Sonne im Herzen, ob's stürmt oder schneit,

Ob der Himmel voll Wolken, die Erde voll Streit.

Hab Sonne im Herzen, dann komme, was mag,

Das leuchtet voll Licht dir den dunkelsten Tag.

Hab ein Lied auf den Lippen mit fröhlichem Klang,

Und macht auch des Alltags Gedränge dich bang,

Hab ein Lied auf den Lippen, dann komme, was mag,

Das hilft dir verwinden den einsamsten Tag.“