Afrikanische Europäer

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1 FRÜHE BEGEGNUNGEN Von Pionieren bis zu Afrorömern

Das heutige Äthiopien versammelt diverse Geschichten von Exil oder Migration, die über Jahrhunderte zurückreichen. Allerdings kennt man unter Forschenden und Studierenden heute vor allem jene Geschichten, die entweder mit den Königreichen und der Kolonisation oder mit Äthiopiens Rolle in den Weltkriegen im Zusammenhang stehen. Darunter befinden sich auch Geschichten über die italienisch-äthiopischen Kriege. Das Exil des Kaisers Haile Selassie ist ein Beispiel für eine Kolonialgeschichte, die zu einer europäischen Lokalgeschichte wurde – in diesem Fall bezogen auf die englische Stadt Bath in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Italienische und abessinische Streitkräfte zogen im Oktober 1935 gegeneinander in den Kampf, und 1936 wurde die Hauptstadt Äthiopiens, Addis Abeba, von Italiens faschistischen Truppen besetzt. Der regierende Kaiser Haile Selassie musste das Land im selben Jahr verlassen und blieb bis 1941 im Ausland. Selassie ließ sich in Bath nieder und machte die Stadt für einige Jahre zu seinem Zuhause. Man könnte behaupten, er sei für eine Weile zu einem adoptierten Afroeuropäer geworden. Seine Verbundenheit mit Bath war so groß, dass er anlässlich seiner Rückkehr nach Äthiopien seinen Wohnsitz Fairfield House an die Stadt übergab, damit die lokale Community ihn nutzen konnte. Dieses positive Beispiel eines afroeuropäischen Zusammenwirkens ist in Großbritannien in guter Erinnerung geblieben, insbesondere bei der britischen Rastafari-Community in Bath und dem Rest des Landes.15 Diese Gemeinschaft ist zusammen mit den Menschen, die in der unmittelbaren Nachbarschaft des Hauses leben, maßgeblich daran beteiligt, Haile Selassies Haus, seine Geschichte und die Erinnerung an ihn zu bewahren. Die Verbindungen zwischen dem heutigen Äthiopien und Europa – insbesondere Italien – wurden jedoch schon lange vor den Kolonialkriegen im 19. und 20. Jahrhundert geknüpft. Diese Geschichte begann mit der Beziehung zwischen Meroe und Ägypten, speziell zwischen äthiopischen Königinnen und Ägyptens römischem Statthalter im Jahr 23 vor unserer Zeitrechnung.

Die Geschichtsschreibung über das antike nubische Königreich Kusch und seine Hauptstadt Meroe belegt deutlich, dass viele der Begegnungen, die vor Jahrhunderten zwischen Europa und Afrika stattfanden, alles andere als friedlich verliefen. Der griechische Geograf Strabon von Amaseia (ca. 62 vor unserer Zeitrechnung bis 24 unserer Zeitrechnung), Autor der siebzehnbändigen Geographika, die Geschichte und Topografie Tausender Orte umfasst, ist einer der wenigen Erzähler, deren Werk uns detaillierte Schilderungen der Beziehungen zwischen den Kuschiten und dem Römischen Reich liefert. Einer von Strabons in dieser Hinsicht wichtigsten Beiträgen betrifft die Kandaken (oft bekannt als Königinnen von Äthiopien), die gegen die römische Invasion kämpften. In einem seiner Bände schildert er auf bemerkenswerte Weise, wie der Römer Gaius Petronius zum Angriff auf die Stadt Napata, dem königlichen Sitz der Kandake, schritt, nur um festzustellen, dass sie diesen bereits für einen sichereren Stützpunkt verlassen hatte.16 Begleitet von einer Armee aus Tausenden Männern unternahm die Kandake einen Angriff auf die römische Garnison, aber Petronius konnte die Invasion verhindern, indem er die Festung besetzte und sicherte, ehe die Königin und ihre Armee darüber herfielen. Lokale Inschriften haben gezeigt, dass es sich bei dieser Königin aller Wahrscheinlichkeit nach um Amanirenas (regierte ca. 40 bis 10 vor unserer Zeitrechnung) handelte. Von Strabon erfahren wir, dass die Kuschiten römische Siedlungen in Ägypten bedroht hatten. Vor diesem Angriff war es Amanirenas mit Unterstützung des kuschitischen Prinzen Akinidad gelungen, die römischen Truppen in der Stadt Syene und auf den Inseln Elephantine und Philae zu besiegen. Als Reaktion darauf hatte Petronius die Festungsstadt Premnis besetzt und eine Burg erobert, ehe er auf Amanirenas’ Armee traf.

Es folgte eine bemerkenswerte Reihe von Verhandlungen, in deren Verlauf die Kuschiten Gesandte schickten, um sich mit den Römern auseinanderzusetzen. In diesen forderte Petronius, dass die umgestürzte Caesarenstatue wiedererrichtet würde. Irgendwann kapitulierten die Kuschiten. 21 bis 20 vor unserer Zeitrechnung unterzeichneten sie schließlich ein Friedensabkommen. Diese Begegnungen demonstrieren, dass das Römische Reich in bestimmten Teilen des afrikanischen Kontinents gut etabliert war und man die Bewohner*innen dieser Gebiete als Afroeuropäer bezeichnen könnte. Die Episode mit Amanirenas zeigt auch, dass das Machtverhältnis nicht konstant zugunsten des Römischen Reiches ausfiel.

Was Geschlechterrollen angeht, stellen die Geschichten über die Kandaken bestimmte Annahmen infrage. Die Kandaken hatten die meroitischen Königreiche stets tapfer und genauso erbittert verteidigt wie Könige. Auch wenn der Begriff »Kandake« sich auf die Mutter eines Thronerben oder auf eine königliche Ehefrau bezieht, waren diese Frauen selbst Kriegerinnen. Neben Strabons Bericht über Amanirenas finden sich weitere Geschichten in den Schriften des griechischen Historikers Cassius Dio und im Alexanderroman.17 Amanirenas war bei Weitem nicht die einzige Kandake, die bis zum Letzten für die Integrität ihrer Königreiche kämpfte. Die darauffolgenden Kandaken von Kusch, Amanishakhete und Amanitore, traten in ihre Fußstapfen.

Diese Geschichten liefern uns Erkenntnisse darüber, wie die Beziehung zwischen Europa und Afrika im Laufe der Zeit in Gegenden aufgebaut wurde, in denen keine strikte Abgrenzung zwischen den beiden Kontinenten vorherrschte. Der Begriff »Europa« wurde von Händlern, Soldaten und Wissenschaftlern benutzt, wenn diese auf ihre Reisen in verschiedene Gebiete verwiesen, die unserem modernen Verständnis des Kontinents grob entsprechen. Er kam im 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung auf und umfasste auch die Regionen rund um die Ägäis. Das Wort »Afrika« hat viele mögliche Etymologien, aber eine der frühsten Verwendungen datiert auf 146 vor unserer Zeitrechnung, als es in dem Begriff »Africa Proconsularis« auftauchte. Dieser bezeichnete eine römische Provinz im heutigen Tunesien, Algerien und Libyen. Der Disput um die Etymologie des Wortes ist deshalb von Bedeutung, weil der Begriff auf einen Stamm zurückgehen soll, der im Norden des Kontinents, auf dem Gebiet des heutigen Libyens, lebte. Wenn das zutrifft, erscheint die von mehreren Gelehrten vorgetragene Hypothese über den lateinischen oder griechischen Ursprung des Namens ideologisch zweifelhaft und romano- oder grecozentrisch. Ungeachtet solcher Debatten definierten die wirtschaftlichen, kriegerischen und politischen Kooperationen, durch die die Bevölkerungen dieser Kontinente miteinander in Kontakt traten, allesamt die geografischen Grenzen ihrer Welt. Sie prägten auch die Wege der verschiedenen historischen Figuren in diesem Buch.

Wenn wir die Geschichte dieser Orte und ihrer Bewohner*innen studieren, nimmt die in dieser Forschung stets präsente Frage nach dem Anderssein unterschiedliche Formen an. Dabei spielen Anderssein und othering (»Verandern«) bei der Abgrenzung geografischer Räume eine wichtige Rolle. Die Regionen, die als Lateinischer Westen bekannt waren, worunter Nordwestafrika, Gallien und Italien fielen, umfassten auch mehrere muslimische Gesellschaften. Im 11. Jahrhundert hatte man diese Gesellschaften jedoch zu Einheiten gruppiert, die die Vielfalt ihrer Glaubensrichtungen und gesellschaftlichen Praktiken verschleierten. Geraldine Heng merkt an, dass zwar Namen wie Agarener, Ismaeliten, Mauren und Sarazenen verwendet wurden, um Araber zu bezeichnen, christliche Araber jedoch nicht auf dieselbe Weise definiert wurden. Der Begriff »Sarazenen« erhielt sich über die Jahre und wurde zusehends mit negativen Eigenschaften belegt.18 Heng behauptet, jene, die aufgrund ihrer Religion als Sarazenen kategorisiert wurden, hätten ihrerseits nicht mit der Homogenisierung aller Christen reagiert, sondern stattdessen die Diversität der vom Christentum geprägten Regionen und Gesellschaften anerkannt. »Die islamische Historiografie in arabischer oder in einer anderen Sprache scheint weiterhin territoriale, nationale und ethnische Unterschiede abgegrenzt zu haben, wenn sie die Europäer als ›Römer, Griechen, Franken, Slawen‹ und so weiter bezeichnete.«19

Der nächste Schritt hin zu einer Rassifizierung vollzog sich in der Zuschreibung bestimmter Charakterzüge für Gruppen von Menschen. Dies wurde mit der Behauptung untermauert, die Geburt des Islam basiere auf einer Lüge und der Prophet sei »ein gerissener, hinterlistiger, ehrgeiziger, habgieriger, unbarmherziger und liederlicher Lügner«.20 Diese den Propheten charakterisierenden negativen Attribute wurden dann auf alle Muslime übertragen. Darstellungen dieser Natur waren im gesamten Mittelmeerraum anzutreffen.21 Im 11. Jahrhundert wurden Muslime entweder als schreckliche Tiere dargestellt, wie im französischen Versepos Rolandslied, oder als anfällig für beschämende sexuelle Ausschweifungen.22

Auch jene, die sich selbst zuerst und zuvorderst als Christen verstanden, schrieben ein Narrativ fort, das die Rassifizierung prägte. Die Kreuzritter, bemerkt Heng, trugen ihre Verbindung zu Christus auf dem Banner, wobei sie sich selbst als »christliche race« betrachteten und definierten. Der Schritt von der Rassifizierung durch Religion zum othering aufgrund der Hautfarbe fand auch in der Literatur statt. Heng führt mit dem mittelenglischen Ritterroman The King of Tars ein vielsagendes Beispiel dafür an. In der Geschichte wird eine hellhäutige Prinzessin gezwungen, zum Islam zu konvertieren und einen muslimischen König zu heiraten. Das aus dieser Verbindung entstandene Kind entpuppt sich als ein Monster, das erst durch die Taufe gerettet und körperlich verwandelt wird. Der als Schwarz bezeichnete Vater wird nach der Taufe ebenfalls weiß und beschließt, seine Untertanen ebenso bekehren zu lassen.23 Interkulturelle Heiraten waren keine rein fiktive Praxis. Erst in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts wurden Ehen zwischen weiblichen europäischen christlichen Adligen und muslimischen Königen weniger üblich. Christliche Sklavinnen wurden jedoch noch immer in Harems gehalten, und zwar mit solcher Regelmäßigkeit, dass fünf der Nasridensultane von Granada versklavte Christinnen als Mütter hatten. Die meisten dieser Frauen waren entweder während islamischer Eroberungen versklavt oder durch einen Sklavenhändler verschleppt worden, der speziell nach Frauen mit weißer Haut Ausschau hielt.24 Die Händler kamen aus verschiedensten Regionen: Die Wikinger versklavten und verkauften irische Menschen, die Engländer verkauften Menschen an die Franken, und die Venezianer handelten mit Menschen aus Zentraleuropa. Einige dieser versklavten Menschen landeten in den Regionen entlang des Mittelmeers, und eine große Anzahl von ihnen wurde nach Ägypten gebracht.25 Die Vorstellung von Afroeuropäern erhält also eine andere Bedeutung, wenn wir die Herkunft und die Bewegungslinien aller Personen dieser Gruppe bedenken.

 

In derselben Periode lieferten die Europäer auch Jungen, die ursprünglich aus Zentraleuropa, Eurasien und dem Kaukasus stammten, an die islamischen Herrscher. Die auf diesem Wege Verschleppten wurden dazu erzogen, sich den Streitkräften anzuschließen, die hauptsächlich aus versklavten Personen bestanden. Die von ihnen gebildete Truppe war bekannt als Mamluken. Im Laufe der Zeit stiegen sie zu Mitgliedern einer elitären Gruppe auf, die ihre eigenen Mamluken kaufen und Sklavinnen heiraten konnten, welche aus ihrem Heimatland kamen oder wiederum Töchter von Mamluken waren, wodurch sie eine »militärische race« erschufen.26 Heng demonstriert, in welchem Umfang das vormoderne Ägypten von muslimischen tscherkessischen Mamluken bestimmt wurde. Innerhalb weniger Jahrhunderte wurden sie zu den Herrschern Ägyptens und setzten eine strenge Trennung durch zwischen ihnen selbst, als eine einzigartige Kategorie von Menschen aus dem Kaukasus, und anderen ethnischen Gruppen, wobei Ehen über diese ethnischen Grenzen hinweg verboten waren. Die Nützlichkeit der Mamluken war unbestreitbar. Sie waren ethnisch unterscheidbare, skrupellose Krieger, deren Präsenz im neuzeitlichen Ägypten gefördert wurde. Reisende aus dem 15. Jahrhundert liefern Berichte über in Kairo lebende Mamluken aus Ungarn, Deutschland und Italien.27 Allerdings verwischten die Mitglieder dieser Gruppe durch ihre bloße Existenz die rassifizierenden Markierungen, die Europäer und Afrikaner größtenteils charakterisieren. Nach heutigen Begriffen waren sie weiße afrikanische Muslime europäischer Abstammung.

Die Mamluken waren nicht die einzigen Soldaten, die Grenzen überschritten und verschiedene Welten beeinflussten. Die Legende des heiligen Mauritius liefert uns eine interessante Linse, durch die wir die menschliche Geografie besser begreifen können. Im 3. Jahrhundert war die römische Präsenz in der Gegend von Theben durch die Eingliederung eroberter Bevölkerungen in die römische Armee gestärkt worden. Ihr Einfluss weitete sich in den Süden aus, und das Erbe jener Ära nimmt verschiedene Formen an. Die Figur des heiligen Mauritius ist in dieser Hinsicht besonders aufschlussreich. Eine der berühmtesten Darstellungen von Mauritius findet sich in Form einer Statue im Dom von Magdeburg. Die Statue stammt aus dem 13. Jahrhundert, lange nach der Lebenszeit des heiligen Mauritius im 3. Jahrhundert.

Zu begreifen, wie Mauritius als Heiliger bekannt wurde, wirft ein Licht auf die Herausbildung der europäischen Hagiografie. Außerdem liefert es uns interessante Informationen über den Platz, den Heilige in der mittelalterlichen Kunst einnahmen. Die Geschichte des heiligen Mauritius wurde von Generation zu Generation weitergegeben. Über die Jahrhunderte erreichte er den Status einer Legende, dennoch kennen Historiker*innen nur sehr wenige Details seines früheren Lebens, ehe er sich den römischen Truppen anschloss. Man geht davon aus, dass Mauritius im Umkreis des heutigen Ägyptens geboren wurde und sich bei der an der heutigen sudanesischen Grenze stationierten Thebaischen Legion meldete. Angeblich wurde er damit beauftragt, als Kommandeur der römischen Truppen einen Aufstand in Gallien niederzuschlagen. Dabei sollte er sichergehen, dass seine Truppen vor der Schlacht ihren Verpflichtungen gegenüber dem Gott Jupiter nachkamen, wie es von allen römischen Soldaten erwartet wurde.28 Zunächst willigte er ein, änderte dann jedoch seine Meinung, weil er sich sträubte, an der Christenverfolgung teilzunehmen. Kaiser Maximian sandte daraufhin Truppen zur Verhaftung von Mauritius und dessen loyalsten Soldaten. Sie alle wurden im Jahr 287 hingerichtet. Die Ursprünge des Heiligen sind Inhalt umfassender Forschungstätigkeiten gewesen. Die meisten Arbeiten betrachten eher die Transformation der Legende im Laufe der Zeit, eine bescheidenere Anzahl von Untersuchungen studiert jedoch auch ihre Grundlage.

Den Ausgangspunkt dieser Geschichte stellt ein um 450 verfasster Brief von Bischof Eucherius von Lyon an einen anderen Bischof namens Salvius dar. Eucherius berichtete von den thebaischen Soldaten, die auf Befehl Maximians in den Alpen ermordet worden seien.29 Die Richtigkeit dieser Darstellung ist jedoch angezweifelt worden. Denis van Berchem weist darauf hin, dass es einen Soldaten namens Mauritius von Apameia gegeben habe, dessen Märtyrertod in Syrien fälschlicherweise mit der Unterdrückung eines Aufstands in Gallien unter Maximians Herrschaft vermischt wurde. Diese Geschichte hätte mit der des Mauritius von Theben verwechselt worden sein können.30 Weitere Erklärungen finden sich in militärhistorischen Werken. Die von Eucherius erwähnte Thebaische Legion könnte in die Irre geführt haben – er schreibt von Thebaei, was der Name einer speziellen italienischen militärischen Einheit im 4. Jahrhundert war.31 Von Eucherius erfahren wir auch, dass die ursprüngliche Geschichte von Theodor stammte, der im späten 4. Jahrhundert Bischof von Octodurum war. Eucherius nahm Theodors Geschichte und machte sie zu seiner eigenen. Historiker*innen vermuten, der Bericht über Mauritius könnte eine von Theodor erschaffene politische Legende gewesen sein, die Menschen dazu ermuntern sollte, gegen Usurpatoren zu rebellieren.32 Eine Verbindung zu Theben (Thebais) wird zumindest durch in Ägypten nahe Syene (dem heutigen Assuan) gefundene Inschriften untermauert, die von thebaischen Soldaten unter dem Kommando eines Mauritius ausgeführte Taten um 367–375 dokumentieren. Es wäre nicht weiter ungewöhnlich, hätte man denselben Mauritius mit seinen Truppen nach Norden in Richtung Osteuropa geschickt. Die Legende von Mauritius verbreitete sich ebenfalls in Richtung Norden und erreichte das Rheintal, wo sie in die dortigen Regionalgeschichten Einzug fand.

Um zu verstehen, wie die Legende nordwärts reiste, müssen wir betrachten, auf welche Weise politische und religiöse Bestrebungen die Geschichte dieses Raums veränderten. Auf die Erosion des Römischen Reiches und die Invasion der römisch regierten Provinzen durch die Goten, die Langobarden und die Franken folgte im Zuge der Thronbesteigung Karls des Großen im Jahr 800 eine Phase relativer Stabilität. Nach Karls Tod wurden seine Territorien in jene Gebiete aufgeteilt, die heute in etwa Frankreich und Deutschland entsprechen. Das Ostreich expandierte in den folgenden dreihundert Jahren bis an die Südspitze Italiens, blieb aber durch Machtkämpfe geprägt, die König Friedrich II. – König von Sizilien, selbsternannter König von Jerusalem und von 1220 an Kaiser des Heiligen Römischen Reiches – durch Verwaltungsreformen teilweise zu befrieden vermochte. Er bleibt aber auch in Erinnerung als ein kosmopolitischer Monarch, der Juden, Türken, Araber und Afrikaner an seinem Hof willkommen geheißen haben soll. Seine Reise durch die germanische Region des Reiches im Jahr 1235 soll aufgrund der beträchtlichen Anzahl an afrikanischen Soldaten in seiner Armee Aufsehen erregt haben.33 Friedrich ernannte gar den Afrikaner Johannes Morus zum Kämmerer des Königreichs Sizilien.34 Schwarze Musiker, Bedienstete und hochrangige Gäste dürften zu dieser Zeit neben der Legende vom heiligen Mauritius den europäischen Blick auf Afrikaner beeinflusst und neu definiert haben. Die afrikanische Präsenz an europäischen Höfen während der Kreuzzüge war vom Umfang her bescheiden, aber beständig und dauerhaft genug, um erinnert und auf verschiedenen Gemälden dargestellt zu werden. Effrosyni Zacharopoulou gibt jedoch zu bedenken, dass dieser eher positive Blick auf den Einfluss von Mauritius und anderen Schwarzen Menschen an den europäischen Höfen nicht eine andere Realität verschleiern sollte: Dass einzelne Gelehrte und angesehene Gäste die Macht der christlichen Kirche akzeptierten und erkannten, änderte nichts daran, dass das christliche Äthiopien, nur weil es sich dem Einfluss Roms entzog, durch den Papst und die Kardinäle mit dem Verdikt der Häresie belegt wurde. Das christliche Nubien gelangte 1323 schließlich unter die Herrschaft eines von den Mamluken unterstützten muslimischen Königs.35

In der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts tauchten Darstellungen von Mauritius dem Afrikaner im von Kaiser Otto I. beherrschten Norden auf. Der Kaiser, auch bekannt als Otto der Große, besiegte 955 die Ungarn in der Schlacht auf dem Lechfeld und begann eine Bekehrungskampagne, die später mit der Gründung des Erzbistums von Magdeburg eine entscheidende Wende nahm. Durch das Aufstellen einer Statue des heiligen Mauritius im 13. Jahrhundert unterstrich der Magdeburger Dom seinen Stellenwert als Knotenpunkt und spirituelles Zentrum für die Expansion und Zelebrierung des christlichen Glaubens sowie als ein machtvolles Symbol für den Status der römischen Kirche. Der heilige Mauritius, mittlerweile ein Schutzpatron des Heiligen Römischen Reiches, stand für das, was noch kommen würde. Abgesehen von solchen religiösen und politischen Erwägungen sollte Magdeburg auch zu einem Mittelpunkt für Landwirtschaft und Handel werden. Die Figur des Mauritius im Kettenhemd mit einer Reproduktion der Heiligen Lanze in der Hand, einem Emblem der Reichsinsignien, sollte die von den europäischen Rittern des Mittelalters verkörperten Traditionen beschützen. Seine afrikanischen Züge stellten für Zeitgenoss*innen kein Problem dar, da er Ausdruck der grenzüberschreitenden gemeinsamen Werte war, die durch das starke Römische Reich verkörpert wurden. Der Schutzheilige war so beliebt, dass der Name Mauritius auch unter den herrschenden Eliten in Mode kam und Erstgeborene häufig nach ihm benannt wurden. Auch Stadtzentren und verschiedene andere Orte nahmen den Namen Mauritius an.36

In allen Darstellungen wird Mauritius als Afrikaner gezeigt, und seine Züge wurden bewahrt. Stefan Lochners Altarbild Dreikönigsaltar (ca. 1440, Köln), Rogier van der Weydens Bladelin-Altar (1452–55) und später Albrecht Dürers Anbetung der Könige (1504) bringen die Geschichte der Heiligen Drei Könige mit der Figur des heiligen Mauritius zusammen. Auf jedem dieser Gemälde ist einer der drei Könige ein Berber, ein Maure oder ein Schwarzer Afrikaner. Die Anbetung der Könige und jene von Mauritius verbinden sich in Lochners Gemälde, auf dem ein Afrikaner zu sehen ist, der eine »Mauritius-Flagge«37 hält. Balthasar erscheint auf mehreren Gemälden im 16. Jahrhundert als Schwarzer König, darunter in den Werken von Bartholomäus Bruyn dem Älteren und anderen Meistern, während der heilige Mauritius in Matthias Grünewalds Erasmus-Mauritius-Tafel (ca. 1520–25) erneut auftaucht. Die Verehrung sowohl Mauritius’ als auch der Heiligen Drei Könige hielt an und führte zu zahlreichen lokalen Darstellungen dieser Figuren in deutschen Regionen. Später schritt Magdeburg erneut voran, als die Stadt in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts auf Weisung Kardinal Albrechts von Brandenburg eine Büste von Fidis, der imaginären Schwester des heiligen Mauritius, anfertigen ließ.

Diese Darstellungen von Herkunft, äußerer Erscheinung und Hautfarbe in den mittelalterlichen und frühmodernen Künsten könnten als Hinweis auf eine Akzeptanz des Anderen interpretiert werden. Parallel zu solchen Darstellungen schien die Gleichsetzung von »schwarz« mit »böse« eher mit moralischen Vorstellungen zusammenzuhängen als mit Schwarzen Afrikanern. Allerdings verschob sich die Wahrnehmung in der nun anbrechenden Ära. Wissenschaftler*innen haben argumentiert, die im 19. Jahrhundert definierte Vorstellung von race sei bereits im Mittelalter hervorgebracht worden. David Theo Goldberg behauptete, am Ende des Mittelalters sei

 

race eher im Entstehen begriffen [gewesen], ohne bereits voll ausgebildet zu sein, und wurde in den Anfängen der nationalen Entwicklung vermehrt zur Flankierung der Nationenbildung heraufbeschworen. Damals bildete sich ein rassifizierendes Bewusstsein aus einer Mischung – die von diesem später wohl übernommen, wenn nicht gar ersetzt wurde – aus öffentlicher religiöser Verfassung, der Symbolik und Beschaffenheitsvorstellung des Blutes, den naturalisierenden Traditionen – der Metaphysik – von hierarchischen Ketten des Seins und den ontologischen Ordnungen in Bezug auf eine angeblich vererbbare Vernunft.38

Andere Forscher*innen haben bemerkt, dass auch eine Stadt wie Nürnberg, die im 15. und 16. Jahrhundert eine lebendige Entwicklung auf dem Gebiet der Technik, der Mathematik und der Navigation erlebte, paradoxerweise von einer relativ konservativen religiösen Interpretation der Geschichte und der Herangehensweise an sie beherrscht wurde. Man ging davon aus, die Weltbevölkerung sei in mehrere Hauptteile aufgespalten, die ihre Existenz der Abstammungslinie Noahs verdankten. So glaubten beispielsweise viele, Noahs Sohn Ham, der den nackten Körper seines Vaters sah und daraufhin mit einem Fluch belegt wurde, sei der Vorvater aller Nordafrikaner. Allerdings verband man seine Hautfarbe nicht mit einer Vorstellung von Unterlegenheit. Dürers Porträt eines Afrikaners (1508) und Porträt der Afrikanerin Katherina (1521) sind deswegen künstlerische Leistungen, weil der Zeichner in der Lage war, die Nuancen der Gesichtsausdrücke von Afrikanern festzuhalten, die sich zuvor oftmals nur durch die Färbung ihrer Gesichtszüge unterschieden. Der Zusammenhang, der zwischen »böse« und »schwarz« hergestellt wurde, war zwar offensichtlich, aber böse Charaktere wurden im 16. Jahrhundert nicht notwendigerweise mit afrikanischen Gesichtszügen dargestellt.

Dennoch regulierte das mittelalterliche Europa die Leben jener, die es als »anders« und als eine Gefahr für die Mehrheitsgesellschaft ansah, wie nicht zuletzt die gut dokumentierte Verfolgung der jüdischen Gemeinden im Mittelalter demonstriert. In England wurde beispielsweise eine Reihe von Maßnahmen beschlossen, die die jüdische Gemeinde sichtbarer machen sollten. 1215 verlangte die englische Kirche, dass Juden und Muslime Kleidung trugen, die sie von Christen unterschied. Ab 1218 mussten Juden ein Abzeichen tragen. 1222 wurde dann eine überarbeitete Version jenes Abzeichens verpflichtend, das die englische Obrigkeit geschaffen hatte, und 1290 waren sie schließlich gezwungen, England zu verlassen. Man lastete der jüdischen Gemeinde Ritualmorde an christlichen Kindern an, wobei sich Hinweise auf jene Rituale in fiktiven Geschichten fanden, die häufig mit der Realität vermischt wurden und verheerende Auswirkungen für Juden hatten. Beispielsweise wurden 1255 nach dem tödlichen Unfall eines kleinen Jungen 91 Juden gefangen genommen und einer von ihnen auf Befehl von König Heinrich III. hingerichtet. Auch wurde die jüdische Gemeinde durch die Vorstellung physischer Attribute verändert, wie dargestellt in den King’s Remembrancer Memoranda Rolls.39 Die offiziellen Schriftrollen präsentierten die Juden als eine erkennbare Gemeinschaft, die anhand von »jüdischen Gesichtern«, die stark an Karikaturen erinnerten, identifiziert werden könne.

Geraldine Heng betont, dass die Frage der race grundlegend für die Herausbildung einer europäischen Identität war. Sie stellt fest, dass das kulturelle Schaffen in der mittelalterlichen Periode mit dieser Herausbildung im Einklang stand. Zum Beispiel zeigten mappae mundi aus dem 13. Jahrhundert, wie etwa die Hereford-Karte, nicht nur Orte, sondern auch Gegenstände, Tiere und Menschen. Ihre Darstellungen von Europa sind charakterisiert durch städtische Zentren, Kathedralen und Beispiele von Stadtplanung, während diese im Rest der Welt auffällig fehlen. Asien und Afrika sind dagegen bevölkert von Ungeheuern, Menschen mit sichtbaren Gebrechen und Kreaturen, die teils Tier, teils Mensch sind, sowie von »Troglodyten, Kynokephalen, Skiapoden« und anderen Bevölkerungen, die für Europäer als abscheulich galten.40 Die Europäer wurden jedoch auch keineswegs als eine homogene Gruppe angesehen, die die Vorzüge eines höheren Intellekts genoss. Irland und seine Bewohner*innen stellte man als eine niedere race dar, die eine starke Hand benötige, um sich zu bessern. Heng weist darauf hin, dass in der Prämoderne und der Moderne verschiedene Ausgestaltungen von race und auf race basierenden Hierarchien existierten. Das mittelalterliche England hatte spezifische Ansichten über seine Nachbarn.

Karikiert als ein primitives Land – ein unentwickelter Globaler Süden westlich von England –, wurde Irland dementsprechend positioniert als ein Projekt, das evolutionärer Verbesserung und Anleitung bedurfte, um die ›wilden Iren‹ zu zwingen, […] eines Tages aus ihrem barbarischen Kokon herauszutreten in einen Zustand aufgeklärter Zivilisation.41

Die Farbe Schwarz als ein einheitliches Merkmal, das Unterlegenheit sowie die Hässlichkeit der menschlichen Erfahrungen auf der Erde repräsentierte, war ein Bestandteil der christlichen Vorstellungen von Gut, Böse und der rettenden Aussicht auf Erlösung durch die Sühne für die eigenen Sünden. Afrikanische Menschen waren Schwarz oder hatten dunkle Haut. Sie hatten die Farbe des Bösen, konnten jedoch Buße tun, Rettung erfahren und gar zu Schutzheiligen werden. Die Darstellung von Afrikanern variierte stark zwischen verschiedenen Schauplätzen in Europa. Eine der Fassaden der Kathedrale Notre-Dame in der französischen Stadt Rouen zeigt eindeutig die Hinrichtung von Johannes dem Täufer durch einen Afrikaner. Das Bildnis stammt aus dem Jahr 1260. Es bildet einen starken Kontrast zu Die Enthauptung Johannes des Täufers, einem Gemälde Caravaggios aus dem Jahr 1608, auf dem ein weißer Mann zu sehen ist, der nach einem Messer hinter seinem Rücken greift, während er den Kopf des Heiligen auf den Fußboden drückt.

Gleichzeitig tauchten Schwarze Heilige im 12. und 13. Jahrhundert in ganz Europa auf, insbesondere in Form von Skulpturen. Erin Kathleen Rowe hat das Aufkommen und die Bedeutung Schwarzer Heiliger in der mittelalterlichen und frühmodernen Kirche untersucht und sich dabei besonders den Schwarzen Madonnen wie etwa Unseren Lieben Frauen von Montserrat, Guadalupe, Tindari und Le Puy gewidmet.42 Die Entstehung dieser Heiligenbilder ist Thema langer Debatten unter Wissenschaftler*innen gewesen. Während einige behaupten, die Madonnen seien ursprünglich weiß gewesen, im Laufe der Zeit habe Zersetzung aber die Originalfarbe verändert, erklären andere, dass jene Heiligen nach der Veränderung ihrer Farbe auch als Schwarze Jungfrau Maria verehrt wurden. Weitere Forscher*innen gehen davon aus, die Madonnen seien bewusst Schwarz erschaffen worden, während andere Versionen der Maria weiß mit schwarzen Händen seien, um die Verwandlung von der Sünderin zur Heiligen zu symbolisieren, den Kampf aller Gläubigen und die transformative Kraft der katholischen Kirche – oder einfach, dass spirituelle Schönheit auch mit »weniger ästhetisch ansprechender« Schwarzer Haut einhergehen konnte.43 Rowe demonstriert, dass diesen weiblichen Darstellungen tatsächlich bereits in der Spätantike männliche Schwarze Heilige vorausgegangen waren. Im 4. Jahrhundert in Abessinien geboren, wurde Moses, auch bekannt als Moses der Schwarze, der Äthiopier und so weiter, zu einer wichtigen Figur in Westkastilien. Sein früheres Leben als Dieb und Sünder wurde genutzt, um zu zeigen, wie ein Schwarzer Mann weiß und gerettet werden konnte, nachdem er Buße getan hatte. Rowe begutachtet die sorgfältige Bearbeitung von Moses’ Geschichte und legt nahe: