Wir reden, noch

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Doch ganz abgesehen davon: „Wie kommen wir dazu, eine Konvention aufzustellen für eine Welt, die wir nicht verstehen?“ Und dabei könne man das Smartphone durchaus nicht immer als Störung, sondern auch als Bereicherung sehen. „Das Smartphone ist nun einmal nicht mehr wegzudenken. Wenn man sich entschuldigt, kann man es durchaus kurz verwenden“, sagt Svabek. Aber es hätte auch Potential, den Interaktionsraum virtuell um ein Vielfaches aufzuspannen: „Wie auf diesen innovativen Glastischen, die man schon auf verschiedenen Messen gesehen hat, über die man den Content des Smartphones quasi direkt in das Gespräch einblenden kann.“

WARUM WIR ÜBERHAUPT REDEN
(UND WAS WIR UNS DAVON VERSPRECHEN)
Es ist ja alles so zwischenmenschlich

Das Letzte, was sich nicht irgendwie auf etwas anderes bezogen hat, war wahrscheinlich der Urknall. Seitdem ist immer irgendwas. Nämlich schon da. Oder auch gewesen. Und alles, was ist, steht noch dazu nicht nur so da, sondern in Beziehung zueinander. Dinge mit Dingen. Aber vor allem auch: Menschen mit Menschen. Mit dem lateinischen Präfix „inter“ könnte man schon einiges durchdeklinieren, wie Menschen zueinander stehen, aufeinander zu- und eingehen sowie vor allem miteinander umgehen. Da gibt es einige Möglichkeiten, von denen man entlang eines durchschnittlichen Tages im Leben gar nicht allzu viele auslässt. Verschiedenste Formen von Interaktion sind es jedenfalls. Manche passieren, in manche stolpert man rein, andere sind zielgerichtet, einige sogar „fokussiert“, also direkt auf jemanden anderen bezogen, und manche fühlen sich tatsächlich so an wie ein Gespräch. Darin wird meist sogar etwas ausgetauscht. Wenn es keine Inhalte sind, dann zumindest die Überzeugung, dass man noch eine aufrechte Beziehung miteinander hat.

Der eine reagiert auf den anderen, aber der hat meistens auch schon reagiert, auf den einen. Vielleicht auch schon bei der letzten Begegnung – eine Interaktion steht nie alleine, immer im Zusammenhang – ja, es ist tatsächlich so kompliziert, wie es klingt. Aber sich aus den Zusammenhängen zu lösen, sich einfach so abzukapseln aus dem System, sich elegant herauszuwinden aus dem sozialen Geflecht, das uns auffängt wie auch gefangen nimmt, funktioniert meist auch nur temporär. Ansatzweise ist es Leuten wie Juri Gagarin, Reinhold Messner und Robinson Crusoe gelungen. Kurz hat es sie ins Weltall, in die Antarktis, auf eine einsame Insel verschlagen. Weit, weit weg von allen Steckdosen, USB-Ports und sonstigen sozialen Anschlussstellen. Aber allein alles, was vorher war an sozialem Austausch und Information, die sie selbst gesendet haben und empfangen, auch ohne es zu wollen – all das haben sie trotzdem stumm und unbewusst mitgetragen. Auch wenn man die radikale Vermeidungsstrategie fahren würde wie inzwischen geschätzte 400.000 Japaner, die man Hikikomori nennt.33 Sie entziehen sich bewusst der Außenwelt, dadurch auch der sozialen Kontakte. Insel wäre man trotzdem keine. Denn der schottische Dichter John Donne, meinte zurecht in einem Gedicht: „No man is an island.“ Und Crusoe wusste das genauso gut. Spätestens wieder seit Freitag.

Allein zu sein, das war nie eine Option. Zum Glück ist der Mensch auf das Gegenteil angelegt. Und darauf, als soziales Wesen so einiges zu teilen. Die Welt, den Alltag, die Höhlen früher, die Häuser heute, die Wege und Straßen, die von einem zum anderen führen. Hier bin ich. Und überall sind die anderen. Zwangsläufig. Alles andere wäre der absurde Plot eines Science-Fiction- oder Zombie-Films. Immer ist irgendwas. Und immer ist irgendwer. Ob in der Nähe. Oder auch weit weg. Manche von den anderen liebt man, einige mag man, bei den meisten kommt man gar nicht so weit, zu überlegen, ob es Liebe werden könnte. Man kennt sie nicht, lernt sie auch nicht kennen, sieht sie kein zweites Mal. Der Planet ist trotzdem ihre Begegnungszone. Ich bin da. Der andere auch. Wenn man nicht sofort voreinander wegläuft, der eine den anderen in die Flucht schlägt, kommt man auch mal zusammen. Ob man will: im Gesangsverein, am Stammtisch, am Campingplatz. Oder nicht: in der Straßenbahn, in der Warteschlange, beim Popkonzert. Mit wenigen wird man reden, arrangieren muss man sich mit allen. Auch wenn das heißt, dass man versucht, möglichst wenige von ihnen überhaupt zu registrieren. Und wenn doch, kann man die Beziehung zueinander noch immer austarieren zwischen körperlicher Kollision und Sicherheitsabstand. Bevor man sich mit dem anderen vielleicht doch spontan verschwört gegen Dritte, die ja hier auch irgendwo herumlaufen müssen. Das Leben ist eine Koproduktion. Dem Überleben zuliebe. Menschen koordinieren sich. Bewusst und unbewusst. Und sie kooperieren, die Intelligenz dafür haben sie von der Evolution mitbekommen. Mit jedem gibt man sich nicht ab, aber wen man später noch brauchen könnte, in der Karriere, in der Wildnis, beim Aufzugfahren, dem kann man schon signalisieren, dass Kooperation eine Option ist. Das beginnt schon damit, dass man sich grüßt. Und mit manchen Menschen wird dann sogar tatsächlich eine Beziehung daraus, die auch die Menschen selbst so nennen. Sich mit jedem anzufreunden allerdings, dafür hätte das Hirn schlichtweg zu wenig Rechenleistung übrig, das sagt zumindest eine Theorie.34 Doch mit Ausgewählten wird trotzdem etwas daraus. Mit noch Ausgewählteren sogar zum Teil so etwas wie Partnerschaft oder zumindest ein – im Facebook-Jargon – „Es-ist-kompliziert“-Verhältnis. Weil man sich extra ins Zeug gelegt hat, mit Kerzenschein, Rotwein, Selbstgebackenem und Percy Sledge. Manche Beziehungen und ungeklärte Verhältnisse beginnen auf dem Gehsteig, am Bartresen, auf der Kreuzfahrt, im Kurpark oder weil man irgendwann denselben Bus genommen hat. Damit andere soziale Beziehungen ihren Anfang nehmen, hört man sich skurrile Fragen an wie: „Wo sehen Sie sich in fünf Jahren.“ Oder man bezahlt Mitgliedsbeitrag. Doch in das wichtigste Beziehungsgeflecht, auch in das kommunikative, wird man ohnehin hineingeboren. Einfach so.

Da ist immer noch einer mehr als ich

„Es ist eine menschliche Grundbedingung für die meisten von uns, dass wir unser tägliches Leben in der unmittelbaren Präsenz von anderen verbringen“, schrieb Erving Goffman im Jahr 1983.35 Welche Menschen das sind, können wir uns nur teilweise aussuchen. Bei Bewerbungsgesprächen. Und bei der Brautwerbung. Goffman, einer der bekanntesten Soziologen des letzten Jahrhunderts überhaupt, hat einige Menschen beobachtet, wie sie miteinander in Beziehung treten. Und wie sie dabei stehen, sich positionieren, welche Haltungen sie einnehmen und wie elegant oder plump sie aus dieser Konstellation wieder hinausschlüpfen. Bei faszinierenden Alltagsspektakeln hat Goffman ganz genau hingeschaut: Wie etwa wenn sich zwei Menschen begegnen und sich gegenseitig so etwas wie „höfliche Gleichgültigkeit“ demonstrieren. Als hätte sich jeder einen Zettel auf die Stirn gepinnt, auf dem steht: „Ich sag’s gleich. Von meiner Seite ist keinerlei Konversation gewünscht.“ Und in Klammer würde stehen: „Wahrgenommen hab’ ich dich trotzdem, aber gerade deshalb gilt der erste Satz.“ Eine geschickte kommunikative Präventivmaßnahme, die man als Mensch fast immer im Repertoire hat. Auch aus einer Erkenntnis heraus: Ignorieren allein, das funktioniert nicht. Man muss den anderen schon darauf hinweisen, dass man ihn ab sofort und durchgehend ignorieren wird. Eine Performance, die gerne ausgeführt wird, etwa wenn man gemeinsam und doch nicht gemeinsam auf den Aufzug wartet. Und trotz neuer technischer Exitstrategien, wie Ear-Pods-(Kopfhörer)-in-die-Ohren-Stöpseln und Aufs-Handy-Starren, der Begegnung selbst kann man sich schwerlich entziehen. Selbst auf ehemals einsamen Berggipfeln soll das inzwischen vorkommen. Dass da noch wer anderer ist. Doch keine Panik: Der Mensch ist dafür bestens ausgerüstet worden, von der Natur. Weniger für die dünne Luft am Mount Everest, dafür umso mehr für die Begegnung und für sämtliche Kubikmeter Luft, in der sich Mensch und Mensch sonst so plötzlich gegenüberstehen könnten. Ein komplexer Kommunikationsapparat begleitet ihn, ausgestattet mit einer plumpen Signalanlage genauso wie mit einem feinpixeligen Display zwischen Haaransatz und Kinn. Aber vor allem mit einer entscheidenden Voraussetzung, der psychischen Disposition des Menschen, an der er im Normalfall gar nicht mehr schrauben muss: Kontakt aufnehmen, sich verbinden, Beziehungen pflegen – der Mensch will es so. Ein ganzes Set an Tools steht ihm dabei zu Diensten. Üppig hat die Evolution seinen körpereigenen Werkzeugkasten dafür bestückt. Alles, um dann morgens im übervollen Bus so zu wirken, als wäre er am liebsten ganz allein. Denn für die Kontaktvermeidung hat der Mensch fast genauso viele Strategien eingepackt. Um die anderen auch einmal ausgiebig auszublenden oder im unerwarteten Kontaktfall dann doch konsequent „höflich zu ignorieren“.

Doch sozial und kommunikativ scheint der Mensch zu allem fähig: Beziehungen baut er auf, pflegt sie, zieht hie und da eine Schraube nach, justiert mit der Wasserwaage nach und manchmal drückt er auch den Reset-Knopf. Um das System völlig neu zu starten. Mit wem und wie dicht Menschen ihr Netzwerk schnüren, ist einerseits eine Frage der Persönlichkeit, andererseits eine des Alters. Genauso: mit welchen Mittel und auf welchen Kanälen sie ihre Verbindungen managen. Vielleicht dann doch lieber digital, aus sicherer Distanz, im kognitiven Sparmodus. Jedenfalls verlieren die sozialen Agenden über 30 an Bedeutung. So etwas wie „soziale Promiskuität“ sagt man vor allem jenen nach, die jünger sind. Ab 30 pendelt sich die Anzahl der Menschen, mit denen man regelmäßig über Anrufe und Kurznachrichten verbunden ist, auf ungefähr 15 ein, hat man festgestellt. Und genauso viele Menschen sollen es sein, mit denen man täglich durchschnittlich in Kontakt ist.36

 

Die Gruppe ist der Ausgangspunkt des sozialen Lebens. Für jeden. Noch ein Merkmal, das Menschen verbindet – abseits von Veganismus, Haarfarbe und Lieblingsfußballverein. Tatsächlich: In allen Gesellschaften auf diesem Planeten sind Menschen in Primärgruppen verflochten. Und in diesen interagieren sie in persönlichem zwischenmenschlichem Face-to-Face-Kontakt. So lautete die ursprüngliche wissenschaftliche Diagnose. Inzwischen müsste diese ähnlich wie ein Wikipedia-Eintrag editiert werden, vielleicht in diese Richtung: „In allen Gesellschaften auf diesem Planeten sind Menschen in Primärgruppen verflochten. Und in den meisten von ihnen interagieren sie in persönlichem zwischenmenschlichem Face-to-Face-Kontakt sowie in digitalem Kontakt mit Geräten, die sich die Menschen für diesen Zweck selbst erfunden haben.“ Ein Nebeneffekt: Seit der Abnabelung als Neugeborener ist das Abnabeln noch schwieriger geworden. Kaum auf der Welt, ist man schon verknotet. Im dichten Beziehungsgeflecht. Mama! Papa! Die Einsiedelei, der Digital-Detox-Trip, die Woche im Schweigekloster – nicht mehr als die temporäre Stilllegung der Zwangsmitgliedschaft in einer globalen Kommunikationsgemeinschaft. Und wo man verflochten ist, da wird auch fleißig geknotet: an gemeinsamen Interaktionsgeschichten. Dafür wird gelacht, geschrien, gestritten, geweint. Dann wieder ausdiskutiert, sich gegenseitig ignoriert, umarmt, alles wieder verziehen. Irgendwann scheint sich heute jedoch die Kommunikationsbiografie auch in einen digitalen Verlauf abzuzweigen. Und dieser endet oft erst, wenn das Handy das aktuelle Software-Update nicht mehr mitmacht. Die Beziehungsknäuel strickt man konsequent quer durch jede Lebensphase und quer über den Planeten, quer durch das Grätzl, dicht durch die Chorgemeinschaft am Abend, locker durch den Kindergarten, zufällig durch den Hobbykeller, tief verschworen gegenüber Außenstehenden quer über den Stammtisch. Jeder der Kommunikationsknotenpunkte wird geölt und geschmiert mit Worten, Nachrichten, Status-Updates und anderen Gesten, und sogar dann und wann mit persönlichem Erscheinen und Face-to-Face-Kontakt.

Tiere, Psyche und andere Netzwerkerinnen

Doch nicht nur Liebe und Zuneigung sind Ausdrucksmittel einer evolutionären Vorbestimmung. Da gibt es auch plumpere Bindemittel. Dass ein anderer schlichtweg in der Nähe wohnt, das genügt oft schon als Grund für gefühlte Verbundenheit, dieses Phänomen haben Forscher auch schon beobachtet. Die Postleitzahl zu teilen, ist aber nur eine der Möglichkeiten. Noch enger wird die Bindung gleich, wenn man Schwerwiegendes teilt: gemeinsame Erlebnisse etwa. Und je schlimmer, je katastrophaler, desto verbindender, wie es scheint. Auch das ist Wissenschaftlern in einer Reihe von Studien aufgefallen. Mit Kriegsveteranen. Oder auch in Experimenten, in denen Elektroschocks verteilt wurden. Jene Versuchsteilnehmer, die ihnen ausgesetzt waren, mochten sich untereinander deutlich mehr als jene der Referenzgruppe. Man mag es ja kaum glauben vor lauter „Hatern“ im Netz und ganz traditionellem Offline-Hass: Tatsächlich führt eine unsichtbare Gravitation Menschen zueinander, lässt den einen den anderen suchen. Soziabilität scheint eine der wichtigsten Präsuppositionen des Lebens zu sein. Und das war sie auch schon damals, als Mensch und Tier noch nicht allzu viel voneinander unterschied. Nur dass bei einem das Hirn irgendwann nicht mehr so schnell aufhören wollte zu wachsen. „Soziales Tier“ nennt man den Menschen heute noch, vorzugsweise auch in Buchtiteln.37 Um diesen Befund auch zu untermauern, haben Wissenschaftler ihre Augen und Beobachtungen auf die Menschen gerichtet – und auf die Tiere. Vor allem haben sie sich dabei mit jenen beschäftigt, die zu derselben biologischen Ordnung zählen: die Primaten. Auch sie haben gewusst: „Wir“ funktioniert besser als nur „ich“. Eine Erkenntnis, die schützt. Gegen Jäger und Fressfeinde. Sowie vor dem Verhungern. Denn mit anderen gemeinsam sichert man sich ab: gegen die Gefahr, dass Ressourcen und Reserven auch mal knapp werden könnten. Schließlich organisieren sich neue gemeinsam leichter. Ganz abgesehen von den Fortpflanzungsoptionen, die sich durch ein „Wir“ multiplizieren. Die Gruppe ist das Lebensmodell der Wahl. Die Werkseinstellung des Menschen ist deshalb: sozial. Die Evolution hat den Menschen darauf kalibriert. Auch schon als er Primat unter Primaten war. Und heute in der aktuellsten Version, ist er es noch immer. In einer Gruppe zu leben, war damals schon anstrengend. Außerhalb einer Gruppe zu leben, lebensgefährlich. Die Kosten-Nutzen-Rechnung der Evolution zeigte unterm Strich: Es ist besser so. Und die Evolution kalkulierte immer ganz genau. Denn was sich Kühlschränke und Wohnhäuser heute erst zertifizieren lassen müssen, das Gehirn war schon stets darauf eingestellt – Energieeffizienz.

Bindungen belohnen: mit Essen, mit Überleben überhaupt. Und heute belohnen Mittagessen mit Kollegen, Spielen mit den Kindern, Polterabende mit Freunden genauso: mit guten Gefühlen. Das Belohnungszentrum im Gehirn schütten sie für uns aus. Denn das Hirn ist schlau und – wie immer – am eigenen Vorteil interessiert: Wenn sich etwas gut anfühlt, will man mehr davon. Egal ob Zucker oder Anerkennung. Für das Hirn kann gar nicht genug geflochten werden am sozialen Netzwerk. Denn die Fähigkeit, in Gruppen zu leben, war vielleicht der wichtigste Überlebensfaktor überhaupt. Wer kooperieren konnte, harmonische Sozialbeziehungen installieren und pflegen, der hatte schlichtweg eine bessere Prognose, Gruppenmitglied zu bleiben. Und damit eine bessere Prognose zu überleben. Bonobos, Wale und Krähen kooperieren auch. Nur haben wir Menschen das System perfektioniert. Und können heute sogar in WGs miteinander leben. Theoretisch.

Die psychischen Funktionen des Menschen scheinen also darauf ausgelegt, Kontakt aufzunehmen und Kanäle zu installieren, über die man Beziehungen pflegt. Inzwischen ist sogar eine Disziplin davon überzeugt, die nicht unbedingt jede Drehung und Wendung der Ideengeschichte mitgemacht hat: die Psychoanalyse.38 Der Psychoanalytiker Martin Altmeyer nennt die Psyche sogar eine „dynamische Netzwerkerin“. Und als solche „vermittelt sie zwischen Innen und Außen, Selbst und Anderen, Ich und Realität, Trieb und Kultur, Individuum und Gesellschaft.“39 Ursprünglich hatte sich ja gerade die Psychoanalyse auf den „primären Narzissmus“ eingeschworen, darauf, dass ein Säugling – fast mit autistischen Zügen – auf nicht viel mehr in der Welt bezogen wäre als auf sein gefühltes Zentrum: auf sich selbst. Doch die Haltung hat sich gedreht. Altmeyer beschreibt es als „intersubjektive“ Wende. Der Säugling sehne sich nach zwischenmenschlichem Kontakt, gleich nach der Geburt. Genauso wie nach Austausch mit seiner Umwelt. Ein „psychisches Grundbedürfnis nach Zusammengehörigkeit“40 wird ihm konstatiert. Und noch dazu über so etwas wie eine Grundausstattung zu verfügen, diesem Bedürfnis umso leichter nachzugehen: ein „implizites Beziehungswissen“. Und noch dazu: ein lautes Organ, um Kontakt herzustellen. Aber auch Menschen dazu zu bringen, etwas zu tun. Eine höflich formulierte Bitte kann nie so effizient sein wie ein Babyschrei.

Ein sozial überaus talentiertes Tier wächst mit dem Menschen heran, eine Prädisposition begleitet ihn: nämlich jene, „mit anderen Wesen in Kontakt zu sein“, wie es Giorgia Silani ausdrückt. Sie forscht und lehrt am Institut für Klinische und Gesundheitspsychologie der Universität Wien. Wenn Kindern der soziale Kontakt verweigert wird, erklärt sie, erzeuge das Stress. Reagiert das Gesicht nicht, in das sie schauen, geraten sie vollends aus der Fassung. Zum Glück haben sie einiges im Repertoire, damit sie einen Respons bekommen. „Ein System, das das Überleben sichert“, sagt Silani. Dazu gehören auch Fähigkeiten, von denen man als Erwachsener oft gar nicht mehr weiß, dass man diese noch immer jeden Tag einsetzt: den anderen zu imitieren. Säuglinge strecken die Zunge raus, lächeln zurück, schon bald nach der Geburt. Auch ihre Augen richten sich dorthin, wo die der anderen hinschauen. Denn gerade dort könnte es ja interessant, spannend bis lebensbedrohend werden. Oder es könnte ein anderer stehen, mit dem man wieder einen neuen Kontakt aufbauen könnte. Das Gehirn kann nicht genug kriegen von sozialen Interaktionen. Damit es schließlich zu dem werden kann, als was es einigen Experten zufolge heute vorwiegend fungiert: als ausgesprochenes „Beziehungsorgan“.41

Die offenkundige Suche des Kindes nach Bindung und Beziehung begleitet noch eine andere Mission: Nämlich Spiegel in der Außenwelt zu entdecken, in denen sich das Kind wiederfindet. Und der erste und maßgeblichste Spiegel, in den das Kind schaut, sei die Mutter, meinte Donald Winnicott. Drastisch formulierte er es so: „Das Gesicht der Mutter ist der Vorläufer des Spiegels.“42 Die erste der vielen „Das-bin-ja-ich“-Erfahrungen, bis schließlich die Erkenntnis einsickert, dass sich die Welt doch teilt in eben – „ich“ und „die anderen“. Jedenfalls sucht der Säugling Gesichter, die ihn anstarren und anlachen, als Spiegel, weil auch er Beweise braucht: „Jene, um zu wissen, dass man als Wesen erkannt worden ist“, schreibt Martin Altmeyer. Spätestens dafür erfüllt der andere, mit dem man den Planeten teilt, seine Rolle. Wenn dann geklärt ist, wer Spiegelbild ist, man selbst und der andere, kann das Kind umso emsiger beginnen, sich zu verflechten mit allen in der Welt, die nicht sein Spiegelbild sind. „Die zeitgenössische Psyche ist eine soziale Netzwerkerin“, meint Altmeyer.43

Hört mich denn niemand?

Als Baby hat der Mensch schon gelernt: Nicht alles, was da zurückkommt vom Spiegel und dem Universum, ist er selbst. Aber abhängig von dem Respons, den er empfängt, ist er trotzdem. Und all das, was seine Antennen aufnehmen, muss das Gehirn erstmal verarbeiten. Auch wie die anderen Menschen mit ihm reden, wie sie sich dabei verhalten, all das verinnerlicht der Mensch und macht es zur Grundlage seiner eigenen Kommunikationskonzepte. Ohne den Gesprächsinput von anderen könnte man wahrscheinlich auf einer einsamen Insel keine Selbstgespräche führen. Denn selbst wenn der Dialog ein innerer ist, nimmt man Rollen und Perspektiven ein, die man so oder so ähnlich schon mal bei anderen wahrgenommen hat. Auch ganz allein heißt das Spiel scheinbar „Ich und der andere“. Und selbst dort, wo man denkt, man hätte sich endgültig ausgeklinkt aus allem, bleibt man verbunden: Durch all das, was man zuvor erfahren und erlebt hat, sozial vor allem, durch die Interaktionen mit anderen. Sämtliche Personen, mit denen man in Kontakt war, hat man als Backgroundchor im Kopf, auch wenn man allein vor sich hinschweigt und die Gedanken dem Mund das Reden abnehmen. Kein Wunder, dass man dem Denken generell auch eine dialogische Struktur nachsagt. Besonders überzeugt davon war etwa Platon, der meinte: „Denken ist das Gespräch der Seele mit sich selbst.“ Und das Reden mit anderen ist der Anfang von allem, was sich später einmal ausformulieren soll: „Wir müssen, um zu denken, mit anderen gesprochen haben“, beschrieb es der Psychiater Thomas Fuchs in einem Interview mit dem Magazin „brand eins“.44

Doch die einsame Insel, so vertieft ins Selbstgespräch, das ist nicht die Idealsituation. Denn so ungehört verhallen im Universum, das will keiner. Ein Respons, ein Echo, das wäre das Mindeste. Und mit dem Stehsatz „Gar keine Antwort ist auch eine Antwort“ gibt man sich ungern ab. So gar kein Feedback, das lässt ratlos zurück. Auch im WhatsApp-Dialog. Denn der Wunsch, etwas zurückzubekommen, ist schließlich auch der Grund für das In-den-Wald-Hineinrufen. Babys kommen auf die Welt und haben schon die erste Antwort: Einfach darauf, dass sie jetzt da sind. Im Idealfall sogar ein sehr direktes Feedback: Sie werden in den Arm genommen, gewogen, gestillt womöglich. Und haben dabei stets gleich ihren ersten Spiegel vor Augen, die Mutter. Und ist er einmal nicht vor Augen, dann schreit man einfach nach ihm. Auf diese intersubjektive Ausgangslage des Menschen hat sich nicht nur die Psychologie eingeschworen, sondern längst auch die Soziologie. Auch einer ihrer prominentesten deutschsprachigen Vertreter der letzten Jahre, Hartmut Rosa, vor allem in Form eines Konzepts, das der digitalen Sphäre auch einen Spiegel vorhält: das Konzept der „Resonanz“.45 Zugegebenermaßen ein Spiegel, in den Digital-Enthusiasten nicht allzu gerne schauen. Denn mit jenem Begriff nähert sich Rosa den Formen und Möglichkeiten, wie Menschen mit der Welt in Beziehung treten. Und sich dabei womöglich mit ihr auch noch harmonisch einschwingen. Dabei knüpft Rosa, wie er selbst schreibt, auch an einen Ansatz des US-amerikanischen Soziologen Randall Collins an, der die menschliche Ausgangsposition wiederum so umriss: „Die Evolution beim Menschen hat zu einer besonders hohen Empfänglichkeit für mikrointeraktive Signale von anderen Menschen geführt.“46 Aber auch noch zu ganz anderen Möglichkeiten, die Frequenz mit anderen Menschen abzugleichen. Nicht umsonst sei die Empathieforschung zum Schlüsselthema der Kognitionswissenschaften geraten, schreibt Rosa. Die spektakuläre Fähigkeit, sich in die mentalen Zustände anderer Menschen hineinzudenken und einzufühlen, beschäftigt die aktuelle Psychologie intensiv. Auch in den Untersuchungen, die sich mit der sogenannten „Theory of Mind“47 auseinandersetzen. Auch so ein Mechanismus, den der Mensch nicht einmal extra anwerfen muss, wenn er einem anderen begegnet: Unentwegt nimmt man die Perspektive von anderen ein, entwickelt für sich selbst eine Theorie, was im Gehirn, dem man da gegenübersteht, gerade los sein könnte.

 

Wenn man mit digitalen Kommunikationskanälen in die Welt hineinruft, erhofft man sich dasselbe wie Babys, wenn sie schreien: ein Echo. Oder ein Feedback. „Soziale Medien zeigen sehr schön die Sehnsucht der Menschen, resonant mit der Welt verbunden zu sein“, erklärte Rosa in einem Interview mit „heise online“.48 Digital kann man dieses Grundbedürfnis ziemlich effizient stillen. Bis zur nächsten Hungerattacke. Die kommt meist schnell, das digitale kommunikative Weißbrot scheint nicht richtig satt zu machen. Doch für den Moment befriedigt ein Gedanke: Lieber geliket als gar nicht geliebt. „Wir wollen nun mal gehört, gesehen, wahrgenommen werden. Und wir wollen Spuren hinterlassen im Internet“, meint Rosa.49 Früher musste man noch die passende Gelegenheit abwarten, um sein Feedback abzuholen. Und dann war es noch immer nicht klar, ob es auch so ausfällt, wie man sich das wünscht. Auf digitalem Weg kann man seinen eigenen Botschaften schon den richtigen Drall mitgeben, damit sie von der Welt da draußen auch wie erwartet zurückgespielt werden. Und noch dazu kann man rund um die Uhr von überall aus nach Feedback angeln. Verlässlich trudeln die Belohnungshäppchen ein, schon das sanfte Vibrieren reicht, dass man weiß, man wurde wahrgenommen. Das Hirn bedankt sich dafür mit Dopamin.

Doch das Internet hat einen klaren Nachteil gegenüber einem Nobelpreis und der Gründung einer Stadt: Online kann man sich nur Nachhallhäppchen abholen. Nachhaltig ist dieses Echo nicht. Deswegen muss man auch immer wieder in die Keksdose greifen. Eine befriedigende Weltbeziehung in der Diktion von Hartmut Rosa etwa, eine Empfindung von tatsächlicher „Resonanz“ wird daraus nicht. Nicht wenn sich im digitalen Weltkontakt ständig ein Screen oder ein Display dazwischenschiebt. Denn: „Bildschirme sind so etwas wie Resonanzkiller“, sagt Rosa.