Wir reden, noch

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Digital verwirrt, bedroht, gefährdet





Es ist viel passiert. Und ja: Es war schon einiges auf einmal. Da darf man sich schon mal verwirrt, verloren, verunsichert fühlen. Vor allem weil man dachte, dass einem die Welt und alle in ihr plötzlich so viel näher stehen. Warum fühlt man sich manchmal gerade dann einsam, wenn man seinen Freunden beim Leben auf Instagram zuschaut? Oder so im Stich gelassen, wenn man bei Unternehmen ausnahmsweise etwas deponieren will, was keine Bestellung ist, sondern so etwas Unbeliebtes wie etwa eine Beschwerde? Warum ist das Online-Kontaktformular plötzlich die einzige Möglichkeit, sich zu verbinden? Und warum heißen meine Ansprechpartner vor dem @ plötzlich ganz anonym „info“ und „office“ und duzen mich trotzdem zurück? Oder warum nennen sie sich Susi und Angela, obwohl sie keine Menschen sind? Sondern Plauderautomaten. Muss ich zu Chatbots eigentlich höflich sein? Darf man sie anschreien?



Da muss man sich auch erst wieder einmal zurechtfinden im ganzen Chaos der neuen Möglichkeiten. Sicherheitshalber vermutet man ja gern einmal das Schlimmste. So ganz allgemein für die Zukunft, die Jugend und unsere Gehirne. Faul und dumm ist das Mindeste, was das Internet aus uns macht. Das behaupten Psychiater, Neurowissenschaftler, Medienschlagzeilen. Natürlich ist das Hirn der Menschen das erste Opfer der Digitalisierung. Die soziale Kohäsion könnte gleich das Nächste sein. Doch wenn wir uns lieber auf optimistischere Meinungen berufen, dann haben Gehirne und Gehirngemeinschaften trotzdem eine Chance. Vielleicht ist ja alles auch ganz normal. Das durchaus so positiv zu sehen, dazu hätte auf jeden Fall etwas geholfen: ganz einfach in die ganze Sache hineingeboren zu sein. Der britische Science-Fiction-Autor Douglas Adams meinte das zumindest. Noch in der Phase des digitalen Mittelalters, im Jahr 1999. „Everything that is already in the world while you are born is just normal.“

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 Alles, was nach der Geburt erst erfunden wird, daran müsse man sich eben gewöhnen. Und je älter man wird, an umso mehr Dinge muss man sich gewöhnen. Denn umso mehr Dinge sind während der Lebensspanne erfunden worden. Was neu auf die Welt kommt, während man selbst schon 30 Jahre da war, bringt einen erstmal völlig aus dem Konzept, meint Adams. All das sei „against the natural order of things and the beginning of the end of civilization as we know it“. Nachdem man sich zehn Jahre mit dem Neuen auseinandergesetzt hätte, wäre es auch schon wieder „ganz okay“. Mit anderen drastischen Wendungen war es ja nicht anders: Zuerst hat man sich ziemlich gefürchtet, dann akzeptiert, was sich nicht ändern lässt, dann sogar daran gewöhnt und irgendwann will man ohnehin gar nicht mehr ohne leben. Bis zum nächsten dramatischen „Turn“: Plötzlich will keiner dabei gewesen sein, als etwa das Auto jahrzehntelang Gesellschaft und Umwelt gleichermaßen zerfurchte. Doch so gefährlich, wie alle tun, kann es doch nicht sein. Vom sauren Regen spricht doch auch keiner mehr. Aber ganz schön ernst klingt es trotzdem: Eine amerikanische Gehirnforscherin hat zumindest die Digitalisierung als den nächsten „Hot Shit“ der menschlichen Bedrohungen identifiziert. Susan Greenfield setzt sich seit Jahren mit „Screen Technologies“ auseinander. Nur den Klimawandel hält sie für ähnlich bedrohlich wie die Digitalisierung. Sorgen macht sie sich vor allem um die Gehirne und darum, was mit ihnen passiert, wenn sie sich zum größten Teil mit „Screens“ beschäftigen als direkt mit der Welt selbst.

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 Für Greenfield steht zumindest fest: Die Gehirne sind jetzt definitiv schon andere als noch vor der Digitalisierung.



Sicherheitshalber bekamen in den letzten Jahren doch einige Autoren publizistische Panikattacken. Dabei sind sie mit ziemlich drastischen Prognosen und Stichwörtern aufgefahren: „Digitale Demenz“ war nur eine der populärsten Diagnosen, die Psychiater und Neurowissenschaftler Manfred Spitzer auch als Buch gut verkauft hat.

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 Inzwischen sind die kritische Haltung und der Kommunikationskulturpessimismus an einem Punkt angekommen, wo man die „Funktionsstörung“ und den „Störfall“ nicht in der Technik vermutet, sondern beim Menschen, der diese Technik verwendet.

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 Die Umbrüche zeigen sich nicht nur stilistisch in den Dialogen auf dem Smartphonedisplay, sondern mindestens auch in dem, was in gewissen Gehirnregionen so los ist. Aber nicht nur im Gehirnscanner meinen Neurowissenschaftler Verstörendes zu sehen, sondern auch in der Zukunft. In ihr sehen die besonderen Pessimisten einsame, bindungsunfähige Menschen wandeln. Und dazu Kinder, die keine Emotionen mehr aus Gesichtern lesen können, dafür in Emojis. Die Freundschaften schließen sie über Online-Games, nicht im Kindergarten. Und verbal werden sie auch emotional nicht viel mehr äußern können als ein universelles „What the Fuck“ oder „I like“. Dafür können sie wahrscheinlich Kurzgeschichten mit Emojis erzählen. Auch gut, aber nicht ganz optimal, um sie dann mit der etwas älteren Generation zu teilen.



Schädlich zu sein, das gehört noch zu den netteren Diagnosen, die man den sozialen Medien so stellt. Manche halten sie dagegen für richtig kriminell. Und unterstellen ihnen sogar bisweilen böse Absicht. Wenn sie etwa „Entführer“ sind, die es hauptsächlich auf eines abgesehen haben: auf unsere Aufmerksamkeit. „Our minds can be hijacked“, verkündete etwa Justin Rosenstein.

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 Einer der Kidnapper: Facebook, das Unternehmen, für das er selbst tätig war. Das Bewusstsein werde fremdgesteuert, sagt Rosenstein. Noch schlimmer als Facebook sei aber ohnehin Snapchat. Heroin wirke auch nicht viel anders, meint einer, der eine der Drogen selbst im Labor mit abgemischt hat. Früher war Rosenstein in einer Arbeitsgruppe, die den „Like“-Button für Facebook entwickelt hat. Heute gehört er hingegen zu einer Gruppe, die auch nicht viel kleiner ist: jene der Silicon-Valley-Häretiker. Ehemalige Technologievisionäre, die heute nur mehr schwarzsehen. Allesamt Menschen, die jetzt vor den Monstern warnen, die sie selbst mit großgezogen haben. Für die großen Internetkonzerne waren sie aktiv, geläutert holen sie heute ihre Kinder aus der Waldorfschule in Silicon Valley ab und verspüren Schuldgefühle: Wie etwa auch der ehemalige Facebook-Vizepräsident, der das schlechte Gewissen, das ihn plagt, gerne als „Tremendous Guilt“ in den Medien verlautbart. Chamath Palihapitiya heißt er. Bis 2011 arbeitete er bei Facebook. Heute zerreißt es ihm fast das Herz, wie sehr Facebook seinerseits „das soziale Gewebe zerreißt und alle Regeln, wie die Gesellschaft bis dahin funktionierte“.

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 Teuflische dopamingesteuerte Feedbackschleifen fangen die User ein. Die Konsequenz: die Grundfesten der Gesellschaft zerbröseln. Gemeinsam mit der Basis, wie sich Menschen seit jeher mit- und zueinander verhalten haben. Auch nicht freundlicher rechnet wiederum ein anderer Facebook-Veteran mit seinem ehemaligen Arbeitgeber ab: Die Grundlage seines Erfolgs soll eine perfide Fragestellung gewesen sein, behauptet Sean Parker: „Wie konsumieren wir so viel Zeit und bewusste Aufmerksamkeit wie möglich?“

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 Klingt alles weniger nach Kollateralschaden als nach bewusster Manipulation, was da mit der Gesellschaft passiert. Auch der New Yorker Autor und Psychologe Adam Alter sieht das so: „Wir sind nicht hineingerutscht. Wir wurden geschubst.“

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 Facebook, Instagram und Twitter holen sich die Aufmerksamkeit mit psychologischen Tricks. Um dem User gar nicht erst die Gelegenheit zu bieten, sich auch einmal ausklinken zu können. Die Folge: Soziale Medien wirken wie Drogen. „Digital Junkies“ geistern durch eine Welt, zu der sie selbst den Kontakt verlieren, weil sie ihre eigene nicht mehr so recht verlassen.

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 Absurd scheint es jedoch, dass gerade jene, die uns abhängig gemacht haben, inzwischen auch erlösen wollen. Ein Drogenkartell mit eigener Entgiftungsabteilung: Google & Co. schicken ihre User auf „Digital Detox“. Ähnlich verwirrt war man zuletzt, als McDonald’s plötzlich Salat im Angebot hatte. Die Konzerne, die konsequent unsere Gehirne angeblich mit heimtückischen Strategien zersetzten, gerieren sich plötzlich als extrafürsorglich. Google etwa rief 2019 seine „Digital Wellbeing Experiments“ aus. Ein Substitutsprogramm für alle, die in die digitale Abhängigkeit geschlittert sind. Eine Ausformung davon hieß „Desert Island“, eine App, die auf dem Gedankenspiel „Was würdest du auf eine einsame Insel mitnehmen?“ basiert. Denn man darf die nächsten 24 Stunden nur mit drei Apps verbringen. Und weil Google – ach – so besorgt ist, hatte der Konzern gleich noch eine absurde Idee: Das Google Paper Phone. Auch eine App, die Krönung der Verhöhnung. Alles, was man so für den Tag brauchen könnte, druckt man sich einfach aus und faltet es auf Smartphonegröße zusammen, den Wetterbericht, den Stadtplan, den Kalender. So soll man ohne Suchtverhalten durch den Tag kommen. Auch die Online-Verkaufstheke für virtuelle Ware, der App-Store, füllt sich mit Apps zur freiwilligen Selbstkontrolle. Oft kriegt man noch ein paar einfühlsame Worte in der Beschreibung dazu. Wie etwa von der App „Moment“, die uns gleich zu verstehen gibt, dass wir jetzt ganz stark sein müssen. „Wir verstehen, dass dein Handy dein Leben ist“, liest man dort. Damit man leise für sich selbst ergänzt: „Aber es macht dich depressiv und einsam. Sorry.“ Mit „Moment“ soll genau dieser wieder einem mehr selbst gehören als den Interessen einer Datenindustrie. Die App zeichnet einfach die Häufigkeit und Dauer der Handynutzung auf. Dabei gibt es auch Ansätze von analogen Lösungen, sich dem Sog der digitalen Kommunikation zu entziehen. Einen Vorschlag dafür hat etwa der Wiener Designer Klemens Schillinger entwickelt. Ursprünglich als künstlerische Position im Rahmen einer Ausstellung für die Vienna Design Week, das „Substitute Phone“. Die einzige Funktion, die es in sich trägt: Man kann es in der Hand halten. Es fühlt sich so an wie ein Smartphone und es ist auch genauso schwer. Ah ja: Man kann auch über Steinkugeln streichen, die statt eines Displays auf dem Gerät angeordnet sind. Ein analoger Gegenvorschlag zum digitalen Wischen. „Stein ist für mich auch das analogste Material, das es gibt“, sagt Schillinger. Und das „Substitute Phone“ tut, was es tun soll: Es beruhigt. Zwar nur den „User“, nicht die Experten, die sich um ihn und die Gesellschaft als Ganzes Sorgen machen. Ein Besuch in Japan hatte den Gestalter zur Idee geführt. Dort hatte Schillinger eine Beobachtung beeindruckt und verstört zugleich: die stumme, dystopische Choreographie, mit der die Menschen in der U-Bahn über ihre Handydisplays wischen – Telefonieren ist in Tokio in der U-Bahn verboten. Und noch etwas sei ihm aufgefallen, wie Schillinger erzählt. Dass Umberto Eco „ständig an einem Holzstaberl kaute, als er sich das Rauchen abgewöhnen wollte“. Ein beruhigendes Substitut muss her, dachte sich der Designer.

 



Der digitalen Nähe-Distanz-Paradoxie hat etwa auch die amerikanische Soziologin Sherry Turkle nachgespürt, in einigen Büchern, die man am Ende nicht unbedingt optimistischer zuschlägt. Allein „Alone together“

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 erzählt davon, wie Jugendliche zusehends verarmen, in ihren sozialen, realen Beziehungen. Und auch in ihren sozialen Kompetenzen. Turkle traut den Jugendlichen nicht einmal mehr zu, dass sie sich an einer Konversation sinnvoll beteiligen könnten, wenn sie zufällig doch in eine geraten. Die Aufmerksamkeitsspannen seien dafür einfach schon zu kurz.



Aber schön doch, dass die Gehirne so anpassungsfähig sind. Ohnehin haben sie sich schon an eine Menge gewöhnen müssen. Jedes neue Medium mischt wie selbstverständlich die Nutzungskultur neu ab. Ein wenig verflucht und gefürchtet zu werden, gehört einfach zum Auftritt auf der Bühne der Gesellschaft dazu. Auch dem Roman im 18. Jahrhundert ist das so ergangen, wie auch der Zeitung im 19. Jahrhundert. Und im 20. waren schließlich die technischen Geräte die Vorboten des Untergangs. Denn bewährt hat sich: Sich etwas nicht so schlimmzureden, indem man es zunächst möglichst schlechtredet. Dafür haben Kommunikationswissenschaftler die Defizit-Hypothese parat. Diese meint, dass Innovationen in den Kommunikationstechnologien vor allem eines im Schilde führen: Irgendwie zu versuchen, ihre Nachteile und Schwächen gegenüber der Face-to-Face-Kommunikation zu kompensieren. Etwa so: Das mit der nüchternen Informationsübertragung, das klappte ja schnell schon ganz gut in der digitalen Sphäre. Aber die Emotionen, die schafften kaum den Sprung. Dafür sind dann eben die Emoticons, später die Emojis, kurzerhand eingesprungen.



Irgendwann hat jedes Medium seine Nische gefunden. Auch damit die Menschen später wieder darauf zurückkommen dürfen, aus nostalgischen Gründen oder weil man plötzlich Qualitäten vermisst, die sich vielleicht doch nicht so leicht digital kompensieren lassen. Bei vielen liegt ja inzwischen auch die Füllfeder wieder neben der Computertastatur am Schreibtisch, wie man aus Lifestyle-Medien so hört. Und auf „Face-to-Face“ kommt man scheinbar ohnehin ständig wieder zurück, wenn online gar nichts mehr geht. Während man sich gerade damit abfindet, dass etwas wie FoMO (Fear of Missing Out) die jüngere Generation beschäftigt, scheint die Zeitgeistkurve ansatzweise ohnehin wieder in die entgegengesetzte Richtung abgebogen: hin zur demonstrativen Freude daran, eben nicht alles mitzukriegen: „The Joy of Missing Out“ heißt das dann.

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 Die Vorlieben der Menschen bewegen sich in Loopings. Irgendwann kommen sie ohnehin wieder zurück auf das, was ursprünglich ganz selbstverständlich war: wie saisonal zu essen, was vor der Haustür wächst. Oder etwa in Überschwemmungsgebieten keine Häuser zu bauen. Beim miteinander Reden wird das genauso sein, malen die Optimisten die Zukunft der Kommunikation hell und zartrosa. Solange Face-to-Face-Kommunikation auch besser schmeckt und länger satt macht, sind viele digitale Chats dabei wahrscheinlich nicht mehr als die Mise en Place des späteren, eigentlichen Showdowns: Wenn man sich dann schließlich tatsächlich gegenübersitzt und dabei so viel Spaß hat, dass man ziemlich viele Smileys bräuchte, um das Gefühl auch digital zu „sharen“.



Außerdem haben Forscher die Face-to-Face-Kommunikation ohnehin noch rechtzeitig als unersetzbar einzementiert, bevor sie zu arg ins Wanken geraten hätte können. Wie etwa mit jenen Aussagen von Gebhard Rusch von der Universität Siegen, Institut für Medienforschung, der die „Unverzichtbarkeit und Nichtsubstituierbarkeit der Face-to-Face-Kommunikation“ festgestellt hatte. Das war allerdings lange vor Facebook, Instagram und sinnvollen Video-Online-Konferenzsystemen. „Selbst für die Kommunikation im Cyberspace bleibt die regenerative Erfahrung der Face-to-face-Kommunikation als Basis menschlicher Verständigung und Kreativität notwendig“, meinte Rusch.

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 Gut, dann hat man das einmal fixiert fürs Erste. Die Face-to-Face-Kommunikation bleibt unantastbar. Wie beruhigend. Aber wie verlässlich Prognosen sind, weiß man ja spätestens seit Kaiser Wilhelm, Bill Gates und Matthias Horx. Auf eines haben wir uns zumindest eine Zeit lang, ein paar tausend Jahre, verlassen können: dass wir wissen, wie man miteinander redet. Und was man dafür benutzen kann. Wir wussten, wie Gespräche funktionieren und dass da ein Gegenüber war, selbst wenn wir es irgendwann nur noch hörten, statt es zu sehen. Sogar wie man ein Gespräch anbahnt und ordentlich beendet, hat man sich abgeschaut, bei Mama, Papa, Lehrer, Peergroup. Mit den Zeichen, die längst ausverhandelt waren, bevor wir sie selbst mit Bedeutungen belasten konnten, wussten wir genau, was wir damit anrichten können. Mit Lesen- und Schreibenlernen, glaubte man schon, hätte man das Wichtigste erledigt. Für den Rest sind manche in die Tanzschule gegangen oder haben sich ein bisschen auf Gefühl und das, was man gern Hausverstand nennt, verlassen. Oder man hat es sich von Menschen erklären lassen, die einem vertrauenswürdig schienen. Wie etwa Adolph Freiherr Knigge. Schon er gab dankenswerterweise ein paar Hinweise für Situationen, in denen sich Mensch und Mensch in Ruf- und Sichtweite voneinander durch die Welt bewegen. Knigge hat manches formuliert, was heute als anachronistisch oder inzwischen ganz selbstverständlich gilt. Sätze, die man auch heute am eigenen Leib nachfühlen kann. Wie etwa: „Umarme nicht jeden. Drücke nicht jeden an dein Herz.“

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 Denn das würde ja die Umarmung irgendwie auch entwerten, meinte er. Was hebt man sich auf für jene, auf die man sich wirklich das ganze letzte Jahr gefreut hat? Jedenfalls hat man ziemlich viele Übereinkünfte in der Kommunikation allein dadurch unterschrieben, dass man einfach in ihre Kultur hineingeboren wurde.







Lesen, schreiben, digital kommunizieren





Umgangsformen regeln, wie man Zeichen miteinander austauscht. Dabei sind nur ein kleiner Teil davon die sprachlichen. Der Begriff „Konversation“ hat früher überhaupt den Umgang miteinander beschrieben, nicht nur jenen, den man durch ein Gespräch pflegt. Inzwischen machen sich kleine Unsicherheiten breit, nicht nur darüber, ob die Zeichen, die man sendet, überhaupt ankommen. Sondern auch darüber, was es für den anderen bedeutet, wenn man sie sendet. Vor allem wenn man sie nun quer durch alle Uhrzeiten des Tages und Kontinente des Planeten verschicken kann. Schneller, als man denkt, ist man beim letzten Update wieder zum kommunikativen Analphabeten geraten. Zum Glück will da auch manche offizielle, staatlichen Stelle entgegenwirken: Indem sie etwa „Digital Literacy“ großspurig als Ziel der Volks- und Allgemeinbildung ausgibt – also die Kompetenz, Informationen adäquat über digitale Plattformen zu verfassen, zu senden, zu finden und zu bewerten.

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Die Digitalisierung der Kommunikation, sie ist nun mal ohne Gebrauchsanweisung eingerauscht. Und so drastisch und so schnell, dass man gar nicht sanft überleiten konnte, von der einen in die andere Ära. Netterweise haben viele der digitalen Kanäle zumindest eine ganz typische Designstrategie verwendet, um das Neue nicht ganz so furchterregend wirken zu lassen. Man tat einfach so, als wäre man irgendwie ohnehin noch analog. „Skeuomorphismus“ heißt der Ansatz im Design, bei dem man versucht das „Neue“ zu etablieren, indem man das „Alte“ zitiert. Bei Auto und Kutsche hat das auch schon einmal geklappt. Ansonsten hätte man den Briefkasten für Sprachnachrichten nicht Mailbox genannt. Oder den Papierkorb einfach dorthin versetzt, wo es gar kein Papier mehr gibt: auf den „Desktop“ des Computers, den Schreibtisch, der ja selbst auch keine vier Tischbeine mehr hat und niemals wackelt. Auf ihm jedenfalls stehen die „Ordner“, in die man alles ablegen kann. Und die nur auf der Festplatte Platz brauchen, nicht im Regal. Auch die Sprechblasen auf dem Handydisplay suggerieren: Hier wird noch geredet, obwohl längst geschrieben wird. Nur eines ließ sich scheinbar nicht so leicht in die digitale Ära übertragen: die Benutzungskultur der Sprache und der analogen Kommunikationskanäle.



Was durchaus leichte Verwirrungszustände zurücklassen kann. Selbst bei jenen Menschen, die andere beobachten – aus wissenschaftlichen Gründen. Und eigentlich den unausgesprochenen gesellschaftlichen Auftrag bekommen haben, das alles für uns einzuordnen, was sich da so rasant dreht und wendet – im Feld der Kommunikation. Doch gerade waren die Soziologen noch damit beschäftigt zu ergründen, was die „Mediatisierung“ der Gesellschaft bedeutet, widmen sich dieselben Soziologen schon der „De-Mediatisierung“. Untersuchen also, wie sich Menschen der ständigen digitalen Verbundenheit entziehen. Zu definieren gibt es jedenfalls für die Forschung noch eine Menge: Was ist denn überhaupt noch eine Interaktion? Und ist eine Situation auch noch sozial, wenn der eine Interaktionspartner gerade an der Supermarktkassa steht und der andere am Strand? Vor allem aber: Unter welchem Namen kann man das alles in der Schublade verstauen – all diese Kommunikationsformate? Auf „mediatisierte Kommunikation“ hat man sich schließlich geeinigt. Denn was allen neuen digitalen Kanälen gemeinsam ist: So verbindend sie auch sein sollen, tatsächlich schiebt sich ja immer etwas dazwischen, ein Screen, ein Display, ein Medium. Ein paar Jahre zuvor wollten die Kommunikationswissenschaftler das Phänomen noch mit „computervermittelte Kommunikation“ etikettieren. Aber schon nach kurzer Zeit konnte man kaum noch neue Formate in derselben Schublade ablegen. Weil sie einfach nicht mehr passen wollten. Etwa weil sich die digitale Kommunikation – wie die Telefonie Jahre zuvor – vom Kabel losgerissen hatte. Und damit auch von jenem Gegenstand, der vermeintlich als Voraussetzung für die neue Kommunikation galt, dem Computer.



An welche Fixpunkte man sich sonst noch so halten konnte beim Miteinanderreden, das war lange auch klar: Man wusste, wie man sich zueinander positioniert, wohin man schaut und was es bedeutet, wenn man woanders hinschaut als dorthin, wo es der andere erwartet. Anstarren, außer Babys und Handys? Lieber nicht. Ich und du, was zwischen uns passieren könnte, war gut geregelt. Der eine wusste, wann er den anderen ansprechen darf. Und der andere wusste, ob er antworten muss. Auch zu welcher Uhrzeit. In der Nacht waren dazu eher Menschen genötigt, die noch in ihren beruflichen Rollen stecken, wie Nachtportier oder Barkeeper. Ansonsten: lieber schlafen lassen. Für die höfische Konversation beim französischen König gab es natürlich auch Konventionen, etwa: Nur reden, wenn man gefragt wird, was im 19. Jahrhundert in den Benimmbüchern auch meistens generell für Frauen galt. Aber auch zwanglosere Formate als königliche Tischzeremonien folgen einer Regie von Regeln. Etwa so: Wenn man ein Gespräch eröffnet, sollte man es auch möglichst abschließen. Außer man will Verwirrung stiften. Oder es ist Kunst. Türzuschlagen oder Telefonhörerauflegen gilt dabei nicht. Nur wenn es wirklich nicht anders geht, rein emotional gesehen. Selbst das Gefühl, wann genug geredet ist, alles gesagt, oder es Zeit ist zu schweigen, hat einen oft nicht getäuscht. Der Abstand zueinander, zumindest innerhalb eines Kulturkreises, ergab sich in vielen Fällen auch fast wie von selbst. Ebenso hat man mit der eigenen Geburt stumm eingewilligt, dass man für manche Nachrichten Briefmarken aufklebt, wenn man will, dass sie auch überbracht werden. Außerdem hat man im Lexikon oder auf Wikipedia gelesen, dass es einmal so etwas wie Telegramme gegeben hat und dass das ziemlich revolutionär gewesen sein muss. Vor allem die Sache mit dem Überseekabel. Die Oma während der Hauptnachrichten im Fernsehen anzurufen, war oft auch keine gute Idee, wenn man die Oma bei Laune halten wollte. Oder ihr zu verstehen zu geben, dass etwas passiert sei, indem man trotzdem anrief – selbst darin war man sich mit vielen anderen und ihren Omas einig.

 



Und noch mehr kollektive Einigkeit: Dass Fernsehen dumm und unsere Kinder dick macht, auch daran haben wir ein paar Jahre gar nicht gezweifelt. In manchen Kulturen hat man sich sogar darauf verständigt, dass man einen Kanal abschaltet, wenn ein anderer an der Tür läutet. Also den Fernseher aus, wenn Gäste kommen. Die Regel stammt jedoch aus Zeiten, als Gespräche scheinbar noch automatisch das verlangten, was der Soziologe Erving Goffman in menschlichen Interaktionen als „Engagement“ bezeichnete. Nämlich dass man sich auf die Interaktion auch einlässt, seine Konzentration sowie seine „kognitive und visuelle Aufmerksamkeit“ auch darauf ein- und ausrichtet.

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 Auch das eine Gesicht auf das andere kann schon helfen. Natürlich waren stets auch „Nebenengagements“ erlaubt: zu Reden und dabei die Katze auf dem Schoß zu streicheln. Beim Gespräch aber ein anderes auf dem Handy zu führen, oder auf dem Smartphone gleichzeitig nach interessanteren Themen zu suchen: eher unerwünscht. Wobei: Diese Regel dürfte wiederum nur eine Generation unterschrieben haben, für die „Switchen“ noch ein Erlebnis war, das aus zwei Kanälen am Fernseher bestand.



Wie viel Schweigen Gespräche gerade noch vertragen, auch das hat man meist richtig austariert. Und wann man selbst wieder mit Schweigen dran ist, selbst da ist man selten falsch gelegen. Wann man nicht mehr antworten muss, das war auch klar in den meisten Fällen. So lange, bis neue Medien sich in den Katalog der Kommunikationsmöglichkeiten mischten. Vor allem wenn es welche waren, die Schweigen oder Nichtantworten nicht so gut vertragen. Telefonieren etwa. Oder Chatten. Auch Anschreien per SMS hat sich trotz Großbuchstaben und Rufzeichen in der Benutzungskultur nicht durchgesetzt. Dafür aber, sich kurz zu halten, aber dafür war das „Short“ im Namen („Short Message Service“) schon Hinweis genug. Weniger Andeutungen, ob das Gespräch jetzt schon aus ist oder doch noch ein wenig schwelt, findet man oft in WhatsApp-Chats. Im Sinne von „always on“ ist es meist nie richtig zu Ende gegangen. Schon vor der digitalen Kommunikation musste man sich das Telefon mit eigenen Verhaltensweisen erarbeiten, sich zunächst einmal ausmachen, dass ein „Hallo“ am Anfang des Gesprächs helfen kann. Damit der Anrufer auch weiß, dass man empfangsbereit ist. Aber dann wurde es bald schon komplizierter, vor allem als sich die Kommunikation vom Kabel losgerissen hat. Dann tauchten solche Benutzungsfragen auf wie etwa: Wo darf ich eigentlich sprechen? Vor allem, wenn ich Privatgespräche plötzlich mit dem Handy vor die Tür trage. Wird dann nicht jedes Gespräch automatisch ein wenig zur öffentlichen Angelegenheit? Muss ich immer abheben, nur weil ich erreichbar bin? Oder immer gleich zurückrufen? Oder lieber gleich abheben, um zu sagen: „Ich ruf’ gleich zurück.“ Darf man heute anderen noch auf die Mailbox sprechen? Oder ist das schon so ähnlich, wie unerwartet vor der Tür zu stehen? Und wenn ich etwas aufspreche, darf ich dann um einen Rückruf bitten? Oder versteht sich das von selbst, weil ich ja angerufen und kein Mail geschrieben habe?



Mailboxen zu besprechen könnte schon fast als kleine kommunikative Nötigung durchgehen. Schließlich muss man sich Mailboxnachrichten wie Amazon-Packerl meist selbst abholen. Verbindlich dazu geäußert hat sich bislang kein Experte für Umgangsformen, schwierig auch in Zeiten, in denen das Merkmal Unverbindlichkeit zur Information meist ungefragt mitgeliefert wird. Die ständige Erreichbarkeit multipliziert nicht nur die Situationen, in denen Anrufe ungelegen kommen, sondern auch jene, in denen man keine Zeit hat, die Mailbox abzurufen. Die Benutzungskulturen vieler neuer Kommunikationsformate hatte gar keine Zeit, verbindlich einzurasten. Kaum wollte sich fast so etwas wie eine Konvention verankern, war plötzlich ein neues Medium da, das an den Benutzungsregeln des alten erst recht wieder rüttelte. Kein Wunder, dass die Menschen eine Phase lang E-Mails schrieben, als würden sie tatsächlich noch in Briefkästen landen. Und dass noch heute Menschen WhatsApp-Nachrichten schreiben, als würden sie damit eine Mailbox füllen wollen.



Manchmal stehen auch jene ratlos vor den Umbrüchen und kommunikativen Ereignissen, die selbst täglich beobachten und anleiten, wie Menschen miteinander umgehen. Wenn sie reden, aber auch wenn sie sich nur körperlich einschwingen, noch dazu im Takt: beim Tanzen. Jedenfalls auch eine Form von Kommunikation. Nicht nur bei Bienen. Roman Svabek leitet die Tanzschule Svabek in der Wiener Liechtensteinstraße. Schon von Berufs wegen interessiert er sich für Choreografien. Für jene auf dem Parkett genauso wie für jene, die der Alltag schreibt. Von Mensch zu Mensch. Beim gemeinsamen Sitzen am Tisch wie auch beim eleganten Aneinander-Vorbeigehen. Auch die Eröffnung des Wiener Opernballs hat er einige Male choreografiert und geleitet. Svabek gibt in Kursen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen nicht nur Schrittfolgen mit, sondern auch Anhaltspunkte zu jenem Parkett, das man einst unter dem Stichwort „Gutes Benehmen“ betreten hatte. Tanzen ist ja nur eine von dutzenden Formen, wie Menschen miteinander umgehen können. Und miteinander zu sprechen ist wie Tanzen, befinden Experten für nonverbales Verhalten. Ab einem gewissen Punkt hat man sich schon eingeschwungen im Rhythmus, der eine geht einen Schritt voraus, der andere geht mit, und wieder zurück. Sogar im Kreis drehen, zumindest inhaltlich, ist manchmal Teil der Choreographie. Beim Tanzen allerdings sind allerfeinste körperliche Regungen schon mit Bedeutungen codiert. Umso mehr könne man beim Tanzen für den Umgang mit Menschen lernen, meint Svabek. Vor allem auch, wie viel Abstand und Nähe man einem anderen Menschen körperlich so zumutet. Und wie viel davon einer gelungenen Kommunikation auch guttut. Wie man aufeinander zugeht, Kontakt aufnimmt, und wie man den anderen elegant wieder aus einer Interaktion entlässt.



An den Sälen der Tanzschule Svabek rauscht die Digitalisierung natürlich auch nicht vorbei. Vor allem die jugendlichen Kursteilnehmer tragen sie mit ihren Smartphones in den Rucksäcken direkt hinein. Handys seien jedenfalls erlaubt, erzählt Svabek. „Die jungen Menschen benutzen sie aber in einer atemberaubenden Geschwindigkeit.“ Kurzes Update: „Bin in der Tanzschule.“ Dann wieder Interaktion mit Menschen im selben Raum. Ungläubig, meint Svabek, stehe er manchmal vor der Geschwindigkeit und Selbstverständlichkeit, wie die Jungen digitale Medien managen. Umso weniger traut er sich dafür verbindliche Regeln aufzustellen. „Wie kann ich die Regeln einer Kommunikationskultur beurteilen, die ich selbst nicht verstehe, weil sie sich immer so schnell ändert und ich nicht hineingeboren worden bin?“, fragt sich Svabek. Das wolle er sich gar nicht erst anmaßen. Auch nicht zu bewerten, ob Kondolieren auf WhatsApp weniger einfühlend wirkt als eine schriftliche Beileidsbekundung. Jede Kommunikationsplattform im Internet scheint wie von selbst ihre eigene Benutzungskultur entwickelt zu haben. Eine, die man erst so richtig versteht, wenn man sie ähnlich intensiv nutzt wie die Muttersprache oder die Artikulationswerkzeuge, die man am Körper seit Geburt mit sich herumträgt. „Für die jungen Nutzer ist vieles selbsterklärend, wofür wir nach Erklärungen suchen“, sagt Svabek. Die Welt der traditionellen Umgangsformen habe deshalb nicht unbedingt eine Antwort auf Kommunikationsbefindlichkeiten der Smartphone-Nutzer. „Es gibt natürlich Versuche, verschiedene Dinge im kommunikativen Umgang miteinander festzulegen. Aber oft werden diese Regeln von Männern über 70 aufgestellt für Menschen unter 20.“ Und viele von diesen bräuchten keine Anleitung, wie sie etwas zu bewerten hätten. Es versteht sich für sie von selbst: vor allem auch die Bedeutungen, die die Programmierer jeder neuen App mitcodiert haben, nämlich wie man sie benutzt. Sanft hineingeboren zu werden in den ganz selbstverständlichen Umgang damit, das kommt für viele zu spät. Wie auch für Roman Svabek. Analoge Maßstäbe anzulegen an Verhaltensweisen, die erst digital entstanden sind, sei schwierig. Doch allgemeine Maximen der gegenseitigen Wahrnehmung und Rücksichtnahmen hätten natürlich auch im Smartphone-Zeitalter ihre Gültigkeit nicht verloren. Auf das Handy zu starren, wenn andere dabei sind: Ja – wenn es Fremde sind. Ansonsten wäre es „Phubbing“. Die englisch