Wir reden, noch

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

Kommunikation im Breitformat

Gespräche sind oft nicht für alle. Nur die Wichtigsten, die einem am nächsten stehen, die man am dringlichsten braucht, bekommen eines. Unter vier Augen, da funktioniert auch keine „Message Control“ mehr, da kann einem die Botschaft auch mal entgleiten. Manchmal schade, dass man Gesagtes nicht mehr löschen kann, genauso wenig nachträglich in den Spamordner verschieben oder noch schnell mal redigieren, bevor es unwiderruflich in das Ohr des Hörers schlüpft. Wer unter vier Augen nichts redet, hat auch schon viel gesagt, schon ein paar Sekunden zu langes Schweigen spricht Bände. In einem Gespräch steckt man drin, von Anfang bis Ende, in einem zeitlichen Rahmen, aber auch in einem räumlichen, der zwischen Sender und Empfänger stets ein ganz besonderer ist, ein Verhandlungsraum. Ohne Türen. Man betritt ihn mit dem ersten Wort, das man sagt. Und verhandelt wird das wichtigste Thema überhaupt: wie man zueinander steht. Da werden Nähe und Distanz ausbalanciert, neu eingerichtet, mit der Wasserwaage der Worte und dem Lot aller verfügbaren nonverbalen Signale.

Das Zwiegespräch ist nun mal das kommunikative Großformat. Informationsübertragung in Cinemascope. Das kommunikative Weitwinkelobjektiv, das sich auf den anderen richtet, um ja auch keinen Zwischenton zu verpassen. Es ist der Modus für Inhalte, die eben die ganze Bandbreite brauchen. Wie Überraschungen und Offenbarungen. „Ich bin krank.“ „Ich liebe dich.“ „Lass uns abhauen.“ Das Gespräch ist die Manufaktur der Kommunikation zwischen all der seriell erzeugten digitalen Masseninformationsware. Es ist das Livekommunikationsereignis, das die beteiligten Augen, Gesichter und Gehirne noch enger miteinander verknotet. Es wirkt als Schmierstoff, wenn es reibt, als Kitt, wenn es mal brüchig wird. Die Face-to-Face-Kommunikation ist wie Priority-Boarding und VIP-Lounge, die erste Reihe im Theater, von der man noch tiefer ins Geschehen eintaucht. Und wäre sie ein Joghurt, sie hätte eine goldene Krone auf dem Etikett, als Premiummarke. Viele halten sie für unersetzbar. Doch trotzdem fürchten einige, dass sie uns allmählich abhandenkommt. Weil schon das Gegenüber des Gesichts, das wir dafür brauchen, sich allmählich aus so manchen alltäglichen Interaktionen zurückzieht. Und mit dem „Face“ geht schon einmal der sozialste aller möglichen Übertragungskanäle in der Kommunikation verloren.

Sender trifft Empfänger – Mit ein bisschen Luft dazwischen

Der Mensch redet, auch dann, wenn er gerade ziemlich mundfaul ist. Dann übernimmt einfach der Körper das Sprechen. Das hat insbesondere soziale Gründe. Und so viel Einfluss, wie er vielleicht gerne hätte, hat der Mensch auch nicht darauf, was er und wie er es sagt. Denn nur einen kleinen Teil von dem, was er sendet, darf er auch selbst formulieren. Der deutlich größere Bedeutungsträger als sein Ego und sein freier Wille ist sein Körper. Gut, die Bibelverse und was man sich sonst noch so aus den Katalogen in den Tattoostudios ziehen kann, darf man schon selber wählen. Doch auch wenn man ihn nicht selbst beschriftet, spricht der Körper für sich selbst. Und tatsächlich scheint es so, als hätte er ständig etwas zu vermelden. Allein aus der internen Kommunikationsabteilung. Hunger, Durst, Aua. Zu viel getrunken. Zeit fürs Bett. Noch mehr Signale richtet der Körper aber sogar nach außen, an andere. Dafür hat er ein eigenes Vokabular ausgeklügelt, ein Gefühlsesperanto. Entschlüsseln kann es jeder, dem Gefühle von sich selber bekannt vorkommen. Was Soziologen heute als Dauerzustand von Jugendlichen inmitten digitaler Medien vermuten, ist im Grunde die Ausgangslage für jeden Menschen – nämlich seit der Geburt: „Always on“.4 Ständig empfangsbereit. Ständig in Erwartung von Response und Feedback. Ein Zustand, den Smartphones nicht erfunden haben, dafür aber deutlich intensiviert. Der Mensch ist „on“, ganz ohne Sendepause, wenn er nicht gerade schläft. Ansonsten kann man noch so viel schweigen, wie man will, den Blick abwenden, sich Ear Pods in die Ohren schieben, auf Displays starren – schon ist wieder etwas gesagt. Und auch das macht es so schwierig, ein Buch über Kommunikation zu schreiben, ohne zumindest ein, zwei Mal einen Namen zu streifen: Paul Watzlawick. Jener, der genau dieses Phänomen in das berühmteste aller Kommunikationsaxiome abgefüllt hat: „Man kann nicht nicht kommunizieren.“5 Allein weil man sich auch nicht nicht verhalten kann. Kann man gerne zuhause ausprobieren. Noch dazu gerät der Mensch irgendwann in eine Lage, in der dieses Phänomen zur Zwangslage wird: in der Dyade. Klingt ziemlich technisch, ist aber im Grunde eine urmenschliche Situation. Gleichsam die soziale Urkonstellation: ich und du. Und auch wenn es nur zwei sind, stehen sich da gleichzeitig ziemlich viele gegenüber: Sender und Sender, wie auch Antenne und Antenne. Schon ist sie gelegt, die situative Basis für die grundlegendste Form des kommunikativen Austausches, für das Zwiegespräch. Und noch bevor das erste Wort gefallen ist, ist da inhaltlich ziemlich viel los. Allein zwischen Haaransatz und großer Zehe, auf beiden Seiten. Wie auch im Luftraum, der zwischen dem einen und dem anderen Mund übrig bleibt, wenn man sich nicht gerade küsst. Kommunikationsgenie trifft auf Kommunikationsgenie, ein soziales Naturschauspiel. Die Tiere würden die Kameras herausholen, wenn sie welche hätten. Weil speziell die menschlichen Wesen bestens vorbereitet sind, sensorisch, kognitiv, mental, für alle Arten der Begegnung, außer vielleicht für jene der dritten Art.

Und wenn man sich so gegenübersteht, rechnet das Gehirn mit allem. Insbesondere mit jeder Menge sozialer Datenverarbeitung. Die Evolution hat die Interaktionspartner vorsorglich mit allem Nötigen ausgerüstet: Augen, die andere Augen suchen, um in ihnen lesen zu können. Dazu noch Beine, die manchmal sogar schneller laufen als die des anderen. Und für alle Fälle auch psychische Überlebensstrategien wie das Stockholm-Syndrom, wenn die Beine dann doch nicht schnell genug waren. Aber vor allem gehört auch ein sensibles Touchdisplay zur Grundausstattung. Eines, das sich stets einige Grad wärmer anfühlt als jenes, auf denen die Finger der Menschen den ganzen Tag herumwischen: Es sind fast zwei Quadratmeter Haut. Jederzeit empfangsbereit. Für Informationen aller Art, die Tischkanten, Stacheln, Brennessel, Glasscherben, Fäuste und anderes so in den Raum stellen. Die dichteste Auflösung hat das Display dort, wo man es in vielen Kulturen auch extra nicht mit einer textilen Hülle verdeckt oder schützt. Dort, wo 26 Muskeln das emotionale Status-Update regelmäßig formulieren: im Gesicht. Ein Mensch, der im deutschen Sprachraum alphabetisiert wurde, kann über 26 Buchstaben verfügen. Aus ihnen bastelt er sich gerne 2000 Wörter Grundwortschatz zusammen. Doch mit dem Gesicht allein hat schon der unalphabetisierte Mensch 26 Bausteine im Repertoire, bewegliche noch dazu. Und mit ihnen kann er schon in einer halben Stunde Konversation tausende Zeichenkombinationen abliefern. Gleichsam als Bühnentechnik für die Inszenierung der wichtigsten verbalen Botschaften, für die man wiederum in seinem Grundwortschatz erst einmal kramen muss. Die Gesichtsbühne war schon immer wichtig, um auch mal einen drohenden tödlichen Konflikt abzuwenden, in den man in der Savanne versehentlich gestolpert ist. Sicherheitshalber haben sich schon die Primaten, bevor sie Menschen wurden, mit einem zusätzlichen nützlichen Display ausgestattet: dem „Bared-Teeth-Display“6, den gebleckten, entblößten Zähnen. Als vorsichtig formulierter Nichtangriffspakt. Heute besser bekannt unter Lächeln. Von manchen auch semantisch als Unterwürfigkeitsgeste eingeordnet, jedenfalls ein sozialer Joker, mit dem schon eine Menge Beziehungsarbeit quer durch die Sippe möglich war. Lange bevor das erste Wort gesprochen wurde.

Das Gesicht, vulgo „Facial Display“, gibt auch gerne ein paar grundlegende Hinweise, wie andere mit einem umgehen sollen. Ähnlich einer Ampelanlage, die von „Sprich mich an, bitte“ auf „Lass mich in Ruhe“ schalten kann, und das innerhalb von Sekunden, entlang eines Tages oder einer Lebensphase. Doch auch deutlich subtilere Botschaften stellt das Gesicht sprichwörtlich in den Interaktionsraum. Nicht alles davon ist so leicht zu dechiffrieren wie Augenbrauen, die sich zu Ruf- oder Fragezeichen zu formen scheinen. Manchmal fallen Kinnladen und tanzen die Stirnfalten, hüpfen die Mundwinkel – Mensch und Mensch in Interaktion, das ist ziemlich viel Lesestoff. Und gleichzeitig die Hintergrundstory zu allem, was sonst noch so gesagt wird im Moment.

Hineingeplatzt in die ohnehin laute Welt ist der Mensch schon mit seinem ersten Schrei. Seitdem ist er eben „on“ mit allen Sinnen. Gleich nach dem Aufstehen weiß er, was das bedeutet – bei der ersten Begegnung des Tages, mit sich selbst, im Spiegel. Da läuft gleich die erste Informationssendung auf der Glasfläche, noch vor dem Morgenjournal im Radio. Die Themen: „Was war gestern?“, „Wie geht es mir heute?“ Und danach läuft das Programm auf dem Gesicht gleich weiter. Mit den unterschiedlichsten Inhalten, die meisten davon aber aus dem Ressort „Soziale Angelegenheiten“ – zumindest wenn man zum ersten Mal am Tag auch einem anderen Gesicht begegnet.

Damit es noch komplizierter wird, fügt man als Mensch gleich noch ein paar narrative und semiotische Ebenen ein. Dazu holt man sich etwa ein bisschen Vokabular direkt aus dem Kleiderschrank. In Form von Kleidung. Und würde man keine anziehen, den ganzen Tag nackt bleiben, dann würde erst recht tiefere Bedeutung darin versteckt sein. Danach kann man semiotisch vielleicht noch an der Frisur drehen. Oder auch nicht, wenn man extra das Nichtfrisieren für sich sprechen lassen will. Alles Mögliche kann man mit Gestaltungswillen zwischen den Haaren andeuten: „Ich bin einer von euch.“ Oder: „Mit euch will ich wirklich nichts zu tun haben.“ Oder: „Ich hatte einen schlechten Tag, in der Früh keine Zeit und überhaupt zuvor eine unglückliche Beziehung.“ Später, in der U-Bahn, kann man zumindest sein eigenes Gesichts-Display einem anderen Display zuwenden, jenem, das man sich im Handyshop zugelegt hat. Vor der Ära des elektronischen Papiers hätte man sich vor den anderen Gesichtern vielleicht hinter einer Zeitung versteckt. Masken außerhalb des Faschings haben sich nämlich nicht durchgesetzt, um das eigene Gesicht stummzuschalten. Hat man sich nicht rechtzeitig ins Virtuelle zurückgezogen, dann kann es dafür schnell geschehen: Schon steckt man drin in einer sozialen Situation, womöglich sogar in einer Interaktion. Es geht los. Die Beteiligten nehmen Position ein. Der Abstand wird säuberlich austariert, kulturell ausverhandelt haben ihn ohnehin schon die Generationen zuvor, die Mikromanege zwischen „Face“ und „Face“ wird eröffnet. Und darin scheint der Mensch kommunikativ tatsächlich zu fast allem fähig. Vom rührenden Heiratsantrag bis zum despektierlichen Machogehabe hat er einiges drauf. Und egal ob er glaubt selbst zu senden oder es sein Körper längst getan hat, die meisten Signale, die sich auf den Weg machen, sind soziale. Gerne werden sie multimodal verstärkt, auf unterschiedlichen sensorischen Ebenen. Damit die Botschaft auch ankommt, wird sie oft durchgeschaltet, visuell und akustisch. Richtig verstanden zu werden, auch das hat im Laufe der Evolution schon dem einen oder anderen Lebewesen das Überleben gesichert. So gut bestückt der kommunikative Werkzeugkoffer des Menschen auch sein mag: Sicherheitshalber hat er auch der Evolution schlussendlich die Evolution abgenommen, zumindest jene der Kommunikationskanäle. Kurzerhand ausgelagert hat er sie – in die Hand seines abgewinkelten Armes. Dort liegt meist sein Smartphone. Und dort hat sich der Mensch technisch selbst upgedatet: vom Zweikanalredewesen der Worte und der nonverbalen Zeichen auf die aktuell gültige Version. Und dabei ist der Mensch schon sein eigener digitaler Multichannel-Manager.

 

Der Mensch als Multichannel-Manager

Der erste Effekt davon: Es gibt noch viel, viel mehr zu verarbeiten. Schon so ein ganz normaler Mensch, dem man gegenübersteht, ist ganz schön viel Stoff. Gut, die Arbeitskollegen da drüben, die hat man schon mal gesehen, schon mal vorsorglich eingeordnet, da hängen auch schon ein paar Beziehungsfäden lose und unsichtbar im Raum. An ihnen kann man anknüpfen. Auch inhaltlich. Man weiß ja, wer gerade in Thailand war und wer neuerdings Veganer ist. Instagram. Ah, und bei dem anderen da vorne, da muss man sich ja noch entschuldigen. Wer weiß, ob man sich nicht nochmal über den Weg läuft. Es gibt viel zu tun – für das Gehirn. Wenn man Bekannten begegnet. Wenn man aus Fremden erst Bekannte machen muss, umso mehr. Sicherheitshalber also mal so tun, als wäre man so wie der andere. Der Prozess der Anpassung startet sofort: gestisch, stimmlich, inhaltlich. „Ich liebe Thailand.“ Doch zunächst muss man ja erst einmal zwischen Freund und Feind unterscheiden, noch dazu innerhalb von Millisekunden. Und ob der Freund auch als Fortpflanzungspartner infrage kommen würde. Da würde es schon helfen, wenn der nur ruhig dastehen würde für einen entspannten Ganzkörperscan mit Augen, Nase, Ohren. Aber sie müssen sich ja auch noch bewegen. Und ihre Codes, die sie senden, auf mehreren Ebenen unverständlich vermischen. Einiges versteht man zwar von selbst, das entlastet den Arbeitsspeicher. Wenn etwa die Augenbrauen wie Leuchtstifte doppelt unterstreichen, was sich weiter unten im Mund gerade lautlich zusammenreimt. Die zarten Komplimente, die dummen Fragen, die dreisten Lügen. Doch nicht alles, was der andere in diese lautlichen Container, in diese Worthülsen steckt, erschließt sich so schnell wie weit aufgerissene Augen. Obwohl man doch gelernt hat, wie man all diese Wörter fein säuberlich entschlüsselt. Doch dann streuen die Menschen ständig noch Hinweise auf sich selbst in den Raum. Wer sie denn sind, sozial gesehen. Oder auch wer sie gern sein würden. Auch das muss einer erst richtig verstehen. Vor allem muss man auch mal einordnen, ob dieses Gesicht, die Emotionen, die es zeigt, und das, was der Mund lautlich von sich gibt, überhaupt einen selbst betrifft. Oder nicht doch jemanden, der gar nicht da ist, mit dem er aber unsichtbar über das Handy verbunden ist.

Kein Wunder, dass der interne Taskmanager im Alltag manchmal eines der aktivierten Programme automatisch abstellt, wenn der Arbeitsspeicher überkocht. Da geht sich dann in der Früh im Stiegenhaus eben nur das eine oder das andere aus. Das „Guten Morgen“ oder das In-die-Augen-Schauen. Beides gleichzeitig, nur wenn man wirklich gut geschlafen hat. Und wenn nicht gerade noch ein Dritter auf dem Smartphone genau so viel Aufmerksamkeit einfordert wie der, der gerade an einem vorbeigeht. Dann wird’s halt doch wieder kein Gespräch, denn zumindest Augenkontakt hätte es schon gebraucht, damit eines entstehen kann. Man kann aber die kognitive Verweigerung auch als Vorsichtsmaßnahme verstehen. Denn so ein Gespräch ist ja wie ein Projekt. Ist es erstmal eröffnet, muss man auch durchhalten bis zur Schlusszeremonie. Manchmal verstrickt einen schon Hunger und Durst zwangsläufig in die nächste menschliche Interaktion. Wenn man einen Kaffee braucht, eine frische Semmel oder eine Richtungsangabe, für alle Fälle hat man ja seinen imposanten kommunikativen Werkzeugkasten dabei. Falls auch das Smartphone versehentlich in der Sofaritze zuhause geblieben ist, bleiben einem noch immer Deuten, Reden, Rot-Anlaufen und verlegenes Lächeln, wenn sonst gar nichts mehr hilft. Aber selbst wenn man zuhause bleibt, kann theoretisch das nächste Kommunikationsprojekt vor der Tür stehen. Auch wenn nur der Amazon-Bote sein Packerl abliefert. Oder der Nachbar klopft, weil er ein Packerl abliefert. Überraschende persönliche Check-ins an der Wohnungstür aus anderen Gründen sind selten geworden. Selbst in der Beziehungspflege ist der unerwartete Hausbesuch eher unbeliebt. Und anachronistisch. Kein Wunder, wenn für manche sogar Anrufe schon ähnlich „invasiv“ wirken, wie wenn es an der Tür klopft. Denn beides nötigt – zur Kommunikation: Die Tür vor der Nase zuknallen, das darf man – nach der allgemeinen sozialen Vereinbarung – noch weniger, als im Gespräch einfach auflegen. Eine soziale Interaktion, auch an der Haustür, ist trotzdem Arbeit, nämlich „Facework“.

Das ist ein Begriff aus der Soziologie. Denn kaum ist ein anderes „Face“ im Spiel, muss man ja das eigene, das soziale nämlich, auch bewahren. Und wenn es droht zu bröseln, heißt es rechtzeitig dagegenarbeiten. Aber nicht nur das: Um das Gesicht des anderen muss man sich auch noch kümmern. Selbst das sollte in einer gelungenen Interaktion keine Risse bekommen. Deshalb darf man sich im Gespräch nicht einfach umdrehen und gehen, wenn man etwas gefragt wird. Nur mit intaktem Gesicht aus der ganzen Interaktion wieder rauszugehen, fühlt sich gut an. Das produziert natürlich auch Stress und in der jeweiligen Situation einen gewissen Erfolgsdruck. Noch so ein Vorteil, den sich die neuen zusätzlichen Kanäle zunutze machen: Digitales „Facework“ ist weniger anstrengend. Man kann in Ruhe nachbessern, modellieren und bestimmte Entwürfe vom Selbstbild, das man nach außen abgeben will, ausprobieren. Doch solange man sich das, was man bei Amazon bestellt, nicht selbst zuhause im 3-D-Drucker ausdrucken kann, wird vielleicht noch immer jemand unangekündigt vor der Tür stehen. Und das braucht nun mal auch ein Minimum an kognitivem Aufbäumen – nach einem langem Arbeitstag, an dem man mit seinem Beruf, dem eigenen „Face“ und jenem der anderen beschäftigt war.

Die kognitive Überforderung ist natürlich persönlichkeitsbedingt, phasenbedingt, altersbedingt, stimmungsbedingt. Doch Menschen in Interaktionsberufen sollen besonders burn-out-gefährdet sein, solche wie Lehrer, Psychotherapeuten und Sozialarbeiter. Daten zu Frisören sind noch nicht vorhanden. Doch auch Menschen in diesen Berufen müssen einmal nach Hause. Und auf dem Weg dorthin sind sie schon wieder: all die fremden Menschen, mit denen die Interaktion ja noch anstrengender ist. Da hilft nur Stand-by-Modus. Oder das zu tun, was alle tun: im Gesicht auf unentschlossenes Testbild schalten. Vor allem in der U-Bahn, dem beliebtesten Transportmittel in Habitaten, die überhaupt fast ausschließlich von Fremden bewohnt zu sein scheinen. Noch dazu in unglaublicher Dichte. Weil ökonomische und logistische Zwänge die Menschen ziemlich unregelmäßig auf dem Planeten verteilt haben. 50 Prozent der Weltbevölkerung leben inzwischen in Gegenden, wo „Dichtestress“ auch schon mal zum „Unwort des Jahres“ gewählt wurde. Zugegeben, das ist in der Schweiz passiert. Wo man so ein Phänomen vielleicht gar nicht so sehr erwartet hätte wie vielleicht in Hongkong. Aber gerade in der Schweiz ist auf der Zeichenebene noch etwas Erstaunliches passiert: Im selben Jahr, es war 2014, wurde ein Wort zum „Wort des Jahres“ gekürt, das eigentlich nur ein Zeichen ist: #. Also: Hashtag. Mit anderen Worten: #dichtestress begleitet die Menschen durch den Alltag in den Städten. Deshalb arbeiten Menschen in gewissen Habitaten ebenso intensiv daran, sich aus dem Weg zu gehen, wie in anderen daran, sich bitteschön möglichst über den Weg zu laufen.

Zum Glück stecken viele außerhalb ihrer Wohnung schon in der ersten Schutzschicht drin: in der „sozialen Haut“, in die man eigentlich schon schlüpft, wenn man morgens aus dem Badezimmer kommt. Aber spätestens am Arbeitsplatz steckt man dann noch tiefer drin, in seiner sozialen Rolle nämlich. Und die definiert auf dem Weg durch den Tag auch mit, von wem und mit welchen Themen man angesprochen werden kann. Vor allem auch zu welcher Uhrzeit. Wenn man um zwei Uhr nachts als Hotelportier arbeitet, kann man sich dem Gespräch nicht ganz so gut verweigern. Ebenso wenig als Krankenschwester im Nachtdienst.

Für mundfaule Stunden und Phasen, in denen man sich nicht zu sehr aus dem virtuellen Raum zurück in die Realität lehnen will, hat sich der Mensch jedenfalls ein paar praktische Ausweichmanöver zurechtgelegt. Als Survival-Kit für den Daten-Overflow von sozialer Information in Großstädten. Schließlich will man es mit begrenzter Akkukapazität im Kopf abends noch rechtzeitig nach Hause schaffen. Dankenswerterweise haben die Architekten schon ein paar Wände deponiert. Und dazwischen kann man seine „soziale Haut“ in der „dritten Haut“, so nennt man auch die Architektur, schweigsam ein wenig erholen lassen. Wände wirken wunderbar kontaktvermeidend. Auch in Büros. Aber dort, hat man festgestellt, wirken offene Konzepte, ganz ohne Wände, auch nicht anders. Man redet weniger, schreibt dafür mehr E-Mails, weil man gar so exponiert ist. Den Rest der Kontaktvermeidung erledigt man mit den tragbaren Notausgängen, den Smartphones, die sich evolutionär durchgesetzt haben. Wenn’s ernst wird, kann man in sie schlüpfen. Der einzige Nachteil: Der Körper bleibt zurück. Den Weg aus dem Hier und Jetzt hinaus geht man trotzdem gerne. Schließlich will man ja auch nichts verpassen, dort, wo man selbst nicht ist. Denn noch eine Lektion hat die Evolution den Menschen mitgegeben: Nichts zu verpassen erhöht schon wieder die Chance zu überleben. Deshalb hat die Natur dem Menschen das Gesicht auch nach vorne ausgerichtet. Hätte sie mit dem Handy gerechnet, wäre ein Neigungswinkel von 45 Grad allerdings vorteilhafter gewesen. Die gestreute Aufmerksamkeit, zielführend in der Savanne, anstrengend in der Gegenwart. Da wäre die digitale Kommunikation gerade recht gekommen. Um Stress zu vermeiden und sich trotzdem irgendwie sozial zu verhalten. Soziales Management mit geringerem Aufwand, so war’s gedacht. Schade nur, dass die effizienzsteigernden Mittel selbst Stress erzeugen. Weil der Mensch nicht mit sich selbst gerechnet hat. Und damit, was das Dopamin im Gehirn mit ihm anstellt: Je mehr Kanäle sich der Mensch freigeschaltet hat für die Kommunikation, desto weniger will er auf jedem einzelnen etwas verpassen. Das hat sich sogar bis zu einem Angstzustand unter Jugendlichen ausgewachsen, zur „Fear of Missing Out“, kurz „FoMO“.7