Die Musenfalle

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Lilly, 17:00

Um fünf war es stockfinster. Ich hatte mir auf dem Nachhauseweg ein halbes Grillhuhn gekauft, das ich nun in der Mikro­welle wärmte. Dazu aß ich Chips aus der Tüte und sah mir ­Sitcoms an. Das würzige Essen trocknete mich aus, mein Gaumen fühlte sich so an, wie ich mir eine Mondkraterlandschaft vorstellte – öde, rissig und angestaubt. Doch keine zehn Raumfahrer hätten mich dazu gebracht, aufzustehen und mir ein Glas Wasser zu holen. Ich war satt, rund und träge, ich würde nie wieder aufstehen.

Irgendwann kam Flo nach Hause, den neuerdings unvermeidbaren Phil im Schlepptau. Im Liegen berichtete ich ­ihnen von meinem Vormittag. Wenigstens erntete ich ein paar Lacher für die Kostümgeschichte.

Kaum hatten sich die beiden zu einem romantischen Abendessen in die Küche verzupft, mit Kerzen und Austern, bla, bla, bla, kam Britta mich stören. Sie blieb neben dem Sofa stehen, beäugte das Hendlgerippe, in dem die leere Chipstüte steckte, und sagte: »Ich hoffe, es hat gemundet.«

Ich rülpste, so laut ich konnte. »Nachdem ich ab morgen diätieren muss, hab ich’s mir heute noch mal gut gehen lassen.«

»Du solltest keine Diät halten, sondern Sport treiben, das wäre wesentlich gesünder und sinnvoller.«

Bla, bla, bla.

»Hast du denn deinen Vertrag unterschrieben?«

Ich leckte mir das Salz von den Fingern. »Mit Tinte und Schweiß.«

»Und wann fängst du an?«

»Liebäugelst du jetzt mit meiner Branche? Gibst du die Pharmazie auf oder willst du dir nur was zum Studium dazuverdienen?«

Sie runzelte die Stirn. »Was, denkst du, mache ich jeden Vormittag im Büro? Ich verdiene mir seit sechs Jahren etwas dazu.« Sie schüttelte den Kopf. »Möchtest du den Teller nicht hinaustragen? Das Ding da drauf riecht.«

»Na, ich hoffe doch, dass es riecht. Es ist Essen.«

»Essen sollte nicht riechen.« Damit stolzierte sie mit ihrem viel zu mickrigen Hintern und den Strohhalmbeinen aus dem Zimmer – während ich mich mit prall gefülltem Wanst auf dem Sofa aalte und innerlich immer unrunder wurde. Es frustrierte mich, dass Flo schon wieder anderweitig besetzt war, ich wollte endlich meinen Triumph begießen. So aber blieb mir nichts übrig, als mich irgendwann doch aufzurappeln und mich nach zwei Gläsern Wasser in mein Zimmer zu schleichen, um mir wieder einen einsamen Joint zu drehen. Und dann einen zweiten, noch einsameren. Beim dritten fühlte ich mich nicht mehr einsam. Okay, ich geb’s zu, als mein Handy klingelte, war ich ordentlich bedient.

»Ja?«

Schweigen am anderen Ende. Oh ja, Schweigen tat gut, wieso war ich überhaupt rangegangen, ich war so müde.

»Lilly, hier ist Alexander Strehl.«

»Oh.«

»Ich hoffe, ich störe Sie nicht zu so später Stunde?«

»Nein … nein.« Ich lachte, das Lachen klappte hervorragend, nur das Reden fiel mir schwer.

»Das freut mich. Ich würde Sie gerne wiedersehen …«

»Oh ja, ja gern.« Was redete der da? Was redete ich da?

»Sagen wir morgen Abend? Ich gebe Ihnen die Adresse.«

Immerhin war ich geistesgegenwärtig genug, einen Stift zur Hand zu nehmen. Böhmgasse 1, schrieb ich auf die Rechnung von meinem Zeitungsabonnement. Und: 20 Uhr.

Keine Ahnung, wie das Gespräch endete, ich hoffe, nicht mit einer Peinlichkeit meinerseits, wobei das rückblickend eigentlich auch egal wäre.

Irgendwann klopfte es an meiner Tür. Ich reagierte nicht, wollte meine Ruhe haben. Ich schaffte es gerade noch, zu denken, dass ich hoffentlich keinen Brand gelegt hatte, dann war ich weg. Die einzige Droge, die ich brauchte, war Schlaf.

Alexander, 20:20

Alexander legte den Hörer auf. Dann starrte er auf seine Schreibtischplatte, ohne irgendeinen der Gegenstände wahrzunehmen, die darauf lagen. Er war neunundfünfzig Jahre alt und benahm sich wie ein Teenager. Auf den ersten Blick hatte sie ihm gar nicht gefallen, zu sehr Amazone. Doch für Green Poison mochte das passen. Mochte das passen, der Teufel sollte ihn holen und in der Hölle braten, mochte das passen, was für eine schwammige Formulierung für den Geschäftsführer eines Großunternehmens. Als hätte er keine eigene Meinung dazu, als wäre es gar nicht wichtig, was er von der Sache hielt. Du bist die Nummer eins, versuchte er sich einzutrichtern, um dich und dein Urteil geht es. Was du sagst, ist Gesetz.

Seit wann war ihm die Firma egal? Wann hatte er begonnen, gänzlich das Interesse zu verlieren? Verzweifelt hob er den Kopf. Seine Augen huschten im Raum umher. Das hier gehört dir. Alles. Das ganze Stockwerk und jedes der dreizehn Stockwerke darunter. Dein Imperium. Du bist der Imperator. Er legte die Stirn auf die Tischplatte. Plötzlich wünschte er, er wäre wieder zehn. Damals war er wirklich der Imperator gewesen. Und der achtjährige Ludwig sein Diener, der ihn mit Weintrauben und sauren Drops füttern musste. Es schien fast, als wären diese paar präpubertären Jahre die einzigen in seinem Leben gewesen, die stimmig waren. Was sonst geschehen war, das Studium, die Frauen, jeder Schritt seiner Karriere, all das war irgendwie zum falschen Zeitpunkt gekommen. Als wäre er immer sein eigener Zuschauer gewesen, der still danebensaß und beobachtete, während der Mann, dem all die Dinge passierten, lediglich eine Hülle blieb.

Nur dass es in letzter Zeit wesentlich schlimmer geworden war. Früher hatte Musik geholfen, wenn er nichts fühlen konnte. Ganz bestimmte Lieder, Klassiker aus seiner Jugend, die seine Haut, sein Blut, alle Zellen zum Mitschwingen brachten. Heute fiel ihm nur noch Schwachsinn ein, um zumindest ein bisschen innere Bewegung zu spüren, Schwachsinn wie der, diese Lilly um ein Treffen zu bitten.

Ludwigs Anruf heute Mittag hatte ihm gar nicht behagt. Oh, müsste er sich nicht eigentlich darüber freuen, dass er wenigstens noch Unbehagen empfinden konnte? Der Machtwechsel zwischen Ludwig und ihm hatte sich schleichend vollzogen. Alexander konnte nicht genau sagen, wann es begonnen hatte, vielleicht als Ludwig stolzer Vater geworden war, so glücklich über seine kleinen Schablonen, dass ­Alexander sich urplötzlich mit seiner eigenen Vaterrolle konfrontiert sah, in der er kläglichst versagt hatte. Doch sein Kind war eben, genau wie alles andere, zum völlig falschen Zeitpunkt gekommen.

Er stand auf und stellte sich ans Fenster. Vierzehn Stockwerke unter ihm krabbelten die Mitarbeiter von Mobitel aus dem Gebäude wie Ameisen, die ihren Bau verließen. Er dachte an seinen Geburtstag in vier Tagen. An sein vorgezogenes Geburtstagsgeschenk. Plötzlich war ihm speiübel.

»Ich will das nicht«, sagte er laut und wunderte sich über die Vehemenz in seiner Stimme. Den kleinen Energieschub musste er nutzen. Er marschierte zu seinem Schreibtisch, nahm den Telefonhörer und tippte die Nummer ein.

»Alex«, dröhnte ihm Ludwigs Stimme entgegen.

»Hallo«, grüßte er und versuchte vergeblich, locker zu klingen.

»Was ist los, alter Junge?«

Alexander schloss die Augen. »Ludwig, ich …« Wann hatte er die Kontrolle verloren? »Ludwig –«

»Sag bloß, Frieda hat dich doch noch angerufen.«

»Nein, nein.«

»Was dann? Spuck’s aus, Alex, willst du absagen?«

»Und du?«, fragte er und merkte, wie jämmerlich hoffnungsvoll die beiden Worte klangen.

»Um nichts in der Welt! Hältst du mich für verrückt?«

»Nein.« Er räusperte sich. »Also dann, wir sehen uns morgen um zwei.«

»Wunderbar. Freu dich!«

»Ja«, antwortete Alexander und legte den Hörer auf. Er wollte sich nicht freuen, er wollte nur wieder zehn Jahre alt sein.

3
Mittwoch, 20. Oktober
Lilly, 8:00

Als der Wecker mich aus dem Schlaf riss, war mein erster Gedanke, dass gestern irgendetwas Unangenehmes passiert war. Ich fing zu überlegen an. Ich hatte die Werbung bekommen, das war gut. Meine Eltern dachten, es wäre eine Fernseh­serie, und im Kostüm sah ich aus wie eine XL-Barbarella, das war schlecht. Aber da war noch was. Ich hatte mich wieder eingeraucht, auch schlecht … Und dieser Strehl hatte mich angerufen, das war es! Oh Gott, was hatte ich palavert? Irgendeinen Blödsinn?

Ich setzte mich auf. Unter Schmerzen konnte ich meine Zunge vom Gaumen befreien. In meinem Schädel klang das wie das Öffnen eines Klettverschlusses. Meine Klamotten vom Vortag lagen auf dem Boden bereit. Ich schlüpfte hinein und tapste barfuss in die Küche. Vor Brittas wachsamem Auge trank ich einen Liter Mineralwasser aus der Flasche. Britta spitzte die Lippen.

»Sorry«, sagte ich.

»Du riechst wie ein Aschenbecher«, begann sie.

»Sorry –«

»Wie ein Aschenbecher auf einer Hanfplantage.«

»Das war sowieso das letzte Mal«, murmelte ich und inspizierte den Kühlschrank nach was möglichst Fettigem.

Britta machte sich mit einem Schwamm über den Tisch her. Als ich mich mit Streichkäse und Baguette an den Tisch setzte, fing sie gerade an, ihn mit einem Geschirrtuch zu polieren. Ich spürte ihren musternden Blick und musste mich zusammenreißen, um nicht Grimassen zu schneiden.

»Was ist?«, knurrte ich.

Plötzlich lachte Britta. Es klang leicht und perlend und verblüffte mich zutiefst. Britta lachte normalerweise weniger als ein Mönch mit Schweigegelübde.

»Was ist?«, wiederholte ich misstrauisch.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich dachte nur gerade, dass du dich nie ändern wirst. Macht aber nichts, du bist ganz in Ordnung so.« Damit hängte sie das Tuch fein säuberlich an den dafür vorgesehenen Haken an der Wand und verließ die Küche.

 

Ich merkte, dass mir der Mund offen stand, und schloss ihn, indem ich in mein Baguette biss.

Sport war nie wirklich meins gewesen, obwohl man mich von der Statur her für eine Schwimmerin halten könnte. Und genau da lag das Problem. Ich durfte gar nicht viel trainieren, sonst würde ich noch breiter und muskulöser werden. Das Einzige, was ich angehen konnte, war mein Bauch. Und dazu hatte ich null Lust. Das Stimmchen in meinem Ohr konnte sich ein paar ätzende Kommentare zu meiner Figur nicht verkneifen. Ich schluckte den letzten Bissen von meinem Frühstück hinunter und sagte laut: »Halt endlich die Klappe.«

Trotzdem drehte ich nach dem Frühstück den Fernseher auf und legte mich auf den Boden. Während der Neun-Uhr-Nachrichten brachte ich sechs Sit-ups von zweifelhafter Qualität zustande. Nebenbei bekam ich Neues von der Wirtschaftskrise, irgendeinem Börsenindex und dem Mord an ­einem bekannten Richter zu hören. Mit einem Brieföffner, wie altmodisch war denn das? Ich rappelte mich auf und warf einen Blick auf den Bildschirm, auf dem ein älteres Foto des Toten gezeigt wurde. Er sah behaart und gemütlich aus, wie ein alter Balu der Bär. Er tat mir leid und ich ertappte mich bei dem Gedanken, dass er hoffentlich ein Arschloch gewesen war.

Alexander, 10:45

Kurz bevor Alexander in die Haydngasse einbog, bremste er seinen Wagen herunter. Sollte Polizei vor Ort sein, würde es keinen guten Eindruck machen, wenn er mit quietschenden Reifen vor dem Haus eines Mordopfers hielt. Selbst wenn das Opfer sein bester Freund gewesen war. War … was für ein unglaubliches Wort im Zusammenhang mit Ludwig.

Lediglich eine Streife parkte auf dem Gehsteig vor dem Grundstück – für einen ordentlichen Parkplatz war die Straße zu schmal –, doch das genügte, um ihm einen Schlag in den Magen zu verpassen.

Er fuhr die Gasse weiter hinauf und stellte seinen BMW auf einem Rasenstück ab. Dann stieg er aus. Das Wissen, dass er diese Chance unbedingt nutzen musste, dass er es einzig hier und jetzt in der Hand hatte, sein Leben zu retten, verlieh ihm immerhin Willenskraft genug, um die zittrigen Beine unter Kontrolle zu bekommen.

Die wirren Gedankenfetzen, die seit dem Anruf heute Morgen sein Hirn malträtiert und ihm höllische Kopfschmerzen beschert hatten, waren wie weggeblasen. Sein Schädel pochte zwar, doch ansonsten fühlte er nur eine große Menge Nichts. Sein Kopf war so leer wie eine Western-Einöde, durch die Tumbleweeds wehen. Am liebsten wäre er nach Hause gefahren und hätte sich im Bett verkrochen. Bis zum Frühjahr.

Das Tor zum Grundstück stand offen. Er hielt nach dem obligatorischen gestreiften Polizeiband Ausschau, das er aus dem Fernsehen kannte, fand aber nichts dergleichen. Natürlich nicht, der Tatort lag neun Kilometer entfernt in der Innenstadt. In Ludwigs Büro.

Er duckte sich hinter einen Busch und hoffte inständig, dass ihn niemand entdeckte. Ein sechzigjähriger Anzugträger im Kaschmirmantel, der sich wie ein kleiner Junge im Gebüsch verschanzte, musste unweigerlich auffallen. In diesem Moment sah er etwas, das seinen Atem stocken ließ.

Frieda stürmte aus dem Tor.

Seine Hände fühlten sich augenblicklich glitschig an, als er sich bewusst machte, was es bedeuten würde, wenn sie ­einen Blick die Gasse hoch werfen würde, wo sein Auto stand. Halb schloss er die Augen, als könnte er sie auf diese Weise dazu bewegen, ebenfalls weniger zu sehen. Sie marschierte, ohne sich umzudrehen, die Haydngasse abwärts. Vor Erleichterung schloss er die Augen ganz. Er würde das Glück nur noch ein einziges Mal strapazieren müssen, nur für die nächsten zehn Minuten. Bitte. Danach würde er ein anständiger Mensch sein. Für immer.

Aus seinem Versteck beobachtete er den Eingang und versuchte zwischen zwei Möglichkeiten abzuwägen. Wobei er schnell merkte, dass er gar keine Wahl hatte. Es würde nichts bringen, förmlich an die geöffnete Tür zu klopfen und höflich zu fragen, ob man vielleicht eintreten und ein paar Dinge mitnehmen dürfe. Genauso zwecklos wäre es, der Polizei seine Hilfe anzubieten oder sich – offiziell – um die verwitwete, verwaiste Familie kümmern zu wollen. Nein, er musste es unbedingt vermeiden, sich der Polizei überhaupt zu zeigen. Seine einzige Chance bestand darin, ungesehen ins Haus zu kommen. Wilde Inkognito-Ideen stritten in seinem Hirn. Natürlich alles Unsinn.

Er musste unsichtbar werden. Und das ging nur auf eine einzige Weise. Er musste es irgendwie in den hinteren Garten schaffen, dort unbemerkt die schwere Falltür öffnen, die unter der Wiese begraben lag, und dann die etwa sechzig Meter durch den unterirdischen Gang bis direkt in Ludwigs Arbeitszimmer schleichen. Wo natürlich das nächste Problem auf ihn wartete: Ebendort würden sie am genauesten suchen.

Egal, es war der einzige Plan, den er hatte.

Der Drahtzaun, der den Garten begrenzte, war auf der linken Seite an einer Stelle undicht. Alexander wusste das, denn Ludwig hatte sich des Öfteren darüber beschwert, dass der Nachbarshund in seinen Garten gekrochen kam. Er konnte nur hoffen, dass eine Lücke, die groß genug für einen Ungarischen Hirtenhund war, auch ihn durchließ. In den Nachbarsgarten zu kommen stellte kein Problem dar, er war lediglich von Hecken umsäumt.

Er hatte so viel Glück, dass ihm für einen Moment ganz schwach wurde. Kein Hundegekläff war zu hören, als er sich durch die Zweige zwängte.

Geduckt schlich er an Ludwigs Zaun entlang. Es dauerte nicht lange, bis er die Stelle gefunden hatte. Sie war so groß, dass er zweimal durchgepasst hätte.

Er war drüben. Gebannt blieb er an den Zaun gedrückt hocken. Doch keiner der Kripobeamten hatte sich in den Garten verirrt.

In Hockstellung bewegte er sich ein paar Meter vorwärts. Mit klammen Fingern tastete er den feuchten Rasen ab. Hier irgendwo musste der schwere Eisenring sein. Er zwang sich ruhig zu bleiben, sein Blick unverwandt auf die Fenster gerichtet, während seine Hände ihre Arbeit taten.

Da, jetzt hatte er ihn. Mit beiden Händen befreite er die schwere Tür, auf der der Eisenring saß, von Erde. Im selben Moment wurde ihm bewusst, dass der Geheimgang nun sofort entdeckt werden musste, sobald man in die Nähe kam. Aber er hatte keine Zeit für Überlegungen. Sollte die Polizei das, wonach er suchte, vor ihm gefunden haben, dann brauchte er sich die nächsten Jahrzehnte um gar nichts mehr zu sorgen. Das würde dann der Staat für ihn erledigen.

Er zog an dem Ring, zerrte die Falltür in die Höhe, musste sie mit beiden Händen nach oben drücken, um hineinschlüpfen zu können. Seine Füße fanden keinen Halt auf der glatten Stiege. Ächzend prallte er mit dem Rücken auf die Steinstufen. Die Falltür schlug mit einem lauten Knall über ihm zu. Er starrte in die Dunkelheit. Wartete darauf, dass sie kamen.

Niemand kam.

Die Wände waren kalt und feucht, der Gang stockfinster, und er verfluchte sich dafür, dass er kein Feuerzeug dabeihatte. Dann fiel ihm ein, dass er sein Handy benutzen konnte. Mit Hilfe des Displays leuchtete er sich seinen Weg. Schritt für Schritt. Meter für Meter. Als er das Gefühl hatte, dass es sich höchstens noch um zehn, fünfzehn Fußlängen handeln konnte, die ihn von Ludwigs Arbeitszimmer trennten, lauschte er bei jedem Schritt, den er tat.

Die Bodenklappe, die aus dem Gang ins Arbeitszimmer führte, war aus dünnem Holz, wie er wusste. Ludwig hatte seit einem Jahr vorgehabt, beide Eingänge zum Geheimgang, sowohl den im Arbeitszimmer als auch den im Garten, mit einem Schloss zu verriegeln. Seine beiden Jungs waren in ein Alter gekommen, in dem sie sich auf eine aufregende Entdeckungsreise nur allzu gern eingelassen hätten. Und abgesehen davon, dass in der höhlenartigen Finsternis die Verletzungsgefahr viel zu groß war, vertrugen die Gespräche im Arbeitszimmer sicher keine Lauscher.

Alexander hangelte sich am Ende des Gangs mit den Händen die Treppe hinauf und drückte das Ohr gegen die Holztür.

Er vernahm entfernte Stimmen. Hauptsächlich tiefe Männerstimmen. Er konnte es nicht mit Sicherheit sagen, doch es klang, als hielte sich augenblicklich niemand im Zimmer auf. Jedenfalls waren weder Schritte zu hören noch das Aufziehen von Laden oder das Durchwühlen von Schränken. Und die Stimmen kamen aus anderen Räumen. Er wog das Risiko ab. Die Bodentür lag, unter einem Perserteppich verborgen, hinter einer kleinen, geschlossenen Bar. Sofern also niemand zufällig hinter die Theke schaute, konnte er unbemerkt aus dem Loch steigen, selbst wenn sich jemand in der Nähe aufhielt. Vorausgesetzt natürlich, er verursachte keinen Lärm.

Ein letztes Mal lauschte er angespannt, dann schloss er die Augen und drückte mit dem Kopf gegen die Bodentür. Sie gab ein knarrendes Geräusch von sich, das sein Trommelfell zum Schwingen und sein Herz zum Hämmern brachte. Panisch hielt er inne. Zwei Sekunden, drei Sekunden … dann gab er sich einen Ruck und stemmte mit aller Kraft seinen Hinterkopf dagegen.

Er musste die Schultern dazunehmen. Der Teppich, der auf der Falltür lag, war dick und schwer. Hektisch arbeiteten seine Hände daran, ihn wegzuschieben, so dass er sich aus dem Loch hieven konnte.

Ohne zu atmen lauschte er.

Die Stimmen waren nicht allzu weit entfernt. Er schätzte, dass sie aus der Halle kamen. Er zog sich an der Theke hoch, sein Blick schoss durchs Zimmer.

Leer.

Die schweren Flügeltüren jedoch waren geöffnet. Er zwängte sich unter den Schwingtürchen der Bar durch und kroch hinter den Schreibtisch. Er musste den Vorrat finden, die Liste finden, alle Hinweise auf seine Person finden und vernichten. An das Geburtstagsgeschenk mochte er gar nicht denken. Nein, das hatte nichts mit ihm zu tun. Er wollte es nicht. Er war nicht schuld. Der Reihe nach öffnete er die drei obersten Laden, tastete sich vorsichtig durch Schreibutensi­lien, Briefbögen und Büroklammern. Nichts. Die nächste Ladenreihe. Wieder nichts. Panisch riss er die beiden Kästchen auf, die sich links und rechts darunter befanden, steckte den Kopf hinein, stocherte verzweifelt nach hinten, fühlte, fasste, packte, doch nichts, das er in die Hände bekam, war von irgendeinem Nutzen für ihn.

Stimmen. Er stockte. Stimmen – und Schritte! Panisch kroch er unten den Schreibtisch, rollte sich zusammen wie ein Stein. Schritte von schweren Schuhen, ganz nah … er kniff die Augen zu – die Schuhe änderten ihren Kurs, nahmen die Treppe nach oben.

Er keuchte. Raus hier, raus! Gebückt floh er zur Bar, unter den Schwingtürchen durch, ins Loch hinein. Er packte den Griff der Falltür, wollte sie schließen, da fiel ihm der Teppich ein. Gott im Himmel! Verzweifelt versuchte er den Teppich über die Bodenklappe zu ziehen, so dass er, wenn sie geschlossen war, glatt darüber liegen würde.

Und wenn nicht, auch egal! Er musste weg.

Er kroch, krabbelte und robbte durch die Finsternis. Sein Atem schien ihm viel zu laut, als wäre das Geräusch auf Tonband aufgenommen und würde extra eingespielt.

Mit jedem Meter, den Alexander vorwärtskam, schlüpfte er weiter aus seinem Körper. Schließlich war er nur noch ein Beobachter, der diesem ungelenken Anzugträger dabei zusah, wie er sich über Stein und Schmutz quälte. Die Distanz zu dem hechelnden Mann wurde immer größer.

Bis seine rechte Hand sich in einem Haarbüschel verfing. Da kehrten die Gefühle in Alexander Strehls Körper zurück.