Das materialgestützte Schreiben aus literaturdidaktischer Perspektive

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Sprachhandlungen des Erörterns

Neben den zu erstellenden Textsorten, der Themenentfaltung und dem Aufbau sind die der Aufgabenart zugrundeliegenden Sprachhandlungen von besonderem Interesse. Aufgrund des hybriden Charakters der Aufsatzform der Erörterung soll an dieser Stelle eine Konzentration auf das Argumentieren stattfinden; das Interpretieren und Analysieren1 sowie das Berichten und Erklären werden an dieser Stelle vernachlässigt. Im Rahmen des Argumentierens führt Feilke folgende Handlungsschemata an: „Positionieren“, „Begründen & Schließen“, „Konzedieren“ und „Modalisieren“2. Diese Sprachhandlungen beinhalten sowohl die Anforderungen der Reflexion als auch der Analyse und der Repräsentation.3 Betrachtet man die illustrierenden Prüfungsaufgaben der BS AHR zum Erörtern, so werden diese Handlungsschemata nur zum Teil aufgenommen. So soll im Rahmen der Erörterung literarischer Texte der Interpretationsansatz des Regisseurs Michael Thalheimer erörtert werden, indem zwei Teilaufgaben in einem „strukturierten zusammenhängenden Text“4 bearbeitet werden: Die Darstellung der Thesen des Regisseurs – also eine Textwiedergabe – und die Überprüfung der Thesen. Das explizite Anführen einer eigenen Meinung wird nicht gefordert, ein dialogischer Charakter ist in der Aufgabe nicht angelegt. Betrachtet man die Beispielsaufgaben zur Erörterung pragmatischer Texte zum Thema Sprachwandel, so wird der Operator des Erörterns in folgende Teilaufgaben und damit auch Anforderungsbereiche unterteilt: „Arbeiten Sie die wichtigsten Argumente“ der Textvorlage heraus und „vergleichen Sie ihre zentrale Position zum Sprachwandel“5. In der zweiten Teilaufgabe wird gefordert: „Überprüfen Sie die Stichhaltigkeit der vorgestellten Positionen“, um zuletzt den eigenen Standpunkt begründet darzustellen. Während das Begründen und Positionieren in dieser Aufgabe explizit eingefordert wird, sind die Handlungen des Konzedierens und Modalisierens nicht gesondert angeführt. Die Erörterung eines literarischen Textes enthält im angeführten Beispiel einen nur schwer zu decodierenden argumentativen Kern.

Steht die Argumentationsfähigkeit im Zentrum, dann führt Mückel folgende Dimensionen an: „tiefes Sachverständnis, Verfügbarkeit adäquater sprachlicher Ausdrucksmittel, Kooperationsfähigkeit und Kommunikationsfähigkeit“6. Für das schriftliche Argumentieren werden dann „Dialogizität und virtuelle Interaktion, sachverhalts- und personenbezogene Mehrperspektivität und sprachlich sowie kognitiv komplexe Argumentationsführung“7 zentral. Auch für Steinseifer ist Argumentieren immer ein dialogischer Akt, eine Auseinandersetzung mit den verschiedenen Positionen, die im Rahmen einer Debatte vertreten werden. Bei der Verschriftlichung dieser Argumentation – sei es im Rahmen einer Erörterung oder einer materialgestützten Schreibaufgabe – jedoch erweist es sich als schwierig, da „der Dialog in der Distanzkommunikation eine virtuelle Form annimmt“8 und damit immer indirekt erfolgt. Während beim materialgestützten Schreiben diese Problematik aufgegriffen wird, indem der zu verfassende Zieltext nicht nur situiert, sondern an konkrete Adressat:innen gerichtet wird, bleibt die Schwierigkeit beim Erörtern erhalten, da die Adressat:innen sich „im Hintergrund“9 bewegen. Die Schreibenden müssen demnach diesen Dialog und einen potentiellen Dialogpartner mitdenken und die in den Materialien enthaltenen Positionen nicht nur im Rahmen einer eigenen Positionierung entschlüsseln, sondern in einer argumentativen Auseinandersetzung mit dem gedachten Gegenüber auch sichtbar machen. Es gilt demnach im Rahmen einer Argumentation – neben der Vermittlung von Denkmustern –, sich auf eine:n Partner:in zu beziehen und diese:n zu überzeugen. Die Plausibilität der Argumente wird jeweils mit den angenommenen und vorgestellten Leser:innen geklärt. Dadurch liegt beim Erörtern eine „Fiktion eines Lesers (bzw. einer Leserschaft)“10 vor, die im Rahmen materialgestützter Aufgabenformate durch das Anführen der Adressat:innen und einer kommunikativen Situation abgeschwächt wird.

Auch Pohl weist in seinem Beitrag Schriftliches Argumentieren darauf hin, dass der Charakter der Argumentation dialogisch sei. Obwohl dies bereits in 1980er Jahren postuliert wurde, liege bis heute keine ausgearbeitete linguistische Theorie dazu vor.11 Die Grundannahme besteht darin, dass Argumentieren immer ein Gegenüber impliziere, dem der eigene Standpunkt sowie die strittige Thematik erläutert wird. „Ohne das Einwirken eines – realen oder fiktiven – Dialogpartners besteht für den Sprechenden (oder Schreibenden) in der Regel keine Motivation, einen Wechsel der kommunikativen Ebene vorzunehmen: Sich selber über die eigenen Beweggründe zu belehren, ist unnötig“12. Das Argumentieren enthält demnach immer dialogische Sprachhandlungen, wie das „Zustimmen, Bestreiten, Nachfragen, Problematisieren, Zurückweisen“13. Gerade aber in der Erörterung sei für Pohl das dialogische Moment unterrepräsentiert. Dies treffe in besonderem Maße für die freie Erörterung zu, da hier ein heuristisches bzw. kreatives Argumentieren vorliege, das nur bedingt persuasive Punktionen beinhalte.

Das Fehlen eines dialogischen Charakters in der Erörterung mache sich für Pohl vor allem in dem Umstand bemerkbar, dass im Rahmen dieser Aufsatzform gefordert wird, Gegenargumente zu antizipieren sowie eine Meinungsverschiedenheit anzuführen, die eventuell für die Schreibenden gar nicht besteht. Daraus resultiert, dass die Teilhandlungen des Argumentierens nicht nur „fingiert werden, sondern darüber hinaus fiktiv sind“14. Dass diese Beobachtung im Wesentlichen auf die dialektische Erörterung zutrifft und weniger beispielsweise auf die literarische Erörterung, ist auch dem Umstand der Hybridität des Aufgabenformats geschuldet. Einen Ausweg aus der Problematik sieht Pohl im kooperativen Schreiben15 sowie in einer expliziten „Hinwendung zur Instanz des Adressaten“16. In diesem Kontext kann das materialgestützte Schreiben durchaus in einer Entwicklungslinie gesehen werden, die von der freien zur textgebundenen Erörterung ausgeht und die im letzten Schritt die Adressierung und die Situierung und damit ein dialogisches Schreiben in den Blick nimmt.

Fasst man die Probleme im Zusammenhang mit der Aufsatzform sowie dem Operator zusammen, so bewegen sich diese auf verschiedenen Ebenen: Ähnlich wie das Interpretieren findet auch das Erörtern in der Lebenswelt keine Entsprechung und kann daher als „didaktische Gattung“17 bezeichnet werden. Daraus resultiert, dass die Aufgabenstellungen unnatürlich sind, „abstrakte Übungen ohne Handlungszusammenhang“18. Aus dieser Beobachtung leitet Fritzsche das Plädoyer ab, die Themen der Erörterung an die Themen des Literaturunterrichts zu koppeln – eine Forderung, die sich auch auf materialgestützte Schreibaufgaben übertragen lässt. Sowohl ein wenig ausgeprägter Lebensweltbezug, eine fehlende Anbindung an unterrichtliche Inhalte und damit die Abwesenheit von thematischem Wissen bei den Schreibenden als auch der vorgegebene, eher monologische als dialogisch angelegte Rahmen sorgen für eine unscharfe, an Abgrenzung und inhaltlich-argumentativer Tiefe krankenden Schreibform. „Die schulische Praxis des Erörterungsaufsatzes fördert also nicht selten Oberflächlichkeit, Leichtfertigkeit und phrasenhafte Geschwätzigkeit. Das Vorlegen von Texten, zu denen Schüler Stellung nehmen sollen, verhindert das nicht, sondern verstärkt noch den Zeitdruck.“19

Auf das Problem der Abgrenzung der Formen ist bereits mehrfach verwiesen worden. Die Hybridität der Schreibform hat aber nicht dazu geführt, dass sich eine Variabilität in den Verwirklichungsformen ausgebildet hat. Baurmann und Ludwig kritisieren in ihrem Basisartikel in Praxis Deutsch in diesem Zusammenhang vielmehr, dass dies zu einer Reduktion auf unterschiedlichen Ebenen geführt habe. So finde eine Fokussierung auf Wertefragen statt, die eine Eingrenzung bedeute. Weiterhin sei es problematisch, dass es – im Sinne der thesis – um ein allgemeines Problem gehen solle. Dies aber widerspreche dem Lernen der Kinder, das sich an konkreten Fragen orientiert. Weiterhin erachten die Autoren es als eine Reduktion, dass im Erörterungsaufsatz alle subjektiven Bezüge entfernt werden: „Die Ausmerzung aller subjektiven Züge des schreibenden Individuums, die Vernachlässigung jeglichen Leserbezugs sowie die ausschließliche Konzentration auf das zu erörternde Problem haben zu einer Verarmung dieser Aufsatzform geführt, die es aufzuheben gilt.“20 Das Anführen von Gegenargumenten beim dialektischen Erörtern führe zudem zu einem geringen Wirklichkeitsbezug der Aufsatzform.

Baurmann und Ludwig plädieren hingegen dafür, die Muster der Argumentation als „Suchformen“21 zu gebrauchen, die helfen, die eigenen Gedanken zu ordnen. Die Aufsätze selbst aber sollen dialogisch und Ausdruck der eigenen Gedanken und Haltung zu dem Thema sein. Ob diese Stufe allerdings während der Schulzeit erreicht werden könne, bezweifeln die Autoren.22 Damit aber wird das Erörtern eher als Lernmedium verstanden, das es den Schreibenden ermöglicht, sich über einen Sachverhalt Klarheit zu verschaffen und einen eigenen Standpunkt einzunehmen, denn als eine Aufsatzform. Dieser Forderung weiterdenkend kann das materialgestützte Schreiben, das explizit Adressat:innen – und damit den dialogischen Charakter – aufnimmt und einen lebensweltlichen Zieltext anführt, als Weiterentwicklung der Erörterung verstanden werden. Schüler:innen müssen explizit einen eigenen Standpunkt einnehmen, sich von anderen Meinungen abgrenzen und die Positionierung in einem Zieltext darlegen. Dass diese Ansätze bereits im Erörtern angelegt sind, deutet Fritzsches Einschätzung an, wenn er erläutert, in welchem Zusammenhang das Erörtern erfolgt, nämlich in „Rede, Plädoyers, Streitschriften, Gutachten, Rezensionen, Kommentaren, (Leser)Briefen u.ä.“23 Die Ähnlichkeit der Zieltextsorten mit denen des materialgestützten Schreibens ist augenfällig. Werden aber variable Textsorten mit Lebensweltbezug berücksichtigt, dann steigen mit den Chancen auch die Anforderungen und es ist in diesem Sinne mit Baurmann und Ludwig kritisch zu fragen, ob dies von Schülerinnen und Schülern zu leisten ist. Eine Antwort auf diese Fragen soll im Rahmen der empirischen Untersuchungen – siehe Kapitel III. 2 und III.3 – angebahnt werden.

 

I.3.3 Handlungs- und Produktionsorientierung (HPU)

Im Rahmen der Darstellung der Geschichte des deutschen Aufsatzes wurde auf die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzende Trennung von einer ästhetischen Auseinandersetzung mit Literatur und der Stilistik sowie der damit verbundenen eigenständigen Textproduktion eingegangen. Der in den 1980er Jahren aufkommende handlungs- und produktionsorientierte Literaturunterricht1 kann in diesem Kontext als eine „Revision“2 verstanden werden, der diese Trennung aufzuheben sucht. Ziel ist es, die ästhetische Dimension der Literatur wieder in den Verstehensprozess zu integrieren. „Literatur gehört einerseits zum diskursiven Symbolsystem, aber aufgrund ihrer ästhetischen Form, der Bilder und der musikalischen bzw. lyrischen Qualität, zugleich zum präsentativen Symbolsystem.“3 Das an literarischen Texten angelegte Schreiben, die als Muster bzw. Vorbilder verstanden werden, verfolgt dabei im Wesentlichen die Funktion, die Lust am Lesen4 sowie die Sprachvariabilität der Schreibenden zu erhöhen und diese dadurch mit literarischen Texten bekannt zu machen und ein literarisches Verstehen anzubahnen. Fingerhut fordert in diesem Zusammenhang „Teilnahmeverfahren“5, die jenseits eines ausschließlichen Interpretierens liegen. Die einzelnen Vertreter des handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterrichts teilen trotz ihrer inhaltlichen wie methodischen Differenzen die Einschätzung, dass ein überwiegend analysierender und interpretierender Deutschunterricht weder den Bedürfnissen der Schüler:innen noch dem Lerngegenstand selber – der Literatur – gerecht wird. Grundfrage der Diskussion zwischen HPU und analytischen Texterschließungsverfahren ist somit das Verhältnis von Textanspruch und Textverstehen. Dieser Aspekt der Autonomie und Literarizität gestaltet sich jedoch immer dann diffizil, wenn der Grad an Unbestimmtheitsstellen der Texte, beispielsweise bei moderner Lyrik oder Prosa, besonders hoch ist. Die Verschiebung vom diskursorientierten zum handlungs- und produktionsorientierten Schreiben soll im Folgenden zunächst literaturwissenschaftlich im Kontext der Rezeptionsästhetik verortet werden. Im nächsten Schritt werden die Grundgedanken sowie die Kritik am HPU aufgezeigt, um zum Schluss die Überschneidungen zum Format des materialgestützten Schreibens zu analysieren.

Das materialgestützte Schreiben im Kontext eines Aufgabenformates zu betrachten, in dessen Zentrum die Auseinandersetzung mit literarischen Texten steht, mag zunächst abwegig erscheinen, zumal beim handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterricht in der Regel nur mit einem literarischen Text gearbeitet wird. Das Schreiben zu und mit diesem Text dient dem Verständnis und der Konfrontation mit seiner Literarizität und Autoreferenzialität. Gemeinsam haben die beiden Aufgabenformate aber nicht nur einige Zieltexte, beispielsweise den Kommentar, den (Leser-)Brief sowie die Rezension.6 Gemeinsam ist ihnen zudem das Fördern einer Sprachvarianz durch das Verfassen unterschiedlicher Texte sowie das Entwickeln einer eigenen Haltung gegenüber dem Gegenstand, zu dem ein Text bzw. ein Textausschnitt geschrieben wird: Durch die Produktion eines inneren Monologs beispielsweise oder durch die Modernisierung einer Textpassage nimmt der Leser bzw. die Leserin eine Haltung gegenüber der literarischen Vorlage ein, die sich im Zieltext artikuliert. Im Rahmen einer materialgestützten Schreibaufgabe muss sich der Schreibende ebenso gegenüber dem Thema positionieren und diese Position anhand der ihm zur Verfügung gestellten Materialien adressatenbezogen begründen.

Wenn Abraham zwischen affektiven und kognitiven Schreibarten unterscheidet, dann impliziert diese Unterteilung immer auch eine Auseinandersetzung mit Produktions- und Rekonstruktionsprozessen: Lesen stellt ein Nachvollziehen dar, eine Beschäftigung mit dem, was gegeben ist. Daraus resultiert aber für Abraham ein Problem der Authentizität:

Bezweifeln will ich etwas ganz anderes [gemeint ist hier die Notwendigkeit des genauen Lesens von Texten und das Schreiben darüber. N.K.]: Daß sich unsere Schüler in dem, was sie über die „geschriebenen Dokumente“ unserer Literatur in der Regel zu Papier bringen, überhaupt noch selber finden – mit ihrem je eigenen Anspruch auf Rekonstruktion von “Authentizität“ zu ihren eigenen Bedingungen.7

Leidet demnach der analysierende Literaturunterricht an einer Distanzierung der Lesenden von den literarischen Texten und damit an einer mangelnden Involviertheit, so geht es dem HPU und seinen Vertretern darum, dass die Schüler:innen eine eigene Vorstellung gegenüber dem Lerngegenstand entwickeln8 und diese in unterschiedlichen Ausprägungsformen der Produktion artikulieren.

Die in der Schule realisierten Schreibformen aber fokussieren im Wesentlichen auf eine Distanzierung: Es dominieren – vor allem in der gymnasialen Oberstufe – die Interpretation mit der Inhaltsangabe und Analyse des literarischen Textes sowie die Erörterung. Im Rahmen des Interpretationskapitels9 wurde deutlich, dass der Vorgang des Interpretierens selbst eine Suchbewegung darstellt, die auf die Unmöglichkeit, eine Eindeutigkeit des Verstehens herzustellen, reagiert. Ist aber Interpretieren ein Problemlösen, das zwischen Such- und Prüfprozessen oszilliert,10 dann ergibt sich daraus für Abraham eine „Distanzierung von den Stimuli und Problemkernen der Literatur“11. Auf die Verarmung der Schreibformen haben im Kontext der Erörterung bereits Baurmann und Ludwig12 verwiesen. Soll dieser Verarmung entgegengewirkt werden, so ist es erforderlich, dass neben den diskurs- und kognitionslastigen Schreibformen, die versuchen, einen objektivierenden Standpunkt einzunehmen, auch affektorientierte im Unterricht praktiziert werden. Diese Ansätze artikulieren sich sowohl in Waldmanns Phasenmodell als auch in Spinners Vorstellung des Literarischen Lernens; auf beide Ansätze wird im Folgenden noch näher eingegangen. Es geht demnach nicht um eine Abwertung einzelner Schreibformen, sondern um ein Plädoyer für mehr Vielfalt.

Abraham verortet die Auseinandersetzung mit und das Schreiben über Literatur in diesem Zusammenhang zwischen Konkretisation – das Repräsentieren des Textes z.B. in Form der Nacherzählung – und der erschließenden Interpretation. Während die Konkretisation überwiegend gerichtet erfolgt,13 ist die Interpretation hingegen richtend. Das gestaltende Schreiben nimmt in diesem Zusammenhang einen Zwischenbereich ein: Wenn ein Text paraphrasiert wird, die Handlung an einen anderen Ort versetzt oder die Geschichte aus der Perspektive einer anderen Person verfasst wird, dann geht es weder um ein identifikatorisches Nachvollziehen des Textes noch um eine Textanalyse. Dieses „Nach-, Um- oder Neugestalten“ sei eine Art „Übungs- und Stilraum, in dem alles erlaubt ist, was einen Aspekt des Ausgangstextes erhellt“14. Ziel ist es, dass hierdurch die Schüler:innen „schreibend hinein[ge]kommen“15 in den Text.

Um zu verdeutlichen, was dieses Hineinkommen in einen Text konkret bedeutet und welche Erfordernisse sich daraus für die Lesenden und Schreibenden ergeben, lohnt es sich, Waldmanns Modellskizze einer literarischen Hermeneutik, auf der sein didaktisches Phasenmodell literarischen Verstehens basiert, in den Blick zu nehmen. Grundgedanke ist ein differenztheoretischer Ansatz: Literarische Texte zeichnen sich in formaler und inhaltlicher Hinsicht durch ihre Differenz zur Alltags- und Umgangssprache aus. Die Verschiedenheit entsteht durch den Bezug zur Wirklichkeit und artikuliert sich besonders durch die Phänomene der Vereinfachung, der Verallgemeinerung sowie der Schematisierung der Alltagssprache.16 Je weniger Erfahrungen die Leser:innen mit der Autoreferenzialität literarischer Texte haben, die innerhalb der einzelnen Gattungen noch stark differieren, desto größer ist das Gefühl der Fremdheit und Irritation bei der Rezeption, das bis zum Abbruch der Lektüre führen kann.

Literarisches Verstehen ist für Waldmann die Wahrnehmung der „Differenzen zu Alltags- und Gebrauchstexten sowie zur realen Wirklichkeit“17, der Produziertheit und Intertextualität literarischer Texte. Dabei existieren zum einen Außendifferenzen zu Sachtexten, aber auch Binnendifferenzen, die die produktionsästhetischen Entscheidungen der Schriftsteller:innen und damit formale und inhaltliche Entscheidungen markieren, beispielsweise für einen Erzählertyp, ein Reimschema oder eine Raumkonstellation. In diesem Zusammenhang übernimmt die Rezeptionsästhetik eine entscheidende Rolle. Auf die Bedeutung der Rezeptionsästhetik für den handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterricht haben u.a. Kammler18 sowie Haas, Menzel und Spinner19 verwiesen. Literarisches Verstehen bedeutet demnach nicht nur ein Nachvollziehen der Differenzen und damit der Produziertheit des literarischen Textes, sondern auch eine Zuweisung von Bedeutung, „in der die Sinnkonstitution des Textes zu einer unverkennbaren Aktivität des Lesers wird.“20 Wenn Iser konstatiert, dass Fiktion und Welt nicht identisch sind, dann resultiert für ihn daraus eine Kommunikation zwischen Text und Leser:in: „Die mangelnde Deckung manifestiert sich in Unbestimmtheitsgraden, die zunächst weniger solche des Textes als vielmehr solche der im Lesen hergestellten Beziehung von Text und Leser sind. Unbestimmtheitsgrade dieser Art funktionieren als Kommunikationsantriebe und bedingen die ‚Formulierung’ des Textes durch den Leser.“21 Der Text enthält einen Aufforderungscharakter, die Tätigkeit des Lesens versteht Iser deshalb als Entdeckung am Text, die automatisch Freiheit impliziere und ein „ästhetisches Vergnügen“22 darstelle. Das impliziert: „Sinn ist generell keine Eigenschaft der Dinge“23 und damit niemals im Text enthalten; er wird vielmehr von den Lesenden zugewiesen. Für die Vertreter des HPU bedeutet dies, dass sich der „Umgang mit Texten nur (!) in einem Eingreifen und einem Dekonstruieren (Aufbrechen) der scheinbaren Geschlossenheit“24 artikuliert.

Jeder Prozess des Lesens stellt somit einen Eingriff in den Text dar, die Rezeption lässt sich nicht von der Produktion trennen. „Diese spezifische Rezeptionsform ist nicht bloß Re-Produktion (wie es die klassische Hermeneutik unterstellt), auch nicht eigenständige Produktion (wie es die Poststrukturalisten unterstellen), sondern es ist eine durch das Text-Leser-Verhältnis hergestellte Produktion.“25 Zentrale Frage des HPU ist demnach, wie eine Produktion der Schüler:innen angeleitet werden kann und wie ein Verhältnis zwischen Text und Leser:in hergestellt wird, das weder Text noch Leser:in absolut setzt und damit die analytische wie die ästhetische Dimension des Textes gleichermaßen berücksichtigt und keine Opposition zwischen analytischen und produktionsorientierten Zugängen zum literarischen Text entstehen lässt.

Wenn Ingarden im Kontext der Sinnzuweisung von „Unbestimmtheitsstellen“26 und Iser von „Leerstellen“27 spricht, dann beinhalten diese Begriffe trotz ihrer philosophischen und literaturwissenschaftlichen Differenzen die Gemeinsamkeit, dass die Lesenden beim Versuch, den literarischen Text zu verstehen, zu Ko-Produzenten werden. In der Auseinandersetzung mit dem Begriff der Leerstellen geht es somit weniger um das, was der Text in Bezug auf seine Figuren oder Handlung ausspart, denn um die Rolle der Leser:innen beim Erschließen des Textes. Damit sich diese die fiktive Welt vorstellen können, müssen sie auf der Basis der sich ihm im Text präsentierenden Welt eine Re-Konstruktion vornehmen und die einzelnen Merkmale des Textes zu einem Vorstellungsbild zusammenfügen. Die Leser:innen nehmen für Waldmann in diesen Zusammenhang eine „Sinnaktualisierung“28 vor. Daraus resultiert, dass beim Lesen stets eine „imaginative Konkretisation“29 stattfindet, da der Text in der Regel keine vollständigen Wahrnehmungsbilder liefere. Verfahren, um diesen Prozess anzuleiten, sind z.B. das Illustrieren von Texten, das Anfertigen einer Rollenbiographie, das Verfassen von Fragen an die Figur, das Antizipieren von Handlungen oder das Beschreiben von Requisiten, die für das Geschehen eine wichtige Rolle spielen.30

Wenn aber Leser:innen in diesem Sinne zu entdeckenden Ko-Produzent:innen werden, dann müssen sie selber ihre Rolle entdecken: „Damit aber der Leser diese Rolle selber entdeckt, darf ihm der Roman selbst keine zuweisen.“31 Obwohl diese Sinnzuweisung individuell erfolgt, müsse und könne diese besonders aus Sicht der Vertreter des HPU angeleitet werden. Dabei geht es nicht nur um ein Mehr an Lektüreerfahrungen, die die Wahrnehmung verändern, sondern auch um eine aktive und damit produktive Auseinandersetzung mit literarischen Parametern. Das impliziert weniger ein Auflösen der Mehrdeutigkeiten und damit eine Engführung literarischer Aussagen,32 sondern zunächst das Herstellen einer Beziehung zwischen Text und Leser:in. Dass jedoch nicht nur die Rezeptionsästhetik, sondern auch die Dekonstruktion33 und die konstruktivistische Literaturtheorie34 maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung des HPU gehabt haben, soll stellvertretend anhand der Position Rupps aufgezeigt werden:

 

Nur (!) wenn durch Dekonstruktion der literarischen Texte und die durch sie gebildeten Bedeutungen wieder elementarisiert werden und die Schüler konkret und materiell durch Eingreiftexte zu Alternativen und zu dem realen semiotischen Reichtum in den literarischen Texten hingeführt werden, ist die Chance gegeben, daß sie sich als ‚Subjekte im kulturellen Bereich‘ (Müller-Michaels) erfahren und verstehen.35

Bremerich-Vos hebt in diesem Kontext darauf ab, dass Hermeneutik und Dekonstruktion insofern eine Schnittmenge bilden, als dass sich der Sinn des literarischen Textes nicht objektivieren lässt.36

Aus diesen Prämissen leitet Waldmann eine Modellskizze einer literarischen Hermeneutik37 ab, die das Herstellen eines Bezugs des literarischen Textes auf das Sinnsystem der Leser:innen und damit verbunden die Abgrenzung zu anderen Texten, das Markieren der Literarizität und der Kontextualisierung beinhaltet. Eine so verstandene Hermeneutik stellt die Grundlage eines didaktischen Phasenmodells dar:


Vorphase: Spielhafte Einstimmung in literarische Texte
1. Phase: Lesen und Aufnehmen literarischer Texte
2. Phase: Konkretisierende subjektive Aneignung literarischer Texte
3. Phase: Textuelles Erarbeiten literarischer Texte
4. Phase:

Die Parallelität zu Spinners Ansatz des literarischen Lernens39 wird hier offensichtlich: Bevor das spezifisch Fiktionale des jeweiligen Werkes erarbeitet wird – wie die sprachliche Gestaltung, die Figurenkonstellationen oder die metaphorische Ebene – ist es entscheidend, dass die Leser:innen Vorstellungen vom Gelesenen entwickeln, genau wahrnehmen und damit subjektiv involviert werden. Waldmanns Modell zeigt die unterschiedlichen Phasen der Auseinandersetzung mit literarischen Texten, denen verschiedene Methoden der aktiven Rezeption und Produktion zugeordnet werden. Deutlich wird, dass sich der handlungs- und produktionsorientierte Literaturunterricht in der Pflicht sieht, den Kontakt zwischen Text und Leser:in herzustellen: „Literaturunterricht öffnet zunächst die Tür in die fiktionale Welt der Literatur (…). Literaturunterricht vermittelt Impulse zum intensiven Verweilen im Raum der der Literatur.“40