Das materialgestützte Schreiben aus literaturdidaktischer Perspektive

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I.3 Das materialgestützte Schreiben im Rahmen schulischer Textformen und Aufgabenarten
I.3.1 Die Interpretation

„Eine Interpretation ohne ein gewisses Maß an Kreativität würde unseren Interessen und Zielen nicht dienen, weil sie auf nichts anderes als eine Wiederholung des interpretierten Textes hinauslaufen müsste. Interpretationen sind entweder kreativ oder überflüssig.“1 Obwohl das Interpretieren eine zentrale Tätigkeit und ein Aufgabenformat des Deutschunterrichts in der Mittel- und Oberstufe darstellt, verweist Wieser zutreffend darauf, dass das unterrichtliche Tun häufig sehr unterschiedlich ist, wenn Schüler:innen Interpretationskompetenzen erlangen.2 Das liegt auch in dem Umstand begründet, dass es sich beim Interpretieren ebenso wie beim Erörtern um einen Makrooperator handelt, der unterschiedliche Teilhandlungen beinhaltet. Zudem ist die Interpretation Textform und Aufgabenformat in einem, was nötig macht, die „dialektische Verschränkung von Konstruktions- bzw. Such- und Prüfprozessen beim Interpretieren“3 in den Blick zu nehmen. Wenn es um die Einführung und Etablierung des materialgestützten Schreibens als neuem Aufsatzformat geht, dann stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, welche theoretischen und didaktischen Überschneidungen zwischen dem Interpretieren und dem materialgestützten Schreiben existieren. Es gilt zu klären, was die entscheidenden theoretischen, der Interpretation zugrundeliegenden Konzepte sind, die als Ausgangspunkt für didaktische Schreibmodelle dienen können, die im Kontext des materialgestützten Schreibens zum Einsatz kommen.

Im Rahmen dieses Kapitels wird es nicht möglich sein, eine umfassende Einführung in die Theorie der Interpretation und der entsprechenden didaktischen Konzepte vorzunehmen. Vielmehr sollen einzelne theoretische Positionen skizziert werden, die ermöglichen, das Format des materialgestützten Schreibens einzuordnen sowie vom Interpretieren abzugrenzen. Dabei soll zunächst der Begriff der Interpretation allgemein gefasst werden, um diesen dann im nächsten Schritt auf das Interpretieren im Literaturunterricht zu beziehen. „Eine wichtige Aufgabe der Interpretationstheorie besteht darin, typische Ziele des Interpretierens zu identifizieren und für ihre Angemessenheit zu argumentieren.“4 Sowohl der Reader Moderne Interpretationstheorien als auch der Tagungsband Interpretationskulturen demonstrieren dabei im Nebeneinander der unterschiedlichen Theorien die Ambivalenz und Brüchigkeit des Interpretierens. Ziel ist es demnach, die jeweiligen Ansätze hinsichtlich ihrer didaktischen und unterrichtlichen Konsequenzen zu befragen.

Betrachtet man die unterschiedlichen theoretischen Konzepte zum Interpretieren, dann wird deutlich, dass sich diese im „Spannungsfeld von Erklären und Verstehen“5 und von „Normierung und Individualisierung“6 bewegen. Auf der Ebene der Aufgabenkonstruktion und der Operatoren zeigt sich dies in der Abgrenzung der Interpretation von der Analyse. Staigers Konzept der Werkimmanenz geht vom Individuellen aus und hat den Umgang mit literarischen Texten im wissenschaftlichen wie schulischen Kontext nachhaltig geprägt und zeigt seinen Einfluss noch heute. Dabei steht im Zentrum zu begreifen, was den Lesenden bei seiner Lektüre ergreift. Damit ist Ausgangspunt der Interpretation die affektive Wirkung. Interpretieren wird verstanden als der Schritt vom Ergriffensein zum Begreifen. Staiger betont in diesem Zusammenhang, dass die Literaturwissenschaft auf das Fundament gestellt werden müsse, das dem Wesen der Literatur und „dem Dichterischen gemäß ist, auf unserer Liebe und Verehrung, auf unserem unmittelbaren Gefühl.“7 Dieses Gefühl gilt es am Text nachzuweisen und zu überprüfen. Gleichzeitig impliziert dieser Ansatz, dass Interpretieren immer ein in seiner Darstellung einseitiger, offener und nicht abgeschlossener Prozess ist.

Neben der Betonung der Wirkung, die der Text auf Leser:innen ausübt, haben Gadamers Regel, dass man das Ganze aus dem Einzelnen und das Einzelne aus dem Ganzen verstehen müsse, sowie sein Verständnis des hermeneutischen Zirkels schulisches Interpretieren nachhaltig geprägt: „Die Aufgabe ist, in konzentrischen Kreisen die Einheit des verstandenen Sinns zu erweitern. Einstimmung aller Einzelheiten zum Ganzen ist das jeweilige Kriterium für die Richtigkeit des Verstehens.“8 Grundannahme dieses Ansatzes ist zunächst, dass der in den Blick genommene Text eine prinzipiell sinnvolle, kohärente Aussage enthält. Das Verständnis der Rezipient:innen beginnt zunächst mit ihrer eigenen Meinung zu dieser Aussage. Dieses Vorverständnis ist daher im ersten Schritt inhaltsbezogen und passt sich im weiteren Prozess des Verstehens dem Text an. „Verstehen heißt primär: sich in der Sache verstehen, und erst sekundär: die Meinung des anderen als solche abheben und verstehen.“9 Für Gadamer ist Verstehen damit immer ein Entwerfen: Der Leser trägt bestimmte Erwartungen an den Text heran, es kommt zu einer ersten Konstruktion von Sinn, die sich an den Passagen des Textes orientiert, die die Lesenden bereits verstehen. Zugang zu dem Text erhalten diese demnach nur durch das, was sie am Text berührt bzw. anspricht. Der Text präsentiert sich somit in der Differenz der eigenen Voreingenommenheit zur Andersartigkeit der im Text dargestellten Wirklichkeit. Damit ist der persönliche Zugang zum Text, seine unmittelbar ästhetische Dimension, für Gadamer die oberste aller hermeneutischen Bedingungen.10 Um nicht in den eigenen Vorstellungen und Vorurteilen zu verharren, ist es erforderlich, dass Lesende Fragen an den Text stellen und diese in einer wiederholten Lektüre am Text überprüfen. Für Lessing-Sattari ist in diesem Zusammenhang Textverstehen und Interpretieren ein Problemlösen, das im Kontext hermeneutischer Suchbewegungen betrachtet werden muss.11 So lassen sich die Parameter für Probleme – die Komplexität, Vernetztheit, Dynamik, Intransparenz und Polytelie12 – auch auf den Umgang mit literarischen Texten übertragen. Verstehen ist somit immer ein Annäherungsprozess. Für den schulischen Kontext ist neben dem Grundkonzept des hermeneutischen Zirkels von Bedeutung, dass durch die Fokussierung auf die Voreingenommenheit der Leser:innen Gadamers Theorie den Trugschluss der Objektivität und Abgeschlossenheit der Interpretation offenbart. Diese Einsicht aber hat nachhaltige Konsequenzen für die Aufgabenkonzeption und Bewertung von Interpretationsaufsätzen.

Dass trotz dieser Aspekte ein Interpretieren von Texten sinnvoll und erforderlich ist, hängt vor allem mit den Leer- und Unbestimmtheitsstellen von Literatur zusammen. Aufgrund der Offenheit, Inkohärenz und Mehrdeutigkeit der Texte verstehen die Leser:innen zwar nicht immer alles, was sie lesen, aber sie nehmen Literatur wahr. Diese Wahrnehmung erfordert eine Deutung. Wenn Hermerén13 in diesem Zusammenhang eine Unterscheidung von Interpretationstypen und -kriterien vornimmt, dann muss darauf verwiesen werden, dass er explizit zwischen der Interpretation als Prozess und als Produkt differenziert.14 Die von Staiger aufgestellte Frage sollte demnach dahingehend erweitert werden, dass von Interesse ist, was die Leser:innen vom Verstehen und im nächsten Schritt vom möglichen Ergriffensein abhält. Um diese Fragen zu klären, lohnt es sich, Hermeréns Formel zu folgen: „X interpretiert Y als Z für U um zu V“15. Dieses Schema zeigt die große Bandbreite in Bezug auf die Autorinnen und Autoren von Interpretationen (u.a. Prediger, Historiker, Philologen, Psychologen, Musiker, Ärzte, Theologen), den Gegenstand (u.a. Träume, Bilder, Ereignisse, Formeln, Handlungen, Texte), den Aspekt16 und die Adressierung (u.a. Patient:innen, Jurymitglieder:innen, Kirchenbesucher:innen, Politiker:innen, Rechtsanwält:innen). Untersucht man den Zweck von Interpretationen, so führt Hermerén die Rekonstruktion historischer Prozesse, das Herstellen von Kohärenz, die Vorhersage zukünftiger Ereignisse, die Beeinflussung von Urteilungen und Meinungen, die Lenkung von Aufmerksamkeit, das Ermöglichen von Entscheidungsgrundlagen, die Lösung von Problemen, das Herausarbeiten von Ideen sowie die Aufklärung und Emanzipation der Adressat:innen an.17 Fragt man nach den sich aus diesen Aspekten abzuleitenden Kriterien einer Interpretation, dann zeigt Hermerén zurecht die Schwierigkeit dieses Unterfangens auf: „Es ist in meinen Augen recht offensichtlich, dass es keine ausschließlich gültigen [definitive] oder korrekten Interpretationen geben kann, wenn »Interpretation« im Sinne einer Applikation (Nachweis von Relevanz), einer theoretischen Umdeutung oder einer Steigerung des Wertes verstanden wird.“18

Wurden bereits an mehreren Stellen die Brüchigkeit und die Schwierigkeiten des Interpretierens deutlich, so spitzt Sontag diese Problematik zu, indem sie in ihrem Aufsatz Gegen Interpretation postuliert, dass das Interpretieren nicht den natürlichen und vor allem den unausweichlichen Umgang mit Literatur darstelle. Für Sontag ist das Interpretieren die Suche nach der Bedeutung eines Werkes, die danach zielt, etwas hinter dem Werk zu finden. Dadurch werde die unmittelbare Sinnlichkeit des Werkes zurückgedrängt und das Werk werde zur Durchgangsstation auf dem Weg zu Bedeutung. Interessant sind in diesem Zusammenhang die Parallelen zur Diskussion um die Rechtfertigung des HPU und damit zu Küglers Kritik am Eingriff in die Autonomie des Kunstwerks; siehe dazu auch Kapitel I.3.3.2.

Kunst aber, so Sontags Forderung, solle helfen, die Sinne wiederzuentdecken. „Diese Überbetonung des Inhaltsbegriffs bringt das ständige, nie erlahmende Streben nach Interpretation mit sich. Und umgekehrt festigt die Gewohnheit, sich den Kunstwerken in interpretierender Absicht zu nähern, die Vorstellung, dass es tatsächlich so etwas wie den Inhalt eines Kunstwerkes gibt.“19 Interpretieren stelle damit eine Art Übersetzung der Aussage des Werkes dar, die sich an den Interessen der Leser:innen orientiere und damit häufig „die Verbeugung der Mittelmäßigkeit vor dem Genie ist. Es stellt in der Tat die moderne Weise des Verstehens dar, und es wird daher auf die Werke jeder Qualität angewandt.“20 Damit aber ist die Interpretation häufig reaktionär und wenig kreativ. Die größte Gefahr der Interpretation sieht Sontag in der Tatsache, dass sie das Empfindungsvermögen zerstöre und der Intellekt die Vorherrschaft vor der Kunst einnehme. Zentrales Anliegen müsse es demnach sein, aufzuzeigen, weshalb wir welche Erfahrung haben. Es könne aber nicht darum gehen, diese Erfahrung zu deuten.

 

Interpretieren versus Interpretationsaufsatz

Betrachtet man das schulische Interpretieren, so werden die angedeuteten Oppositionen zwischen „Kunst und Kompetenz, Erfahrung und direkte Instruktion, Kreativität/Innovation und Kriterienorientierung“1 noch offensichtlicher. Solange es sich beim Interpretieren um einen Operator und beim Interpretationsaufsatz um ein abiturrelevantes Aufgabenformat handelt, setzt schulisches Interpretieren dabei an, dass es sich um ein bewusstes, und demnach ein lehrbares Vorgehen und nicht bloß um eine individuelle Wahrnehmung handelt. Interpretationshandlungen, die in dem Verfassen eines Interpretationsaufsatzes münden, sind demnach immer Problemlösevorgänge.2 Ausgehend von einer Begriffsklärung sollen Schwierigkeiten und Chancen des Aufgabenformates aufgezeigt werden. Fritzsche definiert die Interpretation als die „schriftliche Ausarbeitung des Verständnisses eines poetischen Textes.“3 Dabei sei die Abgrenzung zur Analyse nicht immer eindeutig. So lasse sich der Ausdruck der Interpretation den verstehenden hermeneutischen Wissenschaften zuordnen, der der Analyse den erklärenden empirischen.4

Vergleicht man diese gängige Definition mit den BS AHR des Faches Deutsch,5 offenbart sich die Schwierigkeit der Begrifflichkeit. So wird beispielsweise im Abitur von den Schülerinnen und Schülern die Interpretation einer Dramenszene gefordert. Dazu sollen sie ein Gespräch im Drama analysieren und im nächsten Schritt Galileis Selbstgespräch interpretieren. Die Musteraufgabe der Bildungsstandards ermöglicht weder eine Zuordnung der Operatoren zu unterschiedlichen Textarten – Analyse pragmatischer Texte, Interpretation poetischer Texte – noch zur Textmenge (Textausschnitt, Textganzes). Auch eine Unterscheidung von Prozess und Produkt kann in der vorliegenden Aufgabe nicht intendiert sein. Es bleibt unklar, was es heißt, wenn Schüler:innen einen Text interpretieren oder analysieren sollen. Diese Unschärfe verwundert besonders vor dem Hintergrund, dass es sich bei der Interpretation um ein vorherrschendes Abiturformat handelt.

Auch die Operatoren für das Fach Deutsch6 bieten wenig Klärung: Die Zuordnung des Analysierens zum Anforderungsbereich II legt nahe, dass es sich beim Analysieren7 um eine Vorstufe oder aber Vorarbeit des Interpretierens8 handelt. In diesem Sinne verstehen auch Feilke und Rezat das Analysieren als einen Operator aus dem Anforderungsbereich der Reorganisation und den des Interpretierens als einen der Reflexion.9 Während der Operator der Analyse auf einzelne Aspekte abhebt, geht es bei der Interpretation um die Gesamtauslegung. Damit rückt die Frage nach der Bedeutung ins Zentrum. Betrachtet man die Ausführungen zu den Kompetenzbereichen in den Bildungsstandards im Rahmen einer Auseinandersetzung mit literarischen Texten10, dann gilt es, den Inhalt, Aufbau und die sprachliche Gestaltung literarischer Texte zu analysieren und auf dieser Grundlage „ein Textverständnis [zu] formulieren“ und „auf der Basis eigener Analyseergebnisse [zu] begründen“11. Im weiteren Verlauf sollen die Schüler:innen „eigene Interpretationsansätze zu literarischen Texten entwickeln und diese argumentativ-erklärend darstellen, auch unter Berücksichtigung von Ideengehalt, gattungs- und epochenspezifischen Merkmalen sowie literaturtheoretischen Ansätzen“, „Mehrdeutigkeit als konstitutives Merkmal literarischer Texte nachweisen“ sowie „die Einsicht in die Vorläufigkeit der Verstehensentwürfe zur kontinuierlichen Überarbeitung ihrer Hypothesen nutzen“. Damit bewegt sich das Interpretieren im Spannungsverhältnis von Erklären und Verstehen.

Betrachtet man Fritzsches Definition, dass Interpretieren die Ausarbeitung des Verständnisses eines poetischen Textes ist, vor einem weiteren Horizont, dann muss geklärt werden, wie Verständnis prinzipiell hergestellt werden kann. Köster stellt in diesem Zusammenhang die Frage nach den Ansprüchen an eine Verstehenskompetenz: „Genügt es, dass sie [die Schüler:innen, N.K.] wissen, wie das Interpretationsprodukt aufgebaut sein soll? Genügt es, dass sie sprachliche Mittel identifizieren und deren Funktion als Verstärkung oder Veranschaulichung bezeichnen? Genügt es, dass sie ihre Aussagen am literarischen Text verifizieren, auch wenn sie nicht zwischen Paraphrase und Zuschreibung unterscheiden?“12 Da Verständnis und Ergriffensein einander bedingen, gilt: Je weniger erfahren die Schüler:innen im Umgang mit Mehrdeutigkeit, Leerstellen und fehlender Kohärenz in literarischen Texten sind, desto dominanter ist das Gefühl der Fremdheit. In der Regel versperrt Fremdheit einen sinnlichen Zugang zum Werk. Ist der Text für die Schüler:innen unverständlich, wird die Ergriffenheit ausbleiben. Fehlt aber das Ergriffensein, dürfte es schwerfallen, sich dem Text konzentrisch in immer neuen Lesedurchgängen zu nähern. Verstehen und Ergriffensein müssen demnach angebahnt werden, damit im nächsten Schritt das Verständnis verbalisiert werden kann. Ziel ist es zu vermitteln, wie man Textelemente bemerkt, die überlesen oder aber ignoriert und wegerklärt werden, „wie man liest, anstatt zu raten, was sich der Autor gedacht haben mag; wie man erfasst, welche Belege eine Buchseite zu bieten hat, anstatt zu versuchen, sie durch eine andere Realität zu ersetzen.“13 Es gilt, besonders die in Bezug auf Syntax, Semantik und Bildlichkeit widersprüchlichen Zeichenprozesse in den Blick zu nehmen. Dies ist nur dann erfolgreich, wenn die Offenheit, der Prozesscharakter und die Subjektivität des Interpretierens glaubwürdig vermittelt werden. Inwieweit diese Parameter im traditionellen Aufsatzunterricht abgebildet werden, ist äußerst fragwürdig.

Anknüpfend an Hermeréns Unterscheidung des Prozess- und Produktaspekts der Interpretation hebt Fritzsche auf die Doppeldeutigkeit des Begriffes ab: Als Vorgang sei die Interpretation Lernmedium, als Resultat Lernkontrolle. Dabei werde die Interpretation zum Lerngegenstand, wenn im Unterricht behandelt werde, wie man diese durchführt. „Während als Medium das Interpretieren seinen Zweck im besseren Verstehen des Textes hat, wobei also der Text der Lerngegenstand ist, tritt dieser Zweck zurück, wenn das Interpretieren zum Lerngegenstand gemacht wird.“14 Fokussiert man auf die Interpretation als Lehrmedium, so dient das Interpretieren vorrangig dem Ermöglichen und Gewinnen des Verständnisses und ist somit ein heuristischer Akt. Während des Schreibens führt der Schreibende einen Dialog mit sich selbst und ertastet sich das Verständnis des Textes. Dieses Schreib-Denken stellt einen Grundansatz der Unterrichtseinheit dar, die in Kapitel III.5 praktisch erprobt werden soll: In mehreren Schreibdurchläufen wird sich durch das Verfassen eines argumentierenden literarischen Essays dem Verständnis des Primärtextes genähert. Im Zentrum aber steht die eigene Textproduktion, die das Ergriffensein vom Primärtext zur Grundlage hat. Dieses wird im Verlauf des Essays erläutert und mit Hilfe von Textbelegen, Mentorentexten und eigenem Weltwissen plausibel gemacht.

Ist die Interpretation hingegen selbst Lerngegenstand, dann steht das Mitteilen des Verständnisses, d.h. das Endprodukt des Verstehensprozesses, im Vordergrund. Beim Ausformulieren sind demnach die Erkenntnisschritte nicht mehr sichtbar, sie werden in einem rhetorisch-didaktischen Akt quasi unkenntlich gemacht. So wird der klassische Interpretationsaufsatz in der Regel mit der Nennung des Themas und damit des Kerngedankens des Textes eingeleitet, der allerdings erst am Ende der vollständigen Deutung angeführt werden kann. Ob es sich bei der Interpretation um ein Lernmedium oder einen -gegenstand handelt, sagt in der Regel nichts über die Form des Aufsatzes selbst aus, ob sich dieser linear am Text orientiert, mit globalen Aussagen startet oder ob er systematisch verschiedene Aspekte abhandelt. Wird die Interpretation zur Lernkontrolle, so dient sie der Dokumentation von Verständnis und Können, d.h. es geht zum einen um den Text als solchen und sein Verständnis, zum andern um die Textform der Interpretation. In der Regel werden die beiden Formen miteinander kombiniert. Ulshöfer fasste bereits 1976 dieses Dilemma folgendermaßen zusammen:

Der Interpretationsaufsatz bringt den Lehrer in einen Zwiespalt: Er muß dem Schüler Fragestellungen, Gesichtspunkte, Gliederungsschemata von allgemeiner Bedeutung an die Hand geben, ihn aber zugleich vor Schematismus bewahren; er soll das Handwerklich-Lehrbare des Texterläuterns vermitteln, aber diese Fähigkeit nur so weit üben, als der Sinn für das Verstehen ausgebildet wird. Einsicht in das Wesen der Gestalt ist mehr als nur eine ästhetische Analyse. Diese „Mehr“ ist nicht lehr- und nicht lernbar.15

Damit Interpretationen nicht eine bloße Wiedergabe des interpretierten Textes darstellen, erfordern sie mehrdeutige Texte, deren Leer- und Unbestimmtheitsstellen einer Deutung bedürfen. Daraus folgt im Umkehrschluss: „Interpretation war eine Folge der Textauswahl: Der fremdartige Text bedarf des Interpreten.“16 Für die Konzeption von Unterricht ergeben sich daraus unterschiedliche Konsequenzen: Steht das Verstehen und Entschlüsseln der von Schule ausgewählten Texte im Vordergrund, dann wird – um Komplexität zu reduzieren – zunächst die Mehrdeutigkeit missachtet oder zumindest aufgelöst. Genaue Textarbeit, die sich konzentrisch voranschreitend dem Textganzen nähert, verfolgt das Ziel, die Fragen, die an den Text gestellt werden, aufzulösen. Dies geschieht, so Fritzsche, zumeist im Unterrichtsgespräch, in dem die Schüler:innen häufig ihr eigenes Textverständnis nur bedingt entfalten können. Im Rahmen des schriftlichen Interpretierens erfordert das Verfassen eines Interpretationsaufsatzes von den Interpretierenden eine Beobachterposition und Distanz zum eigenen Verständnis und zur eigenen Textproduktion, die häufig erst in der Sekundarstufe II zu leisten ist. „Die I. unterscheidet sich vom bloßen Lesen und vom intuitiven Sinnentwurf durch ihren argumentativen Charakter. Da sie auf Erkenntnis aus ist, muß jeder Sinnentwurf kritisch geprüft werden. Zu üben ist also textbezogenes Argumentieren: das Aufstellen von Behauptungen, das Begründen, Belegen, Zitieren.“17 Auch Spinner betrachtet den Interpretationsaufsatz als Format, das diese Verstehensprozesse festhält, skeptisch.18

Ziel sollte demnach weniger das Endprodukt – der Interpretationsaufsatz – sein, denn eine curriculare Anleitung zum Verstehen. Vorformen des Interpretierens sind somit bereits in der Grundschule und in der Sekundarstufe I in Form von Nacherzählungen, Inhaltsangaben oder Stellungnahmen verortet. Verstehen bildet sich im Zuge der Entwicklung der Lernenden aus und ist ein vor allem zu Beginn stark interessengeleiteter Prozess. So richtet sich der Fokus der Schüler:innen in Bezug auf literarische Texte zunächst überwiegend auf das Verhalten bestimmter Figuren, überraschende Ereignisse sowie spaßige Vorfälle. „Sie messen das, was im Text steht, an der außertextlichen Wirklichkeit und konstatieren die Abweichungen von ihren Erfahrungen. Auf der zweiten Stufe stellen die Schüler die Frage nach dem Sinn des gesamten Textes“.19 Auf der abschließenden dritten Stufe stehe dann nicht mehr der Gesamtsinn im Zentrum. Interpretieren sei vielmehr ein Nachzeichnen von Einzelbedeutungen und ein Spiel mit Bedeutungsmöglichkeiten. Es ist allerdings zu bezweifeln, ob diese dritte Stufe den Unterrichtsalltag in der Oberstufe sowie die gängige Bewertungspraxis abbildet.

An den Ausführungen der Literaturwissenschaftler:innen wie der Literaturdidaktiker:innen sind die unterschiedlichen Ansprüche an den Umgang mit Literatur, die Notwendigkeit und Möglichkeit eines Verständnisses und an eine mögliche Vermittlung deutlich geworden. Diese Skepsis und Brüchigkeit gegenüber dem Interpretieren und vor allem dem Interpretationsaufsatz soll zum Anlass genommen werden, Konsequenzen für einen veränderten Umgang mit Literatur abzuleiten: Wird ernst genommen, dass Interpretieren den Schritt vom Ergriffensein zum Begreifen darstellt, dann muss das Ergriffensein einen festen Platz im Rahmen des Literaturunterrichts haben. Hier werden die Parallelen zu Spinners Ansatz des Literarischen Lernens deutlich, auf den ausführlich in Kapitel I.3.4 eingegangen wird. Das Ergriffensein darf somit nicht allein auf die Einstiegsphase einer Unterrichtseinheit reduziert sein, in der die Leseeindrücke der Schüler:innen abgefragt werden, sondern muss sich auch im Produkt des Interpretationsaufsatzes – soll denn an diesem festgehalten werden – niederschlagen. Die alternative Aufsatzform des literarischen Essays, die das Ergriffensein als Ausgangspunkt des Schreibens sieht, wird in Kapitel III.5 erläutert und empirisch untersucht.

 

Ausgehend von Hermeréns Schema der Interpretation stellt der schulische Interpretationsaufsatz im Literaturunterricht eine starke Engführung dar: Führt Hermerén insgesamt elf unterschiedliche Interpretationstypen an, so ist im Deutschunterricht in der Regel die ästhetische Interpretation bedeutsam: „Die Aufgabe des Interpreten besteht kurz gefasst darin, den Wert des Werkes zu maximieren und es für den Leser ästhetisch (künstlerisch etc.) möglichst interessant erscheinen zu lassen, zum Beispiel indem er Form und Inhalt auf eine bestimmte Lebenssicht oder auf das, was (seines Erachtens) im Leben wichtig ist, bezieht.“20 Die Konzentration auf die ästhetische Dimension eines Werkes setzt aber nicht nur ein hohes Maß an Schreibkompetenz beim Interpretierenden voraus. Im schulischen Kontext ist diese Fokussierung besonders deshalb fragwürdig, weil der ästhetische Wert u.a. durch die Kanonisierung der Literatur vorgegeben wird. Auch wenn die Schüler:innen keinen persönlichen Zugang zum Text finden, sind sie aufgefordert, den Wert des Werkes herauszuarbeiten und Adressat:innen wiederzugeben, die in der Regel vom Wert des Werkes überzeugt sind. Zudem findet im Hinblick auf die Funktion beim Interpretationsaufsatz eine Engführung statt: So geht es weder um Sprachhandlungen der Beeinflussung, Überzeugung und Problemlösung, die beim materialgestützten Schreiben eine entscheidende Rolle spielen, sondern im Wesentlichen um erklärendes Nachvollziehen. Damit bildet das materialgestützte Schreiben, das als Aufgabenformat dem Interpretieren und Erörtern gegenübergestellt wird, eine größere Bandbreite an Sprachhandlungen als der traditionelle Interpretationsaufsatz ab.

Betrachtet man die Interpretation im Kontext der Lernkontrolle, dann muss nach den Kriterien der Interpretation gefragt werden; diese gilt es besonders im schulischen Kontext zu entwickeln und offenzulegen. Stehen jedoch als Intentionen des Interpretierens das nachvollziehende Verstehen und Darlegen des Verstehensprozesses im Zentrum, so muss dieser Ansatz auch zur Grundlage der Bewertung herangezogen werden. Auf diese Problematik verweist Hermerén: „Es ist in meinen Augen recht offensichtlich, dass es keine ausschließlich gültigen [definitive] oder korrekten Interpretationen geben kann, wenn »Interpretation« im Sinne einer Applikation (Nachweis von Relevanz), einer theoretischen Umdeutung oder einer Steigerung des Wertes verstanden wird.“21 Wann eine Interpretation als korrekt und plausibel beurteilt werden kann, hängt von der Art der Argumente ab. Auch hier führt Hermerén zehn verschiedene an,22 beispielsweise linguistische, biographische, historische, kontextuelle, psychologische, objekt-orientierte, adressaten-orientierte oder normative. Die angeführten Argumentationstypen weisen eine große Nähe zur schulischen Praxis auf: So kann die Plausibilität einzelner Passagen unterschiedlichen Argumenten zugeordnet und die Kohärenz der einzelnen Argumente bewertet werden. Dies ist sicherlich ein Grund, warum an dem Format des Interpretationsaufsatzes auch weiterhin als komplexem, höchst anspruchsvollem Aufgabenformat festgehalten wird. Die Problematik liegt aber weniger in der Art der Argumente und der Art der Beweisführung. Diese können Schüler:innen lernen und anwenden und sie sind zudem im Umgang mit Texten jeder Art sinnvoll und gewinnbringend. Fraglich ist demnach weniger das Wie – die Kompetenzen im Umgang mit Texten –, sondern das Warum und damit der fehlende Adressat:innenbezug: „Eine Interpretation ist notwendig, wenn man etwas nicht sofort versteht. Aber was für eine Person oder Gruppe verständlich ist, ist nicht immer auch für eine andere Person oder Gruppe verständlich.“23 Dies Adressierung spielt demnach bei jeder Interpretation, die Lerngegenstand oder -kontrolle ist, eine besondere Rolle. Hier wird die Künstlichkeit der schulischen Interpretation deutlich: Die Lehrkraft, die meist die einzige Leserin des Interpretationsaufsatzes ist, hat in der Regel den Text ausgewählt, verstanden oder zumindest ein weitergehendes Verständnis des Textes. Demnach kann es nicht darum gehen, der Lehrkraft den vorliegenden Text zu erklären, sondern den eigenen Verständnisprozess sichtbar zu machen. Dies aber ist ein zutiefst selbstreferentieller künstlicher Akt.

Noch ein weiterer Aspekt im Rahmen des schulischen Interpretierens ist nicht unproblematisch: Die Interpretation soll in der Regel dort ansetzen, wo der Text Brüche oder Unbestimmtheitsstellen aufweist. Diese sind bei den Lesenden äußerst unterschiedlich, vor allem wenn es noch um die allgemeinen kontextuellen Beziehungen geht, in denen ein Text steht. Da zwischen Lehrenden und Lernenden in Bezug auf die Verstehens- und Interpretationskompetenz eine Diskrepanz vorliegt, kommt es unweigerlich zu einer unterschiedlichen Bewertung der relevanten, zu interpretierenden Stellen. Was für die Lehrkraft eine Unbestimmtheitsstelle darstellt und sich für eine Interpretation eignet, muss für die Schüler:innen noch lange keine relevante Passage sein. Das Format des Interpretationsaufsatzes aber suggeriert, dass es die eine, richtige Bedeutung gebe, die im Interpretationsaufsatz wiedergegeben werden müsse. Damit aber handelt es sich nicht mehr um einen kreativen Denk- und Schreibprozess, vielmehr um eine – überflüssige – Demonstration eines Herrschaftswissen. Weder die Sinnlichkeit der Kunst noch die Fraglichkeit des Bedeutungsbegriffes bildet der Interpretationsaufsatz ab. Für Schüler:innen ist häufig schwer nachvollziehbar, auf welche Unbestimmtheitsstellen die Lehrkraft abhebt und welche Zugänge für sie relevant sind. Wird ein Kunstwerk in seiner ästhetischen Dimension tatsächlich ernst genommen, dann muss es als offen und unendlich wahrgenommen werden und den Rezipient:innen müssen unterschiedliche Ebenen des Ergriffenseins zugestanden werden. Wenn Spinner betont, dass eine interpretierende Tätigkeit „zu einem genaueren, imaginativ reicheren und Irritationen zulassenden Lesen und Verstehen“24 führt, dann weist dies auf das Potential des Interpretierens hin, das sich jedoch nicht auf die Verschriftlichung in Form eines Interpretationsaufsatzes beschränken darf.

Befragt man abschließend die dargestellten Konzepte und Theorien des Interpretierens im Hinblick auf das materialgestützte Schreiben, so soll auf einen entscheidenden Aspekt abgehoben werden: Die zentrale Tätigkeit des Literaturunterrichts und des Interpretierens stellt das Befragen eines Textes auf seine Bedeutung dar. In der Regel sind es die Schüler:innen gewohnt, anhand mehrdeutiger Texte unterschiedliche textanalytische und interpretative Verfahren anzuwenden, um beispielsweise rhetorische Figuren in Bezug auf ihre Wirkung zu untersuchen und inhaltliche wie sprachliche Einzelaspekte zu einem kohärenten Ganzen zusammenzufügen. Zabka verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass es um die Allgemeingültigkeit von Aussagen geht, die an einem speziellen Text erfahren wird. Damit oszillieren Interpretationskompetenzen zwischen Strategievermittlung und Einzelanalyse.25 Ziel der einzelnen Interpretationsschritte ist es, das Textganze und dessen Bedeutung zu erfassen und – im vorgegebenen Format – wiederzugeben. Das Belegen der Aussagen stellt dabei ein entscheidendes Vorgehen dar, um Objektivität zu erzielen.