Rollenspiel

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Rollenspiel
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Rollenspiel

1  Nick Lubens

Nick Lubens
Rollenspiel
Roman
I

Borgrimm, Oschgrimms Sohn, steht am Ufer des Flusses Dauin und betrachtet mit grimmiger Miene das schmutzig-braune Wasser. Der gemächlich dahinplätschernde Strom ist nicht übermäßig breit, selbst durch die über der Landschaft liegenden Nebelschwaden hindurch kann man das gegenüberliegende Ufer schemenhaft erkennen.

„Gib mir mal die Chips rüber!“, ruft Jan Harry quer über den Tisch zu.

„Mann, Jan, halt die Klappe!“ Ich stoße ihm meinen Ellenbogen in die Rippen.

„Was denn? Man wird ja wohl noch nach was zu Essen fragen dürfen!“, regt sich Jan auf und schaut herausfordernd in die Runde.

„Wir versuchen gerade, für unsere Helden eine aufregende Stimmung zu gestalten, und du hast nichts anderes im Sinn als Chips?“, weise ich ihn zurecht.

Udo springt mir bei. „Mischa hat Recht. Für die nächste Szene habe ich mir echt Mühe gegeben. Mehmet, gib Jan mal ein paar Chips rüber und dann lehnt euch zurück und genießt das Schauspiel!“

Wir nicken alle stumm. Udo ist der Meister unserer Rollenspielrunde und er kann echt sauer werden, wenn wir ihm mit irdischem Kram dazwischenfunken.

Gemächlich treibt das grau-braune Wasser zu Borgrimms Füßen dahin. Angestrengt versucht der Erzzwerg, den Nebel mit seinen Augen zu durchdringen. Nichts rührt sich im Wasser und auch am anderen Ufer scheint alles still zu sein.

Plötzlich ertönt hinter Borgrimm ein lautes Scheppern. Eine quiekende Stimme schreit: „Isthor, pass doch auf, du Trottel. Musst ja nicht gleich das Wasser umschütten. Hat lange genug gedauert, bis ich bei dem Wetter Feuer anhatte.“ Das war unverkennbar Rollos Stimme.

„Oh, Mann. Kannst du nicht dieses Gequieke lassen? Das geht mir echt auf die Nerven.", brummt Harry aus seinem Sessel und funkelt Jan böse an.

Jan, der neben mir sitzt, zuckt nur mit den Schultern: „Das gehört nun mal zu meiner Rolle." Um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen, hält er Harry seinen Heldenbogen hin, auf dem alle wichtigen Informationen zu Rollo, dem Gaukler, den er in unserer Rollenspielrunde spielt, stehen. „Hier steht:", dabei deutet er auf eine Stelle unter dem von ihm selbst gemalten Portrait seines Helden, „hohe Fistelstimme. Ich hab das am Anfang so erwürfelt. Da kann man nichts machen."

Sein Blick wandert auf der Suche nach Unterstützung zu Udo. Während wir anderen vier nur alle paar Wochen unsere Heldenbögen und Würfel mitbringen, muss Meister Udo jedes Mal eine Menge Zeit investieren, um den Spieleabend vorzubereiten. Er leitet unsere Helden durch die Fantasiewelt Fyrthor. Er weiß, was alles passieren kann, wen wir treffen werden, gegen welche Kreaturen wir möglicherweise kämpfen müssen und was uns alles so zustoßen kann. Er ist der Herr über Leben und Tod unserer Figuren. Naja, das reden wir uns zumindest ein. Am Ende müssen wir selbst entscheiden, was unsere Charaktere machen und was nicht, und hin und wieder braucht man auch ein bisschen Würfelglück, wie zum Beispiel damals, als ich mit meinem Feuerdruiden in diesen tiefen Brunnenschacht klettern wollte. Die Geschicklichkeitsprobe, die ich mit dem 20er Würfel machen musste, hatte leider nicht so geklappt und er hat sich beim Klettern in seiner Kutte verheddert. Es folgten ein langer Schrei und ein dumpfer Aufprall und ich musste vor dem nächsten Spiel mit Udo eine neue Figur erschaffen.

„Erde an Mischa! Es geht weiter.", reißt mich Mehmets Stimme aus meinen Gedanken. Ich zucke zusammen und rücke verlegen den Heldenbogen von Borgrimm, den ich seit letztem Mal spiele, zurecht.

„'tschuldigung.", brumme ich in die Runde.

Udo nickt gönnerhaft. "Dann lasst uns mal weitermachen!"

Borgrimm dreht sich langsam um. Rollo, der kleine Gaukler und meistens gutgelaunte Spaßmacher ihrer Gruppe, steht, die Hände in die Hüften gestemmt, vor einem stattlichen Krieger in gut polierter Rüstung, der ihn um gut zwei Haupteslängen überragt. Isthor von Hyltrien schaut mit einem halb spöttischen, halb verlegenen Grinsen auf ihn hinab. „Ist doch noch genug Wasser da!“, sagt er, und deutet mit dem Kinn Richtung Fluss. „Außerdem wollen wir ohnehin langsam aufbrechen, oder Flint, Borgrimm?“

Borgrimm nickt nur kurz und schaut dann wieder auf den Fluss. „Sieht so aus, als ob wir schwimmen müssen. Wir suchen schon seit zwei Tagen nach einer Furt und kommen dabei immer weiter nach Süden ab. Der Fluss sieht ganz ruhig aus.“

„Bei den Bartzöpfen meiner Mutter.“, mischt sich Flint Eisenfaust, ein Hügelzwerg und erfahrenster Abenteurer der kleinen Schar, in das Gespräch ein. „Schwimmen, bei der Kälte? Bist Du noch bei Troste? Wenn ich es nicht mit eigenen Augen sehen würde, ich wäre felsenfest davon überzeugt, dass du kein Zwerg bist, wie ich. Und außerdem, was willst Du mit Deiner Rüstung machen?“

„Er kann ja die Luft anhalten, und wie ein Nilpferd unten durch laufen“, kichert Rollo.

„Nilpferde gibt es gar nicht in Fyrthor“, wirft Harry, der Flint, den Hügelzwerg spielt, ein. Da er mit seinen 1,70 der mit Abstand Kleinste von uns ist, nimmt man ihm diese Rolle problemlos ab. Harry ist der schlaue Kopf unter uns und weiß immer alles besser. Manchmal geht uns das ziemlich auf den Senkel, aber er meint es ja nur gut und hat im Grunde ja auch Recht. Nilpferde gibt es nun mal nicht in Fyrthor.

„Naja, denn eben wie irgendein dickes fyrthorianisches Tier.“, meint Jan etwas aufgekratzt. „Ihr wisst schon, was ich meine? Schlammechsen zum Beispiel, die laufen unter Wasser, oder?“

Jan guckt fragend zu Udo. Udo ist der Meister. Der Meister hat immer Recht. Was der Meister sagt, das gilt. Der Meister sagt: „Jou, machen die.“

„Siehste!“, grinst Jan Harry an.

„Na, dann mach nochmal!” Udo hat wieder seine Meisterstimme aufgesetzt. Die klingt so ganz anders als Udo, aber ohne diese Stimme wäre Fyrthor nicht Fyrthor.

„Er kann ja die Luft anhalten, und wie eine Schlammechse unten durch laufen“, kichert Rollo.

Borgrimm beginnt, seine Rüstung abzulegen.

„Was soll das denn jetzt schon wieder?“, fragt Flint, der mit den Macken seines jüngeren Artgenossen, den sie erst vor kurzem in einem mysteriösen Kellerverlies gefunden haben, so seine Probleme hat.

„Ich bau mir ein Floß, und da leg ich alle meine Sachen rauf. Dann kann ich rüberschwimmen und schieb das Floß vor mir her.“ Mit einem triumphierenden Blick wendet sich Borgrimm einem Weidenwäldchen zu.

Udo blättert ein bisschen in seinen Unterlagen, Harry und Jan schauen sich betreten an. Mehmet, der den edlen Krieger Isthor von Hyltrien spielt, lehnt sich bequem auf dem Sofa zurück und nuckelt an seiner halbleeren Coladose.

„Woraus baust Du denn das Floß?“, fragt Udo mit ratloser Stimme. Vier Augenpaare wandern zu Udo. Alle wissen, wenn er diese Stimme aufsetzt, ist irgendwas im Busche.

„Naja, also, aus dem Holz, das hier überall rumliegt.“, stottere ich.

„Und wenn da gar kein Holz liegt?“ Udo lächelt süffisant.

„Na, aber hier steht doch ein großes Weidengebüsch, hast Du gesagt.“

„Weidengebüsch, nicht Wald.“, Udo hebt tadelnd den Finger. „Ihr sollt Euch nicht immer was dazudenken, was Euch gerade in den Kram passt.“

„Also gut, dann eben einen Korb.“

Borgrimm schneidet sich einige biegsame Weidenruten aus dem Gebüsch und lässt sich im Gras nieder. Unter den kritischen Blicken seiner Reisegefährten beginnt er, die Ruten zu einem korbähnlichen Gebilde zu flechten.

„Mach mal eine Probe auf Fingerfertigkeit!“, sagt Udo.

Ich schaue ihn finster an. Ein Erzzwerg ist ja vieles, aber geschickt mit den Fingern nicht gerade. Trotzdem, mir bleibt nichts übrig. Ich nehme mit zittrigen Fingern den Würfel, den mir Harry mit wissendem Lächeln hinreicht. Ich schüttle ihn noch kurz, wiege ihn in der Hand und lasse ihn auf den Tisch sausen. Mit angehaltenem Atem verfolge ich seine Bahn, bis er vor Mehmet liegen bleibt.

„15, voll in die Hose“, sagt der trocken und setzt die Coladose wieder an.

„Sehe ich selbst.", knurre ich genervt zurück. Auf meinem Heldenbogen steht bei Fingerfertigkeit für Borgrimm eine 12, also hätte ich mit dem 20er Würfel einen Wert unter 13 würfeln müssen, damit aus der Flechtarbeit wirklich ein ansprechender Korb wird. Jetzt ist es an Udo zu entscheiden, was passiert.

„Das wird ja dann wohl eher so eine Art grobes Holzsieb.“, meint Udo und krault sich genüsslich seinen Vollbart.

„Leg da bloß nichts kleines rein“, blödelt Jan rum, hört aber unter dem strengen Blick von Udo sofort auf. Udo mag es nicht, wenn wir mit unserer irdischen Stimme über die Geschichte reden. Alles soll sich nur zwischen den Figuren abspielen.

Nach geraumer Zeit ist Borgrimm mit seinem Werk fertig. Kritisch begutachtet er es von allen Seiten, ohne auf die hämischen Kommentare seiner Gefährten zu achten. „Wird schon gehen.“, brummt er in seinen Bart. Dann legt er auch die restlichen Teile seiner Ausrüstung ab und verstaut sie in dem entstandenen Weidengeflecht. Splitternackt steht er am Ufer des Flusses, mit einem großen Korb voll Kleidung, Rüstungsteilen, Waffen und Proviant.

 

Rollo steht bei diesem Anblick kurz vor einem Lachanfall, kann sich aber gerade noch beherrschen, als er den strengen Blick von Flint aufschnappt. Über einen Zwerg lacht man besser nicht, auch nicht, wenn er lächerlich aussieht.

„Wollen wir nicht doch noch mal weiterschauen, ob irgendwo eine Furt in der Nähe ist?“, fragt Isthor.

Flint nickt mit ernster Miene. "Das finde ich auch. Und wie kommst du überhaupt auf so eine alberne Idee, Borgrimm? Du bist ein Zwerg. Wer hat schon jemals von einem Zwerg gehört, der schwimmen kann?"

Doch Borgrimm ist überzeugt von seiner Idee, so überzeugt, dass weiteres Reden vergebliche Liebesmüh ist. Mit energischen Schritten stapft er in die Fluten. Im hüfthohen Wasser legt er den Korb auf die Oberfläche. Langsam sinkt das Geflecht tiefer, bis das Wasser zur Oberkante reicht. Die leichte Strömung treibt den Korb sanft in Richtung Flussmitte. Borgrimm geht langsam hinterher, immer darauf bedacht, eine Hand unter seiner Ausrüstung zu halten.

Die Strömung wird schneller und plötzlich verliert Borgrimm den Halt unter den Füßen. Ein glitschiger Stein im Flussbett bringt ihn aus dem Gleichgewicht. Er verliert den Kontakt zu dem Korb. Vom Ufer aus können Rollo, Isthor und Flint nur mit ansehen, wie das Gebilde immer schneller in die Flussmitte treibt. Plötzlich verschwindet Borgrimms Ausrüstung mit einem lauten Blubbern unter der Wasseroberfläche.

Auch Borgrimm wird von der Strömung erfasst. Verzweifelt versucht er, sich über der Wasseroberfläche zu halten, aber Schwimmen gehört nicht zu seinen Stärken. Geistesgegenwärtig reißt Isthor ein langes Seil aus seinem Rucksack und wirft es Borgrimm zu.

"Mach mal Geschicklichkeit!", sagt Udo zu Mehmet. Ich weiß, dass Isthor einen Geschicklichkeitswert von 16 hat und lehne mich entspannt zurück. Die Rettung ist nahe. Mehmet nimmt seinen schwarz-rot gesprenkelten Würfel und rollt ihn schwungvoll über den Tisch.

„Scheiße!", brülle ich, während Mehmet ein „Verdammt." rausrutscht. Harry schaut verzweifelt von mir zu Mehmet und zerzaust sich sein schütteres Haar. Jan guckt mitleidig zu mir herüber.

„19.", konstatiert Udo mit emotionsloser Stimme.

Isthor verfehlt Borgrimm um einige Meter und noch ehe die drei Gefährten das Seil aus dem Fluss zurückgeholt haben, verschwindet Borgrimms Kopf in den eisigen Fluten. Entsetzt starren alle drei auf die Stelle, an der der Zwerg zuletzt untergetaucht ist. Nichts. Keine Regung. Einige Zeit später tauchen nicht viel weiter flussabwärts ein paar Luftblasen auf. Dann kehrt wieder die unverwechselbare Ruhe eines Nebelmorgens über dem Fluss ein.

Isthor versucht, mit seinem Blick die sich langsam hebenden Nebelschwaden zu durchdringen. In einiger Entfernung kann er undeutlich eine Holzkonstruktion erkennen, die über den Fluten zu schweben scheint.

„Ich glaube, wir nehmen lieber die Brücke.“, sagt der Krieger. Seine beiden Gefährten brummen zustimmend.

Jan und Harry schauen sich betreten an.

Mir ist zum Heulen zumute. Wütend starre ich zuerst den Würfel, dann meinen Charakterbogen, dann Udo und dann wieder den Würfel an. So ein Mist.

„Naja, ich hab’s ja gesagt.“, kommentiert Mehmet die Szene.

II

Wir verabschieden uns von Harry. Mehmet muss nur zwei Treppen hoch, also treten Udo, Jan und ich allein den Weg nach draußen an. Die Dezembernacht umfängt uns mit ihrer regennassen Kälte. Der Wind pfeift um die Häuser und treibt uns die kalte Feuchtigkeit bis unter die gefütterten Jacken.

„Brr, ich mach mich schnell ins Auto, Jungs. Viel Spaß noch, und nimm’s nicht so schwer, Mischa. Kann ja nur besser werden.“ Udo blinzelt mich verschmitzt an, nickt Jan kurz zu und verschwindet mit einem „Tschüssi“ in Richtung seines silberfarbenen uralten BMW.

Wir warten nicht, bis er losgefahren ist, sondern trotten in gemächlichem Tempo die Straße hinunter.

„So ein Scheiß.“, brumme ich, immer noch sauer über Borgrimms Tod.

„Naja, sieh’s mal positiv. Du hast nicht besonders an ihm gehangen, oder?“, versucht Jan mich aufzumuntern. Das regt aber erst recht den Widerspruchsgeist in mir.

„Was soll das denn heißen? Nur weil ich Borgrimm erst zwei Abende gespielt habe, bedeutet das noch lange nicht, dass ich mich nicht mit ihm identifizieren kann. Er war wie eine zweite Haut für mich, verstehst Du?“

Jan schaut mich kritisch von der Seite an. „Nee, mach ich nicht. Du bist mit ihm ein Stück am Fluss langgelaufen und dann ist er ersoffen. Was hast du denn mit ihm erlebt?“

Innerlich muss ich Jan zustimmen, aber das soll er auf keinen Fall merken. Ich versuche lieber, unauffällig das Thema zu wechseln.

„Isdiriel hätte es locker geschafft.“

„Ja, wahrscheinlich, aber das Problem ist, dass der bereits vor zwei Monaten bei dem Versuch umgekommen ist, mit einem Drachen um die Wette zu fliegen. Auch Quortschak, der Goblin, hätte es vielleicht geschafft, aber mit dem musstest du ja unbedingt ganz allein ins königliche Heerlager marschieren.“

„Irgendwer musste doch den König vor den herannahenden Orktrupps warnen!“, entgegnete ich. Diese Diskussion hatten wir schon hundertmal geführt und ich wusste genau, dass ich nicht als Sieger aus ihr hervorgehen konnte. Dennoch versuchte ich immer wieder mit den gleichen Worten, mich zu rechtfertigen.

„Naja, aber ein Goblin?“ Wieder dieser selbstgefällig kritische Ton, den Jan immer an dieser Stelle aufsetzt. Einfach widerlich. Und das schlimmste ist: er hat Recht. Er hat mit jeder einzelnen Figur Recht, die mir im Laufe der Zeit unter die Räder gekommen ist.

Die Häuser neben uns weichen zurück und geben den Weg auf die breite Kreuzung frei, an der sich im Berufsverkehr immer die Linksabbieger mit den Radfahrern in die Quere kommen. Morgens und am Nachmittag ist hier eine Menge los, aber jetzt ist keine Menschenseele zu sehen. Bei dem Wetter traut sich nicht mal Kurt, der Penner, auf seine angestammte Parkbank vor der Nikolaikirche. Trotzdem leuchtet die Ampel rot, wie immer, wenn ich hier vorbeikomme. Wir warten nicht, bis das Männlein die Farbe wechselt. Wer soll uns um diese Zeit schon umfahren?

„Ich hab doch immer die besten Ideen! Warum geht ihr nie drauf?“

Jan ist der weinerliche Ton in meiner Stimme nicht entgangen. Versöhnlich legt er seinen linken Arm um meine Schulter. „Weißt du Mischa, du hast Recht. Du hast geniale Ideen. Aber die passen nicht zu den Figuren, die du spielst. Ein Zwerg zum Beispiel kann einfach nicht schwimmen. Da kannst du machen, was du willst. Vielleicht solltest Du mehr was spielen, das wie du ist.“

Ich glotze Jan an, als hätte er einen in der Schüssel. „Wieso denn das. Ich mach doch kein Rollenspiel, um ich zu sein. Ich will Abenteuer erleben, Heldentaten vollbringen, unbekannte Länder erobern, heiße Frauen kennenlernen. Alles das eben, was es in meinem Leben nicht gibt.“

„Ja, kannst du ja, sollst du ja.” Jans Hand tätschelt immer noch meine Schulter. „Und du sollst ja auch keinen Mischa spielen. Aber die Charaktere, die du dir immer aussuchst, passen so gar nicht zu dir. „Was warst du in letzter Zeit? Erzzwerg, Feuerdruide, Goblin, Dunkelelf, Chaosritter – oh ja, und Echsenkrieger.“ Jan kichert vor sich hin.

„Was ist so komisch an Echsenkriegern? Sind doch tolle Burschen.“, sage ich empört.

„Ja, im Grunde schon. Aber nur, wenn man sie wie Echsenkrieger spielt. Aber du bist nun mal kein Echsenkrieger. Du bist viel zu sensibel.“

Ich winde mich aus Jans Umklammerung. „Zu sensibel?“, schreie ich. Etwas leiser füge ich einsichtig hinzu „Hier schon, aber ich muss das doch nicht auch in Fyrthor sein!“

„Pass mal auf!“ Schon wieder liegt Jans Hand auf meiner Schulte. Ich traue mich nicht, sie nochmal runterzuwischen. „Ich spiele Rollo, einen lustigen Gaukler. Findest Du, ich könnte wirklich Rollo sein?“, fragt er mich.

Ich überlege kurz. Eigentlich könnte ich mir Jan als Rollo echt gut vorstellen. Er hat so eine selbstsichere, überlegene Art, die zu einem Gaukler passt. „Ja, könntest Du.“, gebe ich großmütig zu.

„Und Harry, der ist Flint, der Hügelzwerg. Hat Harry was von einem fiesen, kampfwütigen Zwerg?“

„Unbedingt.“, rufe ich aus, ohne darüber nachzudenken. „Klein, stämmig, und sein Bauch wird auch langsam so wie der von Flint.", frotzel ich herum.

Jan kichert. "Nur die Haare gehen ihm langsam aus. Das mit den Zöpfen kriegt er bestimmt nicht hin."

Wir lachen beide herzhaft über diesen Kommentar. Es tut gut, mit Jan unterwegs zu sein. Er hat immer einen passenden Spruch parat, um mich aufzumuntern.

„Und Mehmet ist ein stattlicher Krieger, der neben seinem Schwert auch eine scharfe Zunge führt und eine Menge auf kulturelle Umgangsformen, Familienwerte und solches Zeug gibt. Passt das zu ihm?“

Auch da muss ich Jan zustimmen.

„Siehst Du, und selbst Udo spielt sich. Er hat uns schon immer rumkommandiert, schon vor zwanzig Jahren, als wir noch auf dem Hof um die Ecke gebolzt haben. Und jetzt schikaniert er uns eben als Meister. Nur du, du willst unbedingt was ganz anderes machen, als du bist, und das passt nicht zu dir. Unsere Figuren haben alle schon lange überlebt. Aber du fängst alle paar Abende wieder von null an. So kommen wir als Gruppe nie weiter. Irgendwann würde ich’s auch gern mal mit ’nem stärkeren Gegner aufnehmen, aber dabei würdest du als Neuling ja gleich wieder draufgehen. Und Harry und Mehmet kribbelt’s auch schon manchmal in den Fingern.“ Jan schaut mir tief in die Augen. „Überleg dir’s mal. Hast ja noch ein paar Tage Zeit. Udo kommt frühestens Donnerstag zu dir, damit ihr einen neuen Charakter auswürfeln könnt.“

Wir wollen uns gerade verabschieden, da ruft eine entfernt vertraute Stimme: „Jan? Mischa?“

Noch immer in Gedanken bei meinem heutigen Misserfolg drehe ich mich verdattert um. Vor uns steht ein in Hüne in einem teuren Mantel unter dem ein modischer Anzug hervorlugt. Seine gescheitelte blonden Haare könnten einer Haargelwerbung entsprungen sein. Einen Augenblick spiele ich mit dem Gedanken, dass es sich um ein Haarteil handeln könnte, doch dann siegt die Neugier, wer sich hinter diesem glattrasierten, mir nur ganz vage bekannt vorkommenden Gesicht verbirgt.

„Ähm, ja...“, setzt ich zu einem unbeholfenen Kommentar an.

„Ingo?“, platzt es aus Jan heraus, der die Situation wesentlich souveränder zu meistern scheint.

„Ja, genau.“, strahlt der Anzugträger zurück.

„Mensch, was machst du denn hier?“, fragt Jan aufgeregt.

„Ingo?“, werfe ich verwirrt ein und breche den Bann der ungezügelten Wiedersehensfreude. „Welcher Ingo?“

„Du stehst manchmal immer noch auf der Leitung, oder?“ Der Typ namens Ingo lacht dreckig.

„Ingo! Aus der Schule.“, versucht Jan mir auf die Sprünge zu helfen.

Ich überlege kurz. Stimmt, wir hatten einen Ingo in der Klasse. Etwas dicklich, reiche Eltern, immer einen blöden Spruch auf Lager, blonde Haare. Ich vergleiche das vor mir stehende Exemplar mit den bei mir gespeicherten Erinnerungen. Eine gewisse Ähnlichkeit ist nicht abzustreiten.

„Ingo!“, brülle ich überschwänglich und klopfe ihm voller Begeisterung auf die Schulter. „Was machst du denn hier?“

„Hab ich ihn gerade auch schon gefragt.“, bemerkt Jan unnötigerweise.

Ich reiße das Gespräch wieder an mich: „Bist du nicht in, ähm,“, ich schnippe mit den Fingern, um mir eine Sekunde Zeit zum Nachdenken zu verschaffen, „Cambridge, oder so?“

„Oxford.“, sagt er mit geschürzten Lippen und einem gnädigen Nicken. „Nein, da bin ich schon lange nicht mehr.“

Na, wenigstens fallen auch die vom reichen Elternhaus begünstigten nicht immer automatisch auf die Füße. Ich kann mich noch gut an seine selbstgefällige Miene und unser stummes Entsetzen erinnern, als er uns nach seinem Abi mit einem Notenschnitt von 2,6 verkündete, dass er jetzt in Cambridge studieren würde. Oder war es doch Oxford?

„Ich bin jetzt in Harvard. Junior Assistent Professor in Economics.“, doziert er von oben herab und grinst arrogant vor sich hin.

Bevor ich mir vor Wut in den Allerwertesten beißen kann, spuckt Jan ein „Das ist ja großartig.“ aus.

„Ja, finde ich auch.“, ruft Ingo. „Mann, wie lange ist das jetzt her?“

 

„So fünfzehn Jahre?“, rate ich ins Blaue hinein.“

„Wisst ihr was? Das müssen wir feiern.“, verkündet Ingo. „Dass wir uns einfach so mitten in der Nacht in die Arme laufen, kann kein Zufall sein. Kommt, ich geb euch einen aus.“

Ohne unser Einverständnis abzuwarten, legt er uns jedem einen Arm um die Schulter und schiebt uns in Richtung nächste Eckkneipe.

„Ah, schön warm hier.“, grunzt Ingo und reibt sich seine Hände. „Netter Laden.“, setzt er hinzu und schaut sich demonstrativ in der schäbigen Kneipe, deren verdunkeltes Holzinventar vermutlich in den 50er Jahren mal hell und todschick war, um.

„Was machst du eigentlich hier?“, frage ich ihn, immer noch leicht überrumpelt.

„Wie jetzt?“, erwidert Ingo konsterniert.

„Na, wenn du jetzt in Harvard bist, meine ich.“

„Ach so.“ Schon sitzt wieder dieses arrogante Grinsen auf seinen Lippen. „Ich besuche gerade meine Mutter. Mein Vater ist vor kurzem gestorben und jetzt gibt es einige Formalitäten wegen der Erbschaft zu regeln.“ Trotz der aufgesetzten Trauermiene kann er ein gieriges Glitzern in den Augen nicht verbergen. „Ihr wisst ja, wie das ist.“

,Nein, weiß ich nicht, denn wenn meine Eltern sterben, gibt es nichts wegen des Erbes zu regeln. Mein einziges Problem wird dann wahrscheinlich sein, wo ich 5.000 Euro für die Beerdigung hernehme', möchte ich am liebsten rufen. Aber Jan ist zum Glück wieder schneller: „Herzliches Beileid.“

„Ist schon gut.“, brummt Ingo. „Und, was macht ihr beiden so?“, fragt er in dem Bemühen, dass leidige Thema zu wechseln.

Jan ist selten um eine Antwort verlegen, aber jetzt druckst er etwas herum. Ich kann es ihm nicht verdenken, denn als Schuhflicker bei Mister Minit kann man gegen einen Harvardprofessor kaum anstinken. Aber ich mit meinem Verkäuferjob bei Karstadt kann ihm auch nicht wirklich behilflich sein.

„Metall- und Lederverarbeitung.“, rettet sich Jan aus der Bredouille. Ingo nickt kurz und zwei Augenpaare schwenken zu mir. Das eine starrt mich an, wie die Schlange das Kaninchen, das andere wie ein Kaninchen, dass gerade rechtzeitig vor der Schlange davongehopst ist und nun zuschaut, wie sie genüsslich auf seinen Kumpel zuschlängelt.

„Einzelhandel.“, brumme ich und winke ab, als wäre nichts weiter dabei. Was ja auch der Wahrheit entspricht. Schnell schlage ich einen rhetorischen Haken. „Wolltest du grad die Nacht zum Tag machen.“ Schelmisch blinzle ich Ingo an.

„Hier?“, knurrt er entgeistert. „Nee, das eher nicht. Ich wollte nur nochmal frische Luft schnappen. Die Berge an Unterlagen vom Notar machen einen ganz wirr im Kopf.“ Betrübt schüttelt er sein blond behaartes Haupt und kippt sich einen Schluck Bier hinter die Binde. „Aber ihr?“, fragt er dann schon wieder mit einem Schalk im Blick.

Wir schauen uns irritiert an. „Was, wir?“ Immer bin ich es, der die blöden Fragen stellen muss.

„Na, ihr seid doch bestimmt auf den Weg in irgendeinen Club. Mädels aufreißen, stimmt's.“ Dabei boxt er mir mit der Faust in die Schulter, so als wären wir immer noch 18 und nicht in einem Alter, in dem wir schon längst gesittete Familienväter sein könnten.

„Nein.“, antwortet Jan. „Wir kommen gerade vom Rollenspiel.“

Ingo Hand, die gerade das Bierglas erneut zum Mund führen wollte, hällt in der Bewegung inne. Er glotzt uns mit einer Mischung aus voyeuristischer Faszination und angewidertem Ekel an.

Jan begreift zuerst, welches Kopfkino sich in Ingos Hinterstübchen gerade abspielt. „Nein, nicht was du jetzt denkst.“ brummt er empört. „Wir machen mit Freunden ein Fantasy-Rollenspiel.“

„Aha.“, sagt Ingo ungewohnt schmallippig. „Ich kannte mal jemanden, der das auch gemacht hat. Habe aber nie ganz begriffen, wie das geht.“

„Ist eigentlich ganz einfach.“, greift Jan den Gesprächsfaden freudig auf. Ich bin ihm dankbar für seine Geistesgegenwart. So lange wir Ingo über unser Spiel aufklären, müssen wir uns wenigstens keine Stories aus seinem Leben mit den Reichen und Korrupten anhören. „Wir treffen uns so alle zwei Wochen und erleben gemeinsam in unserer Fantasie Abenteuer in einer Welt mit Magie und fantastischen Wesen und Kreaturen. So eine Art Mittelaltermärchenland, wenn du so willst. Jeder spielt einen Helden, und gemeinsam lösen wir dann Aufgaben, kämpfen gegen Drachen, gehen auf einen Markt oder erkunden geheimnisvolle Höhlen.“

„Und ihr denkt euch dann einfach irgendwas aus und labert auf einander ein?“, fragt Ingo völlig entgeistert.

„Nein, nein.“, entgegnet Jan. „Wir haben einen Meister, der alles vorbereitet und weiß, was uns erwartet. Wir Helden müssen dann auf die Situationen, in die er uns hineinmanövriert, reagieren. Jeder hat andere Fähigkeiten, die wir dann einsetzten können.“

„Und woher weiß der Meister, welche Fähigkeiten ihr habt.“ Ingo kling jetzt echt interessiert. Fasziniert beobachte ich, wie Jan ihn mit seiner Erzählung mitreißt.

„Wir haben jeder einen Spielerbogen. Da steht alles drauf.“, erklärt ihm Jan und holt seinen Rucksack hoch. Er kramt darin herum und holt sein Rollenspielmäppchen hervor. „Hier, siehst du? Da oben stehen die allgemeinen Charaktermerkmale, mein Mut, meine Klugheit, Kraft, Geschicklichkeit und so. Und hier unten sind meine Talente.“

Ingo nimmt den Spielerbogen genau unter die Lupe. „Und was bedeuten die Zahlen?“

„Je höher eine Zahl, umso besser ist die Fähigkeit ausgeprägt.“, klärt ihn Jan bereitwillig auf. „Wir haben einen Würfel mit zwanzig Feldern. Und immer, wenn der Meister eine Probe von uns verlangt, müssen wir würfeln. Wenn wir dann eine Zahl würfeln, die kleiner ist als unser Wert auf dem Spielerbogen, haben wir die Probe gemeistert.“

Ingo schaut ihn angestrengt an.

„Ich will zum Beispiel über ein Seil balancieren.“, verdeutlicht Jan ihm das ganze noch einmal. Und so jemand will Professor sein, denke ich bei mir. „Der Meister fordert eine Geschicklichkeitsprobe. Dann würfle ich eine 11. Mein Geschicklichkeitswert liegt bei 14, ich schaffe es also, über das Seil zu laufen.“

„OK.“, sagt Ingo. „Und was ist, wenn du jetzt eine 20 würfelst?“

„Dann fällt er runter.“, mische ich mich in das Gespräch ein. „20 ist das schlimmste, was dir passieren kann.“

„Aha, und so läuft das den ganzen Abend? Ihr würfelt euch einen Wolf und stellt euch dazu vor, was ihr gerade macht?“, fragt Ingo skeptisch.

„Nein, nein.“ Jan schüttelt energisch mit dem Kopf. „Hauptsächlich erzählen wir, was wir unternehmen und gehen gemeinsam gedanklich auf ein Abenteuer. Nur an kritischen Punkten verlangt der Meister, dass wir würfeln. Meistens achtet er darauf, dass die Sachen, die wir machen, logisch sind und einen Sinn ergeben.“

„Soso.“, brummt Ingo immer noch nicht richtig überzeugt. „Und wer gewinnt am Ende?“

Jan zuckt mit den Schultern. „Niemand gewinnt. Wir haben gemeinsam viel Spaß und lösen die Aufgaben gemeinsam.“

„Und was für Typen spielt ihr so?“

„Ich spiele einen Gaukler.“, sagt Jan mit einem begeisterten Glitzern in den Augen. „Und Mischa, naja, Mischa spielt ständig was anderes. Er stirbt ziemlich oft.“

Bilde ich es mir nur ein oder macht sich Jan gerade über mich lustig.

„Ich versuche eben immer neue Rollen auszuloten und meinen Horizont zu erweitern.“, sage ich gekränkt. Aber der mitleidige Blick, den Ingo mir zuwirft spricht Bände. Aus jeder Pore dieses Blick trieft das Wort „Versager“ wie ein schwärender Fieberschweiß. Ingo hat mich in einer halben Stunde durchschaut.

Das Gespräch plätschert noch eine Weile so dahin, dann machen wir uns wieder auf den Weg, nicht ohne uns noch einmal gegenseitig auf die Schultern zu klopfen und zu brüllen, wie großartig es doch war, sich mal wieder getroffen zu haben.

„Arschloch.“, brumme ich, als Ingo, der in die entgegengesetzte Richtung davongestapft war, außer Hörweite ist.

„Verwöhnter Angeber.“, stimmt Jan mir mit gewählterem Ausdruck zu. Schweigend schlendern wir den Bürgersteig entlang und hängen unseren Gedanken nach.

Jan biegt in seine Straße ein. Er wohnt gleich drei Häuser um die Ecke. Ich muss noch ein paar Meter dem verregneten Fußweg die Hauptstraße hinunter folgen, dann bin ich auch zu Hause.