Die Jägerin - Die Wiege des Bösen (Band 5)

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Die Jägerin - Die Wiege des Bösen (Band 5)
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Nadja Losbohm

Die Jägerin - Die Wiege des Bösen (Band 5)

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Widmung

1. Wieder zuhause

2. Das elfte Gebot

3. Alles wieder komplett

4. Dickkopf

5. Nullachtfünfzehn-Jägerin

6. Schmerzliche Lektion

7. Hand trifft Wand – oder auch umgekehrt

8. Kirchen-Alltag und Neues

9. Die priesterlichen vier Buchstaben

10. Zeit für Veränderung

11. Back again

12. Ein leidiges Thema

13. Unfaires Spiel

14. Kuriositätenkabinett

15. Des Rätsels Lösung

16. Caitriona O’Riain

17. Lug und Betrug

18. Der Schleier über allem lüftet sich

19. Wiederholt sich die Geschichte?

20. Seid nett zueinander

21. Vergeben und Vergessen

22. Weitestgehend sicher

23. Eine Familie

24. Ausflug in die Unterwelt

25. „Hier liegt das Böse“…oder so ähnlich

26. Die Wiege des Bösen

27. Die Pater Michael und Ada - Gedächtnistour

28. Die Schutzheiligen

29. Rosalie

30. Für zivile Personen verboten

31. „Ich habe es ja gewusst!“

32. Auf gewohntem Terrain

33. Löcher im Sumpfgras

34. Der Mittelpunkt meines Lebens

35. Worte der Endgültigkeit

36. Erinnerungen schaffen

37. Krallen, Pocken und et cetera

38. Ein Flüstern im Innern

39. Bricht die Nacht herein, stehen auf die Monsterlein

40. Feuerwerk

41. Weine nicht, mein Liebling!

42. Der Tod bringt Erlösung

43. Flammen und Rauch

44. Treue Gemeinde

Hintergrundinfos zu „Die Jägerin“

Danksagung

Impressum neobooks

Widmung

Für alle „Jägerinnen“ auf dieser Welt, die jede auf ihre Weise ihre persönlichen Schlachten schlagen müssen.

1. Wieder zuhause

Sorgfältig stellte er meine Schuhe beiseite. „Selbst jetzt, in solch einem Moment, kann er von seinem Ordnungswahn nicht ablassen,” dachte ich, und eine Welle der Zuneigung überkam mich, während ich an diese belanglose Macke des Paters dachte, die mir merkwürdiger Weise gefehlt hatte, wie ich plötzlich bemerkte.

Nach und nach entkleidete er mich. Er tat es langsam und mit einer Ruhe, als würde es keine Zeit gäben. Vielleicht gab es sie auch nicht mehr. Denn was bedeuteten schon Minuten oder Stunden, wenn man dem Tode gerade noch so entkommen war? Nur mir schien es etwas auszumachen, und es gab einen triftigen Grund dafür. Schließlich war ich diejenige, die mit jedem Moment, der vorüber zog, mehr entblößt wurde und der deswegen die Hitze vor Scham ins Gesicht stieg. Ich fühlte mich ohnehin wegen dem, was geschehen war, verletzlicher als sonst. Doch die Nacktheit verstärkte dieses Gefühl noch um ein Vielfaches. Aber mir fehlte die Kraft, um mich zu wehren, als Pater Michael um mich herum griff, den Verschluss meines BHs öffnete, die Träger über meine Schultern und Arme schob und das Stück Wäsche ebenfalls sorgsam zur Seite legte. Beschämt schlug ich die Augen nieder, als mir auffiel, wie verschmutzt die Unterwäsche war und dazu noch unangenehm roch. Natürlich war die Zeit an meinen Kleidungsstücken nicht unbemerkt vorübergegangen, und von jedem einzelnen Stück ging ein säuerlicher Geruch aus, der sich an dem Stoff festkrallte wie ein Symbiont an seinem Wirt. Seit mehreren Tagen hatte ich mich nicht mehr waschen können, und der Gestank meines eigenen Schweißes widerte mich entsetzlich an. Ich war mir sicher, dass es dem Pater ebenso gehen musste. Jedoch ließ er es sich nicht anmerken, sondern machte unbeirrt mit seiner Aufgabe weiter. Ich ließ ihn gewähren.

In gewisser Weise, so denke ich, war es für ihn auch eine Art Ritual. Pater Michael wollte es tun. Er MUSSTE es tun, weil er begreifen wollte, dass ich wieder an seiner Seite war. Aber ich hatte zuvor auch Reue auf seinem Gesicht gesehen, und ich wusste, dass er es mit der Weise, wie er sich um mich kümmerte, wiedergutmachen wollte, dass er mich nicht vor dem hatte bewahren können, was mir widerfahren war. Seine plötzliche Bitte, mich zu erheben, holte mich aus meinen Gedanken. Mühsam kämpfte ich mich auf die Füße. „Stütz dich auf meinen Schultern ab,” flüsterte Pater Michael, der vor mir kniete und das Zittern meiner Beine bemerkt hatte, die sich mit jeder verstreichenden Sekunde mehr anstrengen mussten, um mich aufrecht zu halten. Es wurde umso schwieriger, als mich eine noch größere Welle der Scham überrollte, sobald ich bemerkte, dass wir nicht allein waren. Mein Wahrnehmungsfeld war nur auf den Padre beschränkt gewesen, aber nun, wo ich den Blick durch mein geliebtes Zuhause schweifen ließ, entdeckte ich meinen Bruder in der Zimmertür stehend. Alex sah besorgt aus, knabberte nervös auf seiner Unterlippe herum und beobachtete den Pater und mich. Ich hielt die Luft an, als mir bewusst wurde, dass ich entblößt vor ihm stand, und meine Verlegenheit nahm nicht ab, als ich spürte, wie Pater Michaels Hände unter den Stoff meines Slips glitten und er das winzige Stückchen Stoff von meinen Hüften schob. In einer einzigen fließenden Bewegung rutschte es zu meinen Fußknöcheln hinunter, und der Pater half mir, aus es herauszusteigen. Ich wimmerte und verzog beschämt das Gesicht, weil ich nun nackt wie ein Baby vor den zwei Männern stand, die mir auf dieser Welt am meisten etwas bedeuteten. Ich begann zu zittern und versuchte, mich so gut es ging mit den Händen zu bedecken. Erst als Pater Michael mich auf seine Arme hob und in mein Badezimmer trug, erlöste er mich von der bedrückenden Gegenwart meines Bruders.

Von der Toilette aus, auf deren Deckel ich saß und darauf wartete, dass Pater Michael die Temperatur des Wassers einstellte, betrachtete ich ihn von oben bis unten. Seine schwarze Kampfkleidung schmiegte sich eng an seinen muskulösen Körper. Der Stoff seines Pullis war an einigen Stellen zerrissen, und ich konnte die Wunden deutlich erkennen. Sie hatten aufgehört zu bluten, und das Rot war zu einem dunklen Braun geworden. Nichtsdestotrotz sahen die Verletzungen schmerzhaft aus. Pater Michael schien es jedoch nicht zu stören. Nicht einmal die tiefen Schnitte auf seiner Wange, die aussahen, als müssten sie genäht werden, schienen ihn zu kümmern. Ich dachte gerade darüber nach, ob er Narben davontragen würde, als der Pater sich zu mir umdrehte. Sobald er mich erblickte, zog er scharf den Atem ein. Es schien, als wäre er sich im gnadenlosen hellen Licht dieses Raumes eben erst bewusst geworden, welche Qualen ich durchlitten hatte, die sich ihm nun in ihrem ganzen Ausmaß schonungslos zeigten. Pater Michaels Augen begannen plötzlich feucht zu glänzen. Er bemühte sich, seine Gefühle zu verbergen, sie niederzukämpfen. Es war rührend, wie er versuchte, stark für mich zu sein. Nach einigen weiteren Augenblicken hatte er sich wieder so weit im Griff, dass er zu mir herüberkam, mich hochhob und zu der Dusche trug. Als er in die Kabine steigen wollte, erinnerte ich ihn daran, dass er noch vollständig bekleidet war, doch der Padre unterbrach meinen Protest und flüsterte: „Shh! Das ist nicht von Bedeutung, Ada. Nur du zählst jetzt.” Mit diesen Worten ging er in die Hocke und zog mich mit sich hinunter. Entschlossen drückte er mich auf seinen Oberschenkel, der mir eine willkommene Sitzmöglichkeit bot. Bereitwillig setzte ich mich und gab mich dem warmen Wasser und den sanften Händen des Paters hin. Mit jedem Streichen seiner Finger über meine Haut und jedem Tropfen aus dem Duschkopf schien es mir, als würde der Schmerz und die Folter der letzten Tage von mir abgewaschen, und all die Qualen verschwanden im Abfluss. Lächelnd drehte ich meinen Kopf zu Pater Michael und ließ meine Augen über sein Gesicht wandern. Es wirkte streng und verbittert, düster und zornig, traurig und ernst, nachdenklich und schuldig.

 

„Ich weiß nicht, ob ich es gut finden oder lieber zur Schere greifen soll, um deine Haare abzuschneiden,” flüsterte ich und beobachtete zufrieden, wie sich Pater Michaels Gesichtszüge entspannten und er lächelte. „Deine Haare hatten viel zu viel Zeit, um zu wachsen. Ich muss eine Ewigkeit fort gewesen sein,” sagte ich mit kratziger Stimme und griff nach einer der langen dunklen Strähnen, die nun nass und schlaff von seinem Kopf herunterhingen.

„Das warst du auch,” sagte Pater Michael mit belegter Stimme und ließ meine Spielereien mit seinen Haaren geduldig über sich ergehen. „Aber sie waren bereits länger, bevor…” Die Stimme versagte ihm, und seine Miene verdunkelte sich plötzlich wieder. Er räusperte sich und beendete seinen Satz. „Bevor du mir weggenommen wurdest. Wir führten bereits mehrere Diskussionen darüber, ob meine Haare geschnitten werden müssen oder nicht. Erinnerst du dich nicht mehr daran?”, fragte er und strich vorsichtig mit dem Schwamm über meine Armbeuge, wo die Einstichlöcher der Kanülen blaurot leuchteten.

Verwundert starrte ich den Padre an. Meine Augen glitten von den nachdenklichen Falten, die auf seiner Stirn lagen, zu seiner Nase und den fest aufeinander gepressten Lippen und gelangten schließlich zu seinem Hals. Ich gab ein Wimmern von mir, als ich die zwei Löcher sah, die die Vampirfrau mit ihren Zähnen in seine Haut gerissen hatte. Der Anblick erinnerte mich unweigerlich an meinen eigenen grausamen Kuss. So lange hatte ich es geschafft, solch eine innige Begegnung zu verhindern, aber schließlich hatte es mich doch erwischt. Das Blut an Pater Michaels Hals, das aus den Wunden geflossen war, war in dunklen Bahnen getrocknet. Doch nun, da wir beide unter dem Wasserstrahl der Dusche hockten, wurde es langsam aufgelöst und hinfort gewaschen. Das Gleiche geschah auch mit der Verletzung auf seiner linken Wange, wie ich erkennen konnte, nachdem ich meine Hand zu seinem Kinn gehoben und sein Gesicht so zu mir herumgedreht hatte, sodass ich es besser betrachten konnte. Vorsichtig berührte ich die Wunde, die sich geradlinig durch den Bart, den er ebenfalls hatte wachsen lassen, zog. Der bloße Anblick ließ selbst mich Schmerzen verspüren. Aber mehr als ein Augenzwinkern und ein Zucken seines Mundwinkels entlockte ihm der Schmerz nicht. Seufzend ließ ich meinen Arm wieder in meinen Schoß fallen, legte den Kopf zurück und lehnte ihn gegen die Fliesen an der Wand. „Nein, ich habe es wohl vergessen,” beantwortete ich enttäuscht Pater Michaels Frage. Genau genommen, konnte ich mich an nichts mehr erinnern, was vor meinem Aufwachen in der Holzkiste, dem Sarg gewesen war.

„All dies ist auch nicht wichtig, Ada. Es ist nur wichtig, dass du wieder bei mir bist. Ich sorge für dich. Ich helfe dir dabei, wieder zu Kräften zu kommen.”

2. Das elfte Gebot

Es ist ein äußerst seltsames Gefühl, wenn man von einem anderen Menschen abgetrocknet wird. Was bei Eltern, die sich um ihr Kind kümmern, eine Normalität ist, brachte mich gleichzeitig zum Kichern und Erröten. Ich musste lachen, weil mich die sanften und langsamen Berührungen des Paters in der Achselhöhle kitzelten, und ich wurde rot wie eine Tomate, als er beim Abtrocknen meiner Füße vor mir auf dem Boden hockte und dabei mit seinem Kopf meiner Körpermitte gefährlich nahe kam. Auch ihm war es aufgefallen, aber er quittierte es nur mit einem sanften Lächeln, erhob sich ohne etwas dazu zu sagen und legte das nasse Handtuch beiseite, nur um mich mit einem frischen weiter trocken zu rubbeln.

„Ich habe nachgedacht,” meinte ich und sah zum Pater hinauf, dessen Augenbrauen auf die Stirn flohen. Er wartete darauf, dass ich weitersprach. „Darüber, was mir wirklich helfen würde, mich zu erholen.” Das Handtuch, das an meinem Arm herumrieb, stoppte und Pater Michael sah mich neugierig an. „Wenn du den Bart abrasieren und die Haare etwas stutzen würdest, wäre das sehr hilfreich,” sagte ich. „Ein paar wenige Zentimeter würden mir schon genügen,” fügte ich hinzu und befreite meinen Arm aus dem Handtuch, um ihn nach Pater Michaels Kopf auszustrecken. Doch sein Reaktionsvermögen war wie immer hervorragend, und er wich mir rasch aus.

„Was hast du nur immer mit meinen Haaren? Es tut mir wirklich leid, aber ich hatte in der letzten Zeit wahrlich andere Sorgen, als auf die Länge meines Haares oder eine ordentliche Rasur zu achten, und nur damit du es weißt: Es bleibt alles dran!” Seine Äußerung war klar und deutlich, aber sie gefiel mir nicht! Ich zog einen Schmollmund und versuchte es auf die Mitleidstour. Doch der Padre lachte nur laut über meinen Anblick, und ich fand, es war das Schönste, das ich seit langem gehört hatte. „Einfach unglaublich! Nach allem, was du durchgemacht hast, kannst du immer noch mit mir diskutieren, und dein größtes Problem sind meine Haare! Ich wusste doch, dass mir irgendetwas gefehlt hat,” bemerkte er mit einem Schmunzeln, wurde jedoch gleich wieder ernst und blickte mir eindringlich in die Augen. „Du hast mir gefehlt, Ada,” flüsterte er, beugte sich zu mir hinunter und lehnte seine Stirn gegen meine. Für einen Moment verharrten wir so und genossen die Nähe des anderen. Aber irgendwann konnte ich mich nicht mehr beherrschen und fragte: „Habe ich dir vielleicht so sehr gefehlt, dass du mir eine Freude bereiten möchtest, indem du dich rasierst und deine Haare für mich abschneidest?”

Ein Lachen rollte durch Pater Michael und brachte seinen gesamten Körper zum Beben, aber schon bald wurde er wieder ernst und schlug vor, ich solle lieber meinen Hals und meine Stimme schonen und schweigen. Ich schüttelte den Kopf und entgegnete ihm mit rauer Stimme, dass er gefälligst nicht vom Thema ablenken solle. Ich hatte schließlich noch nicht das gesagt, was ich sagen wollte. Im Flüsterton sprach ich weiter und behauptete völlig ernst und mit erhobenem Zeigefinger: „In der Bibel steht geschrieben: Du sollst dein Haar schneiden, wenn es die Jägerin wünscht.”

Pater Michael verstummte bei meinen Worten und lehnte sich zurück. Mit einem Blick, der aussagte, dass er um meine geistige Gesundheit besorgt war, blickte er auf mich hinunter. „An welcher Stelle steht das?”, wollte er wissen, umfasste meinen Zeigefinger mit dem Handtuch und drängte ihn wieder nach unten.

Fieberhaft dachte ich nach, was ich ihm antworten konnte, und meinte schließlich: „Gleich nach den zehn Geboten, an elfter Stelle.”

Pater Michael schüttelte den Kopf. „Es gibt kein elftes Gebot!”, erwiderte er entschieden und wechselte mit dem Handtuch zu meinem anderen Arm, um auch diesen zu rubbeln.

„Vielleicht nicht in der Ausgabe, die du zuletzt gelesen hast, aber in meiner schon,” meinte ich und nickte vehement.

„Das glaube ich dir nicht,” gab Pater Michael zurück und rieb unbeirrt an mir herum. „Aber ich sage dir, was dort tatsächlich geschrieben steht: Du sollst nicht die Unwahrheit sagen,” klärte er mich auf.

„Aber ich lüge nicht!”, rief ich empört aus, wobei sich meine angegriffene Stimme überschlug und klang, als wäre ich im Stimmbruch. Ich versuchte, dem Padre meinen Arm zu entziehen, aber er war zu schnell und zu stark für mich. Mühelos hielt er mich fest und musterte mich eindringlich. Ich musste mir schleunigst etwas einfallen lassen, damit ich aus dieser Nummer wieder herauskam. „Auf Seite neunhundertsiebenundsechzig steht es so geschrieben, wie ich es gesagt habe,” behauptete ich und konnte mir kaum selbst das Lachen verkneifen. Mit jedem Wort, das aus meinem Mund kam, ritt ich mich immer weiter in die Sch…piep… hinein.

„Seite neunhundertsiebenundsechzig?”, hakte der Pater nach. Ich nickte und sah, wie er den Kopf zurücklegte und an die Decke starrte. Nachdenklich tippte er sich mit dem Finger gegen das Kinn. Wenige Augenblicke später war ihm das in den Sinn gekommen, nach dem er gesucht hatte. „,So spricht Gott, der Herr. Jetzt gehe ich gegen dich vor, Tyrus, und lasse viele Völker gegen dich anbranden, wie das Meer seine Wogen anbranden lässt. Sie zerstören die Mauern von Tyrus, und seine Türme reißen sie ein. Sein Erdreich schwemme ich weg, zum nackten Fels mache ich Tyrus. Ein Platz zum Trocknen der Netze wird es mitten im Meer, denn ich habe gesprochen.’ Das ist es, was auf Seite neunhundertsiebenundsechzig des Buches Ezechiels geschrieben steht. Möchtest du auch das Kapitel und die Verse wissen? Kapitel sechsundzwanzig, die Verse drei, vier und fünf,” gab Pater Michael zum Besten und schmunzelte über meinen missbilligenden Gesichtsausdruck und mein Augenrollen. „Ich bitte dich, Ada! Du willst dich doch nicht wirklich mit mir darüber streiten, was in der Bibel steht und an welcher Stelle. Ich habe jede Auflage, die jemals erschienen ist, gelesen,” erinnerte er mich großzügigerweise.

Ich seufzte genervt und gab klein bei. „Schon gut! Grundgütiger! Du kannst ein ziemlich großer Angeber sein. Ich sehe meinen Fehler ein und gebe mich geschlagen, Pater Allwissend. Aber einen Versuch war es wert,” erwiderte ich.

Pater Michael lächelte und entgegnete mir: „Natürlich.” Aber es war offensichtlich, dass er zufrieden war und sich sehr darüber freute, dass er den Schlagabtausch gewonnen hatte. Wieder einmal. Doch nach einer Weile, in der wir uns schweigend gegenüber gestanden und er meine Vorderseite trocken gerieben hatte, fand er seine Sprache wieder und fragte: „Möchtest du wissen, was in Kapitel sechzehn im Buch Ezechiel geschrieben steht?”

Ich gab nur eines dieser Pater Michael typischen „Mhhs” von mir, die alles bedeuten konnten: Ja. Nein. Vielleicht. Lass mich in Ruhe! Aber es schreckte meinen Lehrer nicht ab. Er begann zu sprechen, und mit jedem Wort, das er sagte, lauschte ich aufmerksamer und verfiel freiwillig in das Schweigen, das er sich von mir gewünscht hatte. „Da kam ich an dir vorüber und sah dich in deinem eigenen Blut zappeln,“ sagte er und strich vorsichtig über die zwei Löcher an meinem Hals, die die Vampirlady dort hinterlassen hatte und die mich wohl noch eine ganze Weile an das erinnern würden, was geschehen war. „Und ich sagte zu dir, als du Blut verschmierst dalagst: Bleib am Leben! Wie eine Blume auf der Wiese ließ ich dich wachsen und du bist herangewachsen, bist groß geworden und herrlich aufgeblüht. Doch du warst nackt und bloß. Da kam ich an dir vorüber und sah dich, und siehe, deine Zeit war gekommen, die Zeit der Liebe. Ich breitete meinen Mantel über dich und bedeckte deine Nacktheit.” Ich erschrak, als er plötzlich seine Arme hob, das Handtuch durch die Luft wirbeln ließ und mich schließlich darin einwickelte. Mit großen Augen blickte ich zu ihm auf und wartete darauf, dass er fortfuhr. Pater Michael lächelte und nickte zufrieden. Er wusste, dass er mich mit diesen Versen gefesselt hatte. „Ich leistete dir den Eid und ging mit dir einen Bund ein, und du wurdest,” sagte er, lehnte sich zu mir hinunter und küsste mich zärtlich auf beide Wangen, „mein!” Seine Lippen legten sich auf meine. Die Berührung war nur kurz und sanft wie der Flügelschlag eines Schmetterlings.

In das Handtuch gehüllt hob er mich auf seine Arme und trug mich in mein Schlafzimmer. Sobald er den Raum betreten hatte, riskierte ich einen raschen Blick zur Zimmertür und stellte erleichtert fest, dass mein Bruder nicht mehr dort stand. Ich wusste nicht, wohin er gegangen war, aber offenbar hatte er es für klüger und anständiger befunden, Pater Michael und mich allein zu lassen. Vorsichtig wurde ich auf dem Bett abgesetzt und kam mir etwas verloren vor, als der Padre mich unerwartet allein ließ. Doch es war nicht für lange Zeit und auch nur, weil er mir etwas zum Anziehen holen wollte. Als er schließlich mit meinem pinkfarbenen Pyjama zurückkehrte, musste ich lächeln.

 

„Ich kleidete dich in bunte Gewänder;” hörte ich Pater Michaels Stimme sagen und brauchte einen Augenblick, um zu verstehen, dass er weiter die Bibel rezitierte. Dieser Satz passte so hervorragend zu meinem farbenfrohen Kleidungsstück, und es faszinierte mich, dass der Pater so mühelos einen Text aus der Heiligen Schrift wählen und wiedergeben konnte, der seine Taten so treffend beschrieb. Vor mir ging er auf die Knie, holte mit den Armen aus und legte mir geschickt das Oberteil des Pyjamas um. Er half mir dabei, in die Ärmel zu schlüpfen und schloss langsam, beinahe andächtig, die Knöpfe. „Ich hüllte dich in kostbare Gewänder,” fuhr er fort, und ich sah, wie er dabei lächelte, denn das „Gewand“, das er mir umgelegt hatte, war keineswegs kostbar, aber dafür bunt. „Ich legte dir prächtigen Schmuck an, legte dir Spangen an die Arme und eine Kette um den Hals,” sagte er, griff plötzlich unter den Stoff seines Pullis und zog den Rosenkranz seiner Mutter, der dort die ganze Zeit gelegen hatte, hervor. Er nahm ihn ab und hängte ihn mir um den Hals. Ich schüttelte verwirrt den Kopf. Er wollte ihn mir doch wohl nicht etwa schenken? Ich wollte ihn danach fragen, aber Pater Michael legte mir einen Finger auf die Lippen und verbannte mit einem einzigen liebevollen Kuss auf den Mund alle Gedanken aus meinem Kopf. Als er sich von mir löste, hielt ich meine Augen geschlossen und schwelgte noch für eine Weile in dem Gefühl seiner Lippen auf meinen. Erst als ich hörte, wie sich seine Schritte von mir entfernten, wurde ich aus meinen Träumereien geholt und lauschte den Geräuschen, die aus dem Badezimmer kamen. Was zum Henker suchte er dort? Die Antwort: meine Bürste. Außerdem entdeckte ich in seiner Hand noch ein Handtuch und einen Haargummi. Er dachte aber auch wirklich an alles, und offenbar war er noch nicht fertig damit, sich um mich zu kümmern.

Pater Michael lächelte, als er mein verblüfftes Gesicht sah. Er breitete neben mir das Handtuch aus, um sich mit seiner feuchten Kleidung daraufzusetzen, und drehte meinen Kopf in die richtige Position, damit er problemlos an meine Haare gelangen konnte. „Ohrringe hängte ich dir an die Ohren und setzte dir eine herrliche Krone auf,” sagte er in ruhigem Tonfall und streichelte sanft über meinen Kopf, was mir ein wohliges Seufzen entlockte. Ich mochte es, wenn man mich sanft am Kopf berührte. Bei dieser Art von Liebkosung konnte ich herrlich entspannen. Nur leider war auch dieser Moment viel zu schnell vorüber und Pater Michael mit seiner Aufgabe fertig. Mit geschickten Händen band er meine Haare zusammen und ließ den Zopf ein letztes Mal durch seine Finger gleiten. Unter mir spürte ich, wie sich die Matratze bewegte, als der Pater näher an mich heranrutschte und sich dicht an mich lehnte. Sein warmer Atem streifte über mein Ohr und den Hals, und als er mir zuflüsterte, durchfuhr mich ein angenehmer Schauer. „So wurdest du strahlend schön und wurdest sogar Königin.” Der Klang des letzten Wortes hallte noch in meinen Ohren nach, da spürte ich bereits seine Lippen an meinem Hals, den er mit unendlich vielen federleichten Küssen bedeckte, sorgsam darauf bedacht, nicht die Bisswunde der Vampirin zu berühren. Doch er gönnte es mir nicht, seine Zärtlichkeiten noch viel länger zu genießen und schob mich ohne jegliche Anstrengung auf dem Bett herum und zwang mich dazu, mich hinzulegen. „Du brauchst keine Angst zu haben,” sagte er und legte die Decke über mich. „Ich bleibe die ganze Zeit über bei dir.” Er lehnte sich zu mir hinunter, um mir einen Kuss auf die Stirn zu geben. Ich lächelte ihn an, aber als mein Blick zu der Wunde auf seiner Wange wanderte, verzog ich gequält das Gesicht. Tränen begannen in meinen Augen zu brennen, und ich schniefte. „Was ist, Ada? Was hast du?”, fragte Pater Michael und umfasste meine Wange mit seiner Hand. Beruhigend strich sein Daumen über die Haut.

„Die Verletzung…dein Gesicht…es tut mir so leid…ich wollte das nicht,” schluchzte ich.

Der Pater legte den Kopf schief und lächelte. Für einen Moment schien er über meine Worte nachzudenken, und schließlich beugte er sich zu mir hinunter und gab mir einen Kuss. Er lehnte seine Stirn an meine und sagte: „Es ist nicht deine Schuld, Ada. Du kannst nichts dafür, und es nicht so schlimm, wie es dir vielleicht erscheinen mag. Ich verspüre kaum Schmerzen. Es wird wieder heilen. Ich möchte nicht, dass du dich sorgst.”

„Aber…”, setzte ich an, wurde jedoch von seinen Lippen, die sich sanft auf meine legten, unterbrochen. Dieses Mal jedoch blieb er länger bei mir, und ich fragte mich, was diesen Augenblick so anders für ihn machte, dass er sich nicht sofort wieder von mir entfernte. Aber dann mischte sich ein salziger Geschmack in unseren Kuss und ich begriff, dass es die Tränen des Paters waren, die er so lange versucht hatte zurückzuhalten. Ich wollte mich von ihm lösen, aber es war zwecklos. Meine Bemühungen, mich zu befreien, veranlassten ihn nur dazu, mir seinen Mund noch fester aufzudrücken. Er tat mir nicht weh. In diesem Kuss lagen seine ganze Verzweiflung und Sehnsucht, sein tiefes Begehren und seine größten Ängste, seine aufrichtige Liebe und unendliche Erleichterung. Und erst als er mir all das mit seinen Lippen preisgegeben hatte, gab er mich frei und flüsterte dicht vor meinem Gesicht: „Du musst jetzt schlafen, Liebste. Ruh dich aus, und wenn du aufwachst, wird die Welt für dich anders aussehen.”