Ein Sommer in der Normandie

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Ein Sommer in der Normandie
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Ein Sommer in der Normandie

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Nadine Roux
Ein Sommer in der Normandie
Roman

Die Pariserin Camille widmet ihr Leben dem Schreiben von Kriminalromanen und ist damit außerordentlich erfolgreich. Ihr Privatleben möchte sie am liebsten ausblenden, zu sehr schmerzen die Erinnerung an ihre Familie, die sie verloren hat, und an den Tag ihrer Hochzeit, nach dem nichts mehr so war wie vorher. Nur ihr Schwiegervater Georges steht ihr noch nah. Eine Schreibblockade stürzt sie in diese Realität zurück. Bei ihrer Freundin Magali in der Normandie will sie neue Ideen finden und zurück in die Spur gelangen. Doch der lebenslustige Romain macht ihr einen Strich durch die Rechnung und droht den Panzer um ihr Herz zu durchbrechen. Außerdem trifft sie in Trouville-sur-Mer auf die unkonventionelle Madame Jeanette, die etwas über Georges zu wissen scheint.

- Ein Roman über den Zauber des Sommers und die Kraft der Veränderung.

Nadine Roux wurde 1988 geboren und studierte in Hamburg Romanistik und Jura. Sie lebt in der Lüneburger Heide. Ein Sommer in der Normandie ist ihr erster Roman.

Text: © Natalie Rusch

Umschlaggestaltung: © Natalie Rusch

Lektorat: SB

Verlag: Natalie Rusch

c/o Stefan Stern

Feldkreuzweg 11

79793 Wutöschingen

ISBN: 978-3-7450-9377-3

4. Auflage September 2017

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Sie sah das Cover ihres neuen Buches schon vor sich. Camille Brochard – L’amertume. Bitterkeit. Darauf ein Foto von ihr in der oberen Hälfte und darunter irgendein düsteres Landschaftsbild einer Agentur, das sich der Verlag aussuchen würde. Camille ging es aber um ihr Foto. Der Grund für ihren Ruhm, ihre umfassende Bekanntheit im ganzen Land. Nicht hinten auf dem Buchdeckel, nicht als kleines Foto auf der letzten Seite, nein, vorne auf dem Cover war sie stets zu sehen und für jedes Buch mit einem anderen, immer exakt ausgefeilten Gesichtsausdruck. Ihr neuer Krimi würde also L’amertume heißen und vor dem Spiegel probte Camille ihren Blick. Sie fand, dass sie durchaus Schauspielerin hätte werden können, ihr Repertoire war groß: Kaum merklich kniff sie die Lippen zusammen und die kleinen Muskeln unterhalb der Augen, außerdem ihre Augenbrauen. Keine großen Veränderungen, aber die Wirkung war enorm: Feindseligkeit. Jener Ausdruck, der ihren Debütroman zu einem Erfolg gemacht hatte, damals vor sieben Jahren. Fünf Bücher waren gefolgt und jedes Mal wieder stand Camille vor dem Spiegel, wo ihre stechend blauen Augen sie anstarrten, wahlweise also mit Feindseligkeit, Entsetzen, Hass, Verschwiegenheit und nun Bitterkeit. Das war leicht. Camille drapierte ihre blondierten, mittellangen Haare so, dass sie nicht den Verdacht erweckten, schön, schwungvoll und lebendig zu sein. Nein, das passte nicht zu ihr und nicht zu ihrem Krimi. Ein Seitenscheitel verdeckte einen Teil ihrer Stirn, die Zornesfalte, die sie zog, einen anderen. Sie kräuselte die Mundwinkel und hörte für einen Moment auf zu atmen. Ein imaginäres Blitzlicht und Camille atmete auf. So würde es perfekt sein, das neue Foto. Camille Brochard war Perfektionistin, niemals würde sie sich in die Hände eines Fotografen begeben und sich vor der Kamera dirigieren lassen. Niemand sagte Brochard, was sie zu tun hatte.

Brochard, so nannte man sie und so nannte sie sich selber. Nicht Madame Brochard, nicht Camille Brochard. Für die Öffentlichkeit war sie einfach nur Brochard. Ohne den Glanz einer Diva zu haben wie La Bardot oder der Dietrich. Immerhin schrieb sie Kriminalromane und machte keine Liebesfilme, die sie für überflüssigen Schund hielt. Aber wenn ihr auch der Glanz fehlte, so hatte sie doch etwas, das sie von allen anderen Frauen in der Öffentlichkeit unterschied. Sie war respekteinflößend und verbreitete mitunter Angst und Schrecken. Eine Frau, die die Hosen anhatte, kompromisslos und hart. Diese Härte war etwas, was sie sich über viele Jahre erarbeitet hatte und nun begründete sich darauf sogar ihr Ruhm. Niemand liebte sie, aber man respektierte sie und las ihre Bücher, das war alles, was für sie zählte. „Quelle femme!“ war etwas, was sie häufig hörte, wenn die Leute hinter ihr tuschelten. War der Ton bewundernd, verzog sie kaum merklich die Mundwinkel zu einem Mona-Lisa-Lächeln. War er leicht despektierlich, brauchte sie sich nur umzudrehen und den Widersacher mit einem Blick aus ihren stahlblauen Augen zu töten und sie trug erneut den Sieg davon.

Einer Konfrontation ging sie nie aus dem Weg, La Brochard. Sie war daher ein gern gesehener, aber auch heikler Gast in den zahlreichen Talkshows in Fernsehen und Radio. Jene, die sich gut präsentieren wollten, brachte sie ein ums andere Mal richtig ins Schwitzen und dann gab es für diese Blender nichts mehr zu lachen.

Einmal war sie in einer Talkshow, in der der Moderator versuchte, Camille in ein angenehmes Licht zu rücken.

„Madame Brochard, Sie sehen heute fabelhaft aus. Man mag gar nicht glauben, dass Sie die düstersten Kriminalromane Frankreichs schreiben!“ Es folgte ein kleines Lachen, jenes, das diese Fernsehleute immer beherrschten. Jenes, das aussagte: Schaut her, wie fantastisch ich bin, niemand kann mir widerstehen! Aber eine Camille Brochard hatte darauf natürlich die richtige Antwort.

„Man mag aber sehr wohl glauben, dass Sie die langweiligste Talkshow des Landes moderieren, Monsieur. Haben Sie meine Bücher gelesen?“

Sämtliche Gesichtszüge waren dem Moderator bereits entglitten und dann sollte er auch noch eine Frage beantworten. Was für eine Katastrophe. Er wand sich wie ein Wurm. Camille unterdessen hatte sich zurückgelehnt und ihren linken Fuß, an dem ein roter High Heel steckte, auf ihr rechtes Knie gelegt. Sie saß da wie ein Mann und nagelte den armen Kerl mit ihrem stechenden Blick fest, in dem Spott, Missachtung und auch eine Spur Spaß stand.

„Nun ja, es sind ziemlich dicke Bücher, nicht wahr?“, versuchte Monsieur sich aus der unangenehmen Lage zu befreien, zupfte an dem Knoten seiner Krawatte, der ihm urplötzlich viel zu eng vorkam und bemühte sich, eine neue, diesmal unverfängliche Frage zu stellen. Camille machte sich einen Spaß daraus, ab sofort nur noch mit Ja und Nein zu antworten und dabei ihre beste und erfolgreichste Karte auszuspielen: Ihre Mimik. Welche Wirkung ein „Nein!“ hatte, wenn man es mit einem Ausdruck untermalte, der auch noch sagte: Sie stehlen meine Zeit, Sie unverschämter Kerl und Ihre Frage ist die dümmste, die mir je untergekommen ist. Aus dieser Talkshow machte Camille jedenfalls ihre eigene Show und sie genoss es, sie zu zerstören. Sie spürte das blanke Entsetzen der Redakteure hinter den Kameras und die freudige Anspannung des Publikums, das sie anstarrte wie einen Autounfall. Man findet nicht gut, was da passiert, aber man kann einfach nicht weggucken. Camille hatte statt eines Glases Wasser Whiskey bestellt, natürlich. Auf keinen Fall konnte sie Wasser trinken so wie alle anderen. Und Whiskey zu trinken, das war außerdem das nächste Tabu in Frankreich.

Während nach einem solchen Auftritt der Ruf eines jeden seriösen Autors unwiederbringlich zerstört gewesen wäre, so gab es bei Camille Brochard keinen Ruf, der auf dem Spiel gestanden hätte. Sie war immer so und es war ihrem Erfolg nicht hinderlich, sondern befeuerte ihn nur. Unnötig zu erwähnen, dass nach dieser Fernsehshow die Verkaufszahlen ihrer Romane ins Unermessliche gestiegen waren.

Das war schon ein Jahr her, mittlerweile hatte sie weitere Bücher veröffentlicht, deren Titel stets mit einem „A“ begannen. Zuletzt L’abîme, der Abgrund. Ein erfolgreicher Krimi, der im Périgord spielte, dem Zentrum des guten Lebens in Frankreich. Gänseleber, Wein, Cognac, weite Landschaft, dunkle Wälder. Aber es war auch der am dünnsten besiedelte Landstrich jenseits der Berge. Nirgendwo war es in den Nächten dunkler. Camille hatte daraus einen wunderbar düsteren Krimi gesponnen, der auch in einer der prähistorischen Stätten spielte, die es in jener Wiege der Menschheit mitten in Frankreich gab. Ein purer Erfolg, denn Camille wusste die Liebe ihrer Landsleute zu ihrem eigenen Land zu nutzen. Ein bisschen schade war es nur, dass sich natürlich mal wieder kein Office de Tourisme aus der Gegend bei ihr melden und sich bedanken würde. „Merci, Brochard“ hätte ihr schon gereicht und dazu vielleicht eine Flasche Cognac oder eine Dose Foie Gras. Aber nein, damit konnte sie nicht rechnen, schon gar nicht sie. Sie gönnte sich stets nur einen kurzen Moment des Bedauerns. Ebenso wie sie sich immer nur einen kurzen Moment jener Gefühle gönnte, die für sie Schwäche darstellten. Freude, Trauer, Scham und Liebe zum Beispiel. Manchmal hielt sie es für unmöglich, dass sie dazu imstande war, überhaupt Derartiges zu fühlen, aber Kopf und Herz waren immer noch zwei verschiedene Personen und es gab Dinge, die Camille nicht unter Kontrolle hatte. Sie hasste das. Und hassen konnte sie wiederum gut.

 

Aber sie würde noch Zeit haben, um ihre Härte zur Perfektion zu bringen, denn sie war noch jung. Man mochte es kaum glauben, aber Camille Brochard war erst neunundzwanzig Jahre alt. Nicht dass sie älter aussah, denn sie war durchaus hübsch und bis auf die leichte Zornesfalte faltenfrei und rank und schlank. Chic, wie alle Pariserinnen. Aber alles an ihr, was nicht mit ihrem Aussehen zu tun hatte, war alt und sehr erwachsen. Während ihre Kommilitonen sich früher auf Partys gehen ließen und feierten, jung zu sein, konnte Camille nur spöttisch auf sie herabschauen und bis spät in die Nacht für die Uni arbeiten oder an ihrem ersten Roman. Sie würden sich noch wundern, fand sie, wenn sie nach dem Abschluss ein Praktikum nach dem nächsten machen würden und mit dreißig herumjammerten, dass die Gesellschaft am Abgrund stehe und die Wirtschaft die jungen gut Ausgebildeten ausbeute. Eine frappierende Naivität, fand Camille schon damals und stellte immerhin die Weichen für ihr eigenes Leben richtig. Dass das Talent zum Schreiben etwas war, das man sich nicht erarbeiten konnte, wurmte sie durchaus, denn sie war ein Freund von harter Arbeit und Kompromisslosigkeit. Wann immer sie gefragt wurde, wie sie denn auf ihre Ideen kam und wie sie es hinbekomme, ihre Figuren so plastisch wirken zu lassen und die Geschichte so packend, antwortete sie immer: Mit harter Arbeit. Das war eine Lüge, aber es war eine, die Camille selber glaubte.

Nun stand sie also vor dem Spiegel und probte den Gesichtsausdruck zu ihrem neuen Roman. L’amertume. Das war für sie sehr einfach, weil nur zu gut bekannt. Bitterkeit war das Gefühl, das sie am meisten spürte in jenen kleinen schwachen Momenten, die sie nicht kontrollieren konnte. Bitterkeit spürte sie manchmal, wenn sie im Fernsehen an jenen Schmonzetten vorbeizappte, die sie hasste und ihr Blick für den Bruchteil einer Sekunde auf glücklichen Gesichtern landete, die auf das Meer schauten oder in die Augen ihres Geliebten. Bitterkeit spürte sie auch, wenn ihr Blick an einer buchartigen Box in ihrem Bücherregal hängen blieb, in dem sich die Fotos aus ihrer Kindheit befanden. Sie stand ganz oben in ihrer Bibliothek, beinahe außer Sicht, aber nie weit genug entfernt, als dass ihr Inhalt nicht doch einen Weg in Camilles trübe Gedanken an die Vergangenheit fanden. Und schließlich spürte sie Bitterkeit, wenn ihr Mann Marc Laffont mit ihr sprach und das Gefühl, das er währenddessen spürte, Gleichgültigkeit war.

Laffont. Natürlich hatte Camille ihren Namen behalten, als sie ihn vor zwei Jahren geheiratet hatte. Ihr Name war ihre Marke und außerdem ihr Anker der Stärke, an dem sie sich festklammerte. Camille Laffont, das klang höchstens nach einem Hausmädchen, in jedem Fall aber viel zu jung und lieblich. Auch Marc war ein erfolgreicher Autor, jedoch weit entfernt von dem Ruhm seiner Frau. Er verdingte sich mit „echter Literatur“, wie er gerne betonte. Feingeistige Geschichten, verpackt in komplizierte Satzkonstrukte, die seinen Lesern und ihm selber Anspruch vermitteln sollten. Mittlerweile konnte Camille darüber nur lächeln, aber sie ließ ihn in dem Glauben, dass er Literatur fabrizierte und sich in vierzig Jahren Hoffnung auf den Literaturnobelpreis machen konnte. Ihr war es recht, dass sie die Ernährerin im Haushalt war und noch viel besser gefiel es ihr, wie Marc darunter litt. Dieses Gefühl der spöttischen Freude überdeckte ihre Bitterkeit bei weitem.

Camille setzte sich wieder an den Schreibtisch in ihrer großen Bibliothek, die ihr auch als Arbeitszimmer diente. Ihr Schreibtisch war aus schönem Mahagoniholz und sehr teuer gewesen, ebenso das helle Parkett. Von der Wohnung ganz zu schweigen. Altbau, hohe Decken, Balkone mit verschnörkelten Eisengittern. Fünf Zimmer, allein für sich und Marc. In den guten Momenten ihrer kurzen Beziehung hatten sie auf der Dachterrasse gesessen, Wein getrunken und ihren Blick über Montmartre schweifen lassen. Ihre Wohnung lag unterhalb der Sacré-Cœur und Camille mochte das Monumentale, das sie im künstlichen Licht der Nacht ausstrahlte. Sie konnte durchaus zugeben, dass sie auch Dinge mochte, sie war kein Unmensch, trotz ihres Images. Aber Enthusiasmus lag ihr fern. Ihr Humor bestand nicht darin, über die Witze anderer zu lachen, sondern selber trockene, spröde Witze zu machen, über die andere lachen konnten, während sie selber keine Mine verzog.

Es war November, ein äußerst trüber Monat, selbst in Paris, der Stadt des Lichts. Camille hatte also gerade ihren neuen Roman beendet, der diesmal in Paris spielte, in einem schönen Palais, wie sie ihn selber bewohnte. Eine Kriminalgeschichte, die brutal und raffiniert zugleich war. Diesmal waren ihre beiden Protagonisten ein Schriftstellerehepaar und die Mörderin die Frau. Wer das Opfer war, versteht sich von selbst. Dieser Roman würde hohe Wellen schlagen, dessen war sie sich sicher, und das nicht nur in der Öffentlichkeit. Sie war darauf vorbereitet. Im Einreißen dessen, was sie sich aufgebaut hatte, war sie schon immer gut gewesen, keine Freundin, kein Freund, keine Verwandten hatten es lange mit ihr ausgehalten. Aber wenn Gliedmaßen krank waren, musste man sie eben abschneiden, das war sicher.

Camille schaute mit leerem Blick aus dem Fenster. Die Arme hatte sie verschränkt, ihr war plötzlich sehr kalt. Eine blonde Strähne löste sich aus dem nach ihrer Fotoprobe vor dem Spiegel eilig gebundenen strengen Haarknoten und fiel ihr ins Gesicht. Draußen war der Himmel grau, ein kompaktes Grau ohne Unterbrechung und Hoffnung auf Besserung. Der Winter würde lang werden.

Nach einer ganzen Weile stand sie auf, öffnete eine Schublade ihres Schreibtisches und dann das Fenster einen Spalt breit. Sie holte eine Handvoll Nüsse aus der obersten Schublade und legte sie auf das Sims. In der Dachrinne über ihr hörte sie das Kratzen von kleinen Spatzenfüßen und wie sie in dem Sand und Schmutz nach Essbarem suchten. Camille schloss das Fenster wieder und setzte sich auf die Fensterbank. Keine zehn Sekunden später kam der erste Vogel angeflogen und beäugte das Festmahl, das ihm bereitet wurde, erst zögerlich, bevor er angehopst kam, gekonnt in einer Millisekunde eine Nuss herauspickte und davonflog. Flugsaurier hatte Camille die Vögel immer genannt, früher, als sie ein kleines Mädchen gewesen war, aber schon viel schlauer als die Kinder in ihrem Alter, die noch nichts von der Evolution und dem Massenaussterben vor zig Jahrtausenden gehört hatten.

Das Schloss klickte und die Tür öffnete sich langsam. Camille fuhr zusammen und sprang von der Fensterbank herunter.

„Yolande! Was machst du noch hier? Es ist Nachmittag, deine Arbeitszeiten sind morgens.“

In der Tür stand eine kleine Frau, die kaum älter als Camille war. Ihre Schürze spannte über ihren üppigen Rundungen und die Hände spielten nervös an einem Staubtuch, das sie bei sich trug. Wie immer wagte sie es nicht, ihre Arbeitgeberin zu korrigieren. Ihr Name war Namira, ihre Vorgängerin war die alte Yolande gewesen, das hatte sie bereits erfahren. Yolande hatte einige Jahre Camilles Haushalt geführt, bis sie vergangenes Jahr starb. Camille hatte die Beerdigung bezahlt und auch die Trauerfeier für ihre Familie. Anwesend war sie jedoch nicht gewesen. Camille wusste sehr gut, dass Namira nicht Yolande war, denn Yolande war unersetzbar, aber sie machte sich nicht die Mühe, sich ihren Namen zu merken. Schließlich hörte sie auch auf sie, wenn sie sie nannte wie sie wollte.

„Madame, ich sollte diesen Freitag Ihre Bibliothek saubermachen, aber Sie waren den ganzen Morgen hier drin.“ Schüchtern blickte die Frau zu Boden. Camille legte sich im Kopf eine passende Antwort zurecht. Was erlaubte sich diese Frau! Dann aber musste sie zugeben, dass sie recht hatte. Der Freitag war ausgemacht gewesen und tatsächlich hatte Camille heute nicht gearbeitet, sondern lediglich den ganzen Morgen, Mittag und nun auch die ersten Stunden des Nachmittags in diesem Zimmer mit ihren eigenen Gedanken verbracht und Posen vor dem Spiegel geübt. Das war ihr in der Tat ein bisschen unangenehm, aber sie ließ sich nichts anmerken.

„Du kannst in fünf Minuten wiederkommen“, sagte sie also nur knapp. Namira nickte glücklich und verzog sich wieder.

Camille atmete einmal tief ein, klappte den Laptop zu und strich die widerspenstige Haarsträhne zurück hinters Ohr. Dann fielen ihr die Vögel wieder ein, die nun im Sekundentakt das Fenstersims anflogen. Namira würde es sehen. Also öffnete Camille das Fenster erneut, diesmal hastig, und wischte die Nüsse herunter, die sich in der Luft zerstreuten und dann tief hinunter in den Innenhof fielen.

-2-

„Bonsoir, Chérie!“ rief Marc, als er die Wohnung betrat. Es hallte durch den Flur bis in das spartanisch eingerichtete Wohnzimmer, in dem Camille saß und in der aktuellen Ausgabe von Le Point blätterte. „Chérie“ war eine Lüge, aber das „Bonsoir“ meinte er durchaus ernst, das wusste Camille. Immerhin stritten sie selten, was jedoch Camille zu verdanken war. Sie gewann jeden Streit. Marc ging ihr also aus dem Weg und begnügte sich damit, freundlich zu sein und Gewohnheiten zu frönen.

„Bonsoir, Marc.“ Camille schaute nicht auf. Sie hockte in einer Ecke des großen weißen Sofas und hielt in der freien Hand eine Tasse Ingwertee. Marc hatte ein kleines Büro nicht weit von ihrer Wohnung gemietet. Er brauchte die Trennung von Beruflichem und Privatem und konnte nur arbeiten, wenn er nicht bei Camille zu Hause war. Sein kreativer Fluss floss eher gemächlich, aber das war für ihn selber ein Zeichen von Anspruch und Qualität. Es konnte durchaus vorkommen, dass er einen Tag in seinem Büro – das er Atelier nannte – verbrachte und gerade einmal drei Sätze schrieb. Gerne verwies er dabei auf James Joyce, und Rom wurde schließlich auch nicht an einem Tag gebaut. Er lachte immer, wenn er sein langsames Arbeitstempo erklärte und das hatte etwas Sympathisches, aber im Grunde meinte er es sehr ernst. Ein Wunder, dass er es geschafft hatte, im letzten Jahr seinen neuen Roman zu veröffentlichen, seinen dritten überhaupt erst. Ein dünnes, schmales Büchlein über die Kunst der Erinnerung.

„Ein bisschen wie bei der Madeleine von Marcel Proust, nur dass hier eine Tasse Kaffee aus Tansania meine Erinnerung angeregt hat.“ Immer, wenn er der Presse diesen Satz sagte, zwinkerte er, denn ihm gegenüber saßen überwiegend Journalistinnen. So war die Branche eben, die Kultur, mit Ausnahme der Hochkultur, war den Frauen überlassen und Marc war das absolut recht. Und häufig hatten sie ihn auch noch auf den geringen Umfang und die trotzdem atmosphärische Dichte seines Werkes angesprochen. Marc hatte diese Bemerkung erwartet und stets antwortete er: „Es kommt nicht auf die Länge an.“ Wieder ein Zwinkern. Wie er das Erröten der Journalistinnen genoss!

Camille nahm den letzten Schluck Tee und stellte die Tasse zurück auf das Beistelltischchen, wie immer den Bodensatz mit den Schwebstoffen übriglassend. Sie wusste auch, dass Namira die Tasse morgen, in dem Glauben sie sei ganz leer, in den Geschirrspüler stellen würde und sich beim Umdrehen den Rest auf die Schürze kippen würde. Aber das war ihr ganz recht, denn wer nicht lernte musste eben erfahren. Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen und Camille sah keinen Grund, sich nicht ein bisschen über die Missgeschicke anderer zu freuen.

„Bist du heute gut vorangekommen, Marc?“, fragte sie ihren Mann und sah ihn jetzt aus ihren durchdringend blauen Augen an. Er setzte sich ihr gegenüber in den Sessel und legte beide Arme auf die Lehnen, als hätte er einen körperlich anstrengenden Tag gehabt.

„Vorankommen, was heißt das schon?“, seufzte er, „Das ganze Denken ist ein steter Fluss.“ Er schaute Camille an und zwar länger als gewöhnlich. Dann stand er auf. „Pardon, Chérie. Ich habe dich gar nicht richtig begrüßt.“ Er wollte ihr einen Kuss geben. Camille drehte sich weg und ließ sich auf die Wange küssen. So nicht, Monsieur. Auch heute nicht und am liebsten gar nicht mehr. Er verstand und ging in die Küche, um sich Kaffee zu machen. Marc trank jeden Abend Kaffee, es machte ihm nichts aus, dass das Koffein ihn wach hielt, denn für gewöhnlich verbrachte er die Abende und manchmal auch die Nächte in der Bar um die Ecke oder rauchend und sich in Melancholie suhlend auf der Dachterrasse.

 

In den Jahren, in denen sich Camille und Marc schon kannten, hatte sie festgestellt, wie berechnend er sein konnte und tat alles dafür, dass er keinen Erfolg hatte. Marc war einer jener Menschen, die andere Menschen anzogen wie ein Magnet. Er hatte braune Locken, wie sie Frauen so gerne hatten, und trug stets einen modischen Hut und einen Dreitagebart, was ihn verwegen aussehen ließ. Um die Augen hatte er Lachfältchen und er beherrschte ein Lächeln, bei dem er den Kopf leicht schief legte, einen Finger an die Wange und dann nur einen Mundwinkel nach oben zog, wobei sich Grübchen bildeten. Auch Camille war diesem Lächeln verfallen, damals vor fast vier Jahren.

Camille war mit ihrer besten und einzigen Freundin Magali in Fontainebleau gewesen, ein beliebtes Ausflugsziel der Pariser am Wochenende. Sie waren in dem kühlen Wald spazieren gewesen und hatten anschließend ein Eis gegessen. Camille hatte gerade ihren dritten Roman erfolgreich veröffentlicht und auf der Straße erkannten sie immer mehr Leute, jedoch sprach sie niemals jemand an. Camille bemerkte aus den Augenwinkeln, wie hin und wieder jemand sein Fotohandy zückte und verstohlen auf den Auslöser drückte, wenn sie stehenblieb und sich etwa die Auslage eines Geschäftes ansah. Eine Mine verzog sie dabei nie und niemand fühlte sich ermutigt, sie anzusprechen.

An jenem Tag aber war sie gut gelaunt und Magali sowieso. Ihre Freundin war ein Sonnenschein von Person und hochschwanger gewesen. Wann immer sie sich trafen, und das war nicht allzu oft, obwohl Camille sie als beste Freundin bezeichnete, schwelgten sie in Erinnerungen an ihre Studienzeit an der Sorbonne.

„Erinnerst du dich, wie Jacqueline betrunken ihr Referat hielt? Das war so großartig. Sie wollte eigentlich über Flaubert sprechen, aber dann erzählte sie nur etwas von Apollinaire und seinen Alcools.“ Magali kicherte. Camille nicht, aber sie lächelte immerhin, denn Jacqueline hatte sich ihren Respekt verdient.

„Natürlich. Sie war hervorragend. Eine fantastische Idee, wie sie nur wenig Betrunkene je haben.“ Camille wusste, wovon sie sprach und die Erinnerung versetzte ihr einen Stich. Immer, wenn sie nicht an ihre Familie denken wollte, so wie an diesem sonnigen Tag, dann passierte es doch und riss sie in einen dunklen Abgrund aus Erinnerungen und Schwäche.

Magali stupste sie an. „Schau mal da rüber zu der Eisbude.“ Ihr Blick war an dem Eisverkäufer mit seiner schiefen weißen Mütze hängen geblieben, der gerade kunstvoll einem Kind eine Eiswaffel reichte und dann die Münze flippen ließ, die es ihm gab. „Ich glaube, du hast jetzt auch Lust auf Eis, Camille. Komm mit!“

Magali hievte sich hoch und stützte sich dabei auf Camilles Schultern.

„Ich möchte kein Eis“, sagte sie. Denn auch ihr war der Eisverkäufer nicht entgangen und sie wollte alles andere als ihm jetzt auch noch näherkommen, diesem Hallodri, diesem Zirkusclown. Aber ihre Freundin kannte sie nur zu gut, denn sie war auch in ihrer schwächsten Zeit an ihrer Seite gewesen. Damals, als sie noch über Gefühle sprach und gemeinsam mit Magali lachte, in jenen unbeschwerten Momenten, die sie sich gegönnt hatte. Aber da war sie jung und dumm, wenn auch niemand außer ihr selber das so gesehen hatte.

„Ich muss Eis essen, ich bin schwanger. Und wenn du mich nicht dorthin bringst, dann gehe ich eben alleine und der beau gosse wird sofort wissen, warum du mich nicht begleitet hast. Nicht so schüchtern!“ Magali watschelte los.

„Ich bin nicht schüchtern“, hatte Camille schwach protestiert und auch nur ganz leise. Immerhin waren sie hier in der Öffentlichkeit und sie eine erwachsene Frau und noch dazu eine erfolgreiche Schriftstellerin, man könnte sie überall erkennen. Was dachte sich Magali dabei, sie so bloßzustellen?

„Zwei Kugeln Vanille für meine Freundin und fünf Schokolade für mich!“, bestellte sie. Camille setzte ihre Sonnenbrille auf, das war alles unfassbar peinlich.

„Aber natürlich, gerne!“, lachte der Eisverkäufer und machte sich ans Werk. „Fünfmal Schokolade für die Flora von Botticelli und zweimal Vanille für Mademoiselle Brochard.“ Er reichte den Freundinnen mit Schwung und einer halben Verbeugung wie ein mittelalterlicher Diener ihre Bestellung.

„Die Flora ist blond, Sie haben ein schlechtes Gedächtnis. Haben Sie meine Bücher gelesen?“, fragte Camille ungerührt. Sie ließ sich ihr Unbehagen nicht anmerken, die Sonnenbrille und ihr Name gaben ihr Halt. Auch wenn es sie fast aus der Bahn warf, dass ausgerechnet dieser Typ sie erkannt hatte. Camille errötete nie, aber wäre sie nicht La Brochard gewesen, wäre das eine Situation gewesen, in der man hätte erröten können und sollen. In ihrem Eis steckte ein kleines Plastiklöffelchen in Form eines Herzen. Sie war fünfundzwanzig Jahre alt und viel zu alt für pubertäre Symbolik. Dieser unverschämte Eisverkäufer war aber kaum älter als sie und fand seine Idee offenbar unwiderstehlich.

„Fahren Sie morgen auch zum Feuerwerk nach Paris?“, fragte ihn Magali auch noch zu allem Überfluss, ohne dass er Camilles Frage beantwortet hatte. Am kommenden Tag war der 14. Juli und es war ein warmer Sommertag angesagt.

„Bis gerade eben hatte ich morgen noch nichts vor“, antwortete er ihr, schaute aber nur Camille an und lehnte sich nach vorn auf die Theke.

„Großartig! Camille kommt auch und ich bringe meinen Mann mit. Wir essen vorher noch etwas in der Rue des Abbesses und gehen dann hoch zur Sacré-Cœur. Auf dem Vorplatz hat man die beste Sicht. Treffen Sie uns um 19 Uhr vor der Post. Ich bin übrigens Magali.“

„Und ich bin Marc. Es wäre mir ein Vergnügen, Madame Magali und Mademoiselle Brochard.“

Camille ärgerte es, wie er sie Mademoiselle nannte. Ein einfaches Brochard hätte genügt, dieser unverschämte Kerl hatte überhaupt keinen Respekt. Unter keinen Umständen würde sie morgen bei der Verabredung auftauchen. Sie hasste Magali in diesem Moment und konnte gar nicht schnell genug wegkommen von der Eisbude, in der dieser Hansdampf vermutlich gleich der nächsten Mademoiselle einen Herzchenlöffel ins Eis steckte. Ihr Appetit war verdorben und sie entsorgte das Eis nach wenigen Happen in einen Mülleimer. Gleich würden Tauben angeflogen kommen und an der Waffel herumpicken und hoffentlich die Spuren ihrer Schwäche verwischen.

Natürlich war Camille am 14. Juli um neunzehn Uhr vor der Post an der Place des Abbesses erschienen. Der Eisverkäufer war bereits da und zum Glück auch Magali und ihr Mann Laurent. Beide waren lebenslustige Menschen und eine gute Begleitung und Camille war froh darüber, dass Schweigen nicht aufkam und sie auch nicht genötigt war mit diesem Dahergelaufenen zu sprechen. Sie bevorzugte es, ihn nur aus dem Augenwinkel zu beobachten und wenn es sein musste, ein professionelles Gespräch mit ihm zu führen. Ein Glück, dass er sich ebenfalls als Schriftsteller herausstellte. Auch er hatte gerade sein Studium abgeschlossen, allerdings an der Universität in Amiens, und war nun in seine Heimat Fontainebleau zurückgekehrt, wo sein Vater lebte. Etwas veröffentlicht hatte er noch nicht, er schrieb zu der Zeit noch an seinem Erstling. Camille und er unterhielten sich über Literatur und das Business.

„Wenn du davon leben willst, Marc, musst du etwas schreiben, was viele Menschen lesen. Auch in Frankreich wartet niemand auf den nächsten Jean-Paul Sartre. Schreiben ist Arbeit und Schriftsteller sein ein Beruf.“

Marc hatte aufgelacht und Camille dabei seine schönen, ebenmäßigen Zähne gezeigt. „Das mag sein. Aber ich brauche nicht viel. Einen Platz zum Schlafen und Luft und Liebe.“

Camille überhörte die letzte Bemerkung mit Absicht, aber sie fühlte Hitze in sich aufsteigen. Nun war sie doch in eine äußerst unangenehme Situation geraten und sie wünschte sich das Ende des Abends herbei. Dann würde sie eben wieder weglaufen, sie hatte damit kein Problem. Das war eine Art, Schwäche zu überwinden.

„Oder ich muss reich heiraten“, sagte Marc noch im Spaß und rückte seine Mütze so zurecht, dass sie ein bisschen schief saß und zu seinem unwiderstehlichen Lächeln passte.

Spitz bemerkte Camille: „Das wird dir wohl kaum möglich sein.“ Und es klang genauso scharf wie gewollt.

„Vermutlich“, antwortete Marc nur und schaute ihr tief in die Augen. Jetzt hatte Camille ein Eigentor geschossen und das erste Mal seit Jahren hatte sie beim Spielstand des Gesprächs in ihrem Kopf nicht die höhere Zahl an Treffern auf ihrer Seite.