Über uns die Sterne, zwischen uns die Liebe

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Genau in dem Moment brachte Cassy uns zwei Lieferkartons, in denen jeweils ein Berg an Essen war. »Hier, Jungs«, sagte sie. Jungs? Sie war jünger als ich und rund zwanzig Jahre jünger als Patrick. Sie hielt inne und musterte mich mit offener Anerkennung, dann lächelte sie. »Und du bist…?«

»Öh, Aubrey«, antwortete ich.

»Tja, nett dich kennenzulernen, Aubrey. Ich bin Cassy.« Sie stand lächelnd da, bis es peinlich wurde.

»Danke, Cassy«, sagte Patrick und glücklicherweise verstand sie den Hinweis und ließ uns allein. »Tut mir leid. Es kommen nicht oft Neue her.«

»Ich merk's schon«, sagte ich lächelnd. Er starrte mich an. Der Blick seiner blauen Augen drang ein bisschen weiter in mich vor, als ich erlauben sollte. Es lag etwas in ihnen. Etwas Vertrautes und Warmes.

Auf der Suche nach einer Ablenkung nahm ich die Plastikgabel und stach in das weiße Fischfilet, das beinahe von selbst zerfiel. Der Duft war unglaublich und ich konnte nicht anders, als beim ersten Happen aufzustöhnen. »Oh mein Gott, der ist so gut.«

Patrick starrte mich an. Seine Gabel hielt auf halbem Weg zu seinem Mund inne, bevor er errötete und sich ein wenig wand und ein paarmal blinzelte, bevor er weiteraß. »Ja. Ist er wirklich.«

Okay, ich hatte vielleicht ein bisschen lauter aufgestöhnt, als ich gedacht hatte, aber ich konnte nicht anders. Gott, es war so lange her, dass ich richtiges Essen gegessen hatte. Nicht nur einen Becher billiger Nudeln oder Brot oder schwarzen Tee.

Patrick warf mir immer wieder Blicke zu, während er sein Mittagessen vertilgte, und wenn zuvor so etwas wie Interesse in seinem Blick gelegen hatte, dann wurde es bald von etwas ersetzt, das nach Mitleid aussah. Als würde er jemanden beobachten, der nicht oft zum Essen kam.

Ich legte langsam meine Gabel beiseite und bot ihm ein Lächeln an. »Es ist, hm, wirklich lecker.«

Er lächelte ebenfalls. »Hab ich dir ja gesagt. Cassy benutzt ein geheimes Gewürz für den Fisch, bevor sie ihn grillt. Ihrem Dad gehört eines der Fischerboote, die jeden Morgen raus in die Bucht fahren, und er bringt ihr jeden Tag frisch seinen Fang.«

»Ich habe noch nie so leckeren Fisch gegessen.«

Er nickte zu der Mahlzeit vor mir. »Iss weiter.« Dann ignorierte er mich, während ich aufaß, vermutlich, damit ich mich nicht schlecht fühlte, während ich die ganze Portion verschlang. Na ja, er ignorierte mich nicht richtig, aber er tat zweifelsohne so, als wäre ich nicht irgendein verhungernder Typ, dem er aus Mitleid etwas zu Essen besorgt hatte.

Als ich keinen einzigen Bissen mehr herunterbekam, spülte ich das Fett mit einem Mundvoll Cola herunter. »Also was genau macht man, wenn man sich um einen Leuchtturm kümmert?«

Patricks Miene erhellte sich und er schob sein halb aufgegessenes Mittagessen beiseite. »Nun, inzwischen ist alles elektronisch und die Lampe läuft automatisch, also geht es in erster Linie um die Instandhaltung. Das Salz und der Wind sorgen für eine Menge Arbeit.«

»Aber immer noch ziemlich cool. Nicht viele Leute können von sich behaupten, dass sie in einem Leuchtturm arbeiten.«

»Nein, es gibt im ganzen Land nur etwa dreihundertfünfzig von uns. Genau genommen bin ich bei der Australian Maritime Safety Authority angestellt oder auch AMSA. Es ist nur eine Teilzeitstelle. Daher funktioniert es für mich hier in Hadley, wo das Leben nicht so teuer ist.«

»Es scheint eine nette Stadt zu sein«, bemerkte ich. »Dieser Tauschhandel ist allerdings ein bisschen schrullig, das muss ich zugeben.«

Er lächelte. »Hast du schon die Pinguine und Seebären gesehen?«

»Nein, möchte ich aber.« Laut den Touristenbroschüren, die ich mir angeschaut hatte, sollte das ein unglaublicher Anblick sein. »Wo muss ich denn hin, um sie mir anzugucken? Kann man von hier aus hinlaufen?«

»Ich kann sie dir irgendwann zeigen, wenn du magst?« Er zuckte die Schultern, als ob das Angebot keine große Bedeutung hätte. »Ich bin eine Art Experte, was das angeht. Und ja, man kann zu Fuß hingehen. Alles in Hadley ist in Fußreichweite.«

»Warum? Ich meine, warum bist du ein Experte?«

»Die Stelle liegt vor meiner Haustür.«

»Oh. Das ergibt Sinn.« Ich trank einen Schluck meiner Cola und fasste mir ein Herz. »Warum bist du so nett zu mir?«

Patricks Augen zuckten und sein Lächeln verblasste zu etwas Traurigem. »Weil du ein bisschen verloren gewirkt hast. Du erinnerst mich an…« Er seufzte. »Du erinnerst mich an mich.«

Ich schluckte mühsam und mein voller Magen zog sich unangenehm zusammen. »Ich, eh…«

Als ich nichts weiter zu sagen hatte, fuhr er fort: »Ich weiß, wie es ist, jemanden in der Nähe zu brauchen, der keine Fragen stellt. Denn das Einzige, was schlimmer ist, als niemanden in Reichweite zu haben, ist es, es mit einer wohlmeinenden, aber neugierigen Person zu tun zu bekommen, die ständig die falschen Fragen stellt.«

Ich stieß langsam die Luft aus. Gott, er verstand es wirklich. Ich wusste nicht, was ihn dazu verleitet hatte, so etwas zu sagen, aber er verstand mich ganz offensichtlich. Aber vielleicht war er jemand, bei dem ich mich nicht in Acht nehmen musste. »Es ist ermüdend, die ganze Zeit in der Defensive zu sein.«

»Ist es.« Patrick schenkte mir ein freundliches Lächeln. »Deshalb wirst du von mir nie irgendwelche Fragen zu hören bekommen. Es sei denn, es geht um so alltägliche Sachen wie darum, ob du schon die Pinguine und Seebären gesehen oder ob du deinen Fisch lieber gegrillt oder frittiert magst.«

Zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit lachte ich leise. »Mit solchen Fragen komme ich klar.«

»Gut. Also, was hast du morgen vor?«

»Schon wieder eine Frage.«

»Ja, aber wieder eine banale.«

Ich lächelte. »Ich werde mit der Arbeit an den sanitären Einrichtungen anfangen. Ich glaube nicht, dass Frank schon einmal etwas daran gemacht hat, seitdem er den Laden gekauft hat.«

Er schnaubte leise. »Bitte sag mir, dass es warmes Wasser gibt.«

»Kaum.« Ich lächelte ihm zu. Oder vielleicht lächelte ich immer noch. Ich war mir nicht sicher. »Aber es ist nicht so wild.«

»Darf ich noch eine Frage stellen?«

»Kommt darauf an.«

Er grinste. »Sie wird banal sein, Pfadfinderehrenwort.«

»Ich war früher ein Pfadfinder, weißt du.«

Er salutierte. »Dann werde ich pflichtbewusst mein Versprechen halten, nur einfache Fragen zu stellen.«

Ich lachte. »Dann bitte, frag nur.«

»Wenn du morgen Abend Zeit hast, kann ich dir dann zeigen, wie die Pinguine an Land gehen?«

Er wollte sich wieder mit mir treffen. Ich war mir nicht sicher, ob das eine gute Idee war, aber die Wärme in seinen Augen und sein freundliches Lächeln und die Sehnsucht, mich mit einem anderen Menschen zu beschäftigen – besonders mit jemandem, der versprochen hatte, keine Fragen zu stellen –, erlaubten mir nicht, abzulehnen. »Klingt gut. Wo ist der Haken?«

»Kein Haken. Es sei denn, du hältst es für einen Haken, nachts bei klirrender Kälte runter zum Strand zu gehen. Ich verspreche, dass es das wert ist.«

Kapitel Vier

Patrick

Es war kein Date.

Das sagte ich mir vermutlich ein Dutzend Mal. Aber meine Nervosität kämpfte mit meinen Schuldgefühlen und ich fuhr beinahe bei ihm vorbei, um abzusagen.

Ich war nicht so weit. Ich war nicht darauf vorbereitet, weiterzuziehen. Ich war nicht dazu in der Lage.

Erinnerungen an Scotts Berührungen, seine Hände, seinen Geruch, seinen Geschmack wirbelten um mich herum. Sein Foto auf dem Kaminsims ließ mein Herz vor Kummer schwer werden. An manchen Tagen war es erträglich, an anderen brannte es. Trauer war wie das große Südmeer, sie bewegte sich mit Ebbe und Flut, oft stürmisch und wild oder auch friedlich und ruhig. Selbst wenn ich mit der Zeit gelernt hatte, diese Gewässer zu navigieren, verschwanden die Gezeiten nie.

Vier Jahre waren eine lange Zeit. Ich hatte inzwischen länger um ihn getrauert, als ich ihn gekannt hatte. Und obwohl sich vier Jahre nach einem ganzen Leben anfühlten – und jeder meinte, dass er gewollt hätte, dass du weitermachst oder wollen würde, dass du glücklich bist –, kamen sie mir immer noch nicht lang genug vor.

Aber irgendetwas an Aubrey sprach mich an. Etwas an seinen Augen und seinen Lippen, wenn er lächelte. Er war aufmerksam, vorsichtig und ich wusste, dass er einiges zu erzählen hatte, aber ich wollte ihn nicht bedrängen. Geschichten erzählten sich sowieso besser mit der Zeit und wenn man ihnen erlaubte, sich zu entfalten; wenn sie bereit waren, aufgeschrieben zu werden.

Ich würde ihn nicht bedrängen und ich hatte ihm versprochen, dass ich keine Fragen stellen würde, so sehr ich auch wissen wollte, was ihn hergeführt hatte oder warum er so nervös und sprunghaft war. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass eine glückliche Geschichte dahintersteckte, und auch das sprach mich an.

Etwas an ihm sorgte dafür, dass ich ihn kennenlernen, ihn beschützen wollte. Und etwas in mir sehnte sich danach, ihn zu berühren, ihn in meinen Armen zu spüren und an mich zu ziehen. Das war absurd, da ich ihn gerade erst getroffen hatte und gar nicht bereit war, jemand Neuen kennenzulernen.

Aber es war kein Date.

Ich wusste nicht einmal, ob er überhaupt so tickte. Ich wäre gern davon ausgegangen, dass ich es erkennen konnte, aber die Wahrheit war, dass ich nicht wusste, ob er schwul oder bi oder irgendetwas dazwischen war. Und aller Wahrscheinlichkeit nach – angesichts der Tatsache, dass er hier in Hadley aufgetaucht war und sich wie ein verschrecktes Kaninchen umschaute – war er in keiner guten Verfassung. Auf emotionaler Ebene war er vermutlich ungefähr ebenso bereit, über solche Dinge nachzudenken, wie ich. Denn ich war auch nicht auf dem Markt. Also was sollte es?

 

Es ist kein Date, Patrick.

Warum war ich nervös? Warum hatte ich aufgeräumt und Staub gewischt und warum hatte ich zusätzliche Nudeln für den Fall gekocht, dass er Abendessen wollen könnte? Denn wenn das Mittagessen mit ihm irgendein Hinweis war, hatte ich den Eindruck, dass er nicht sehr gut oder oft aß. Er war mager – eher drahtig als dünn – und auch wenn er recht gesund wirkte, konnte er etwas mehr Gewicht auf den Knochen vertragen.

Also warum, abgesehen von allem anderen, wollte ich ihn bei mir aufnehmen und mich um ihn kümmern? Warum fühlte ich mich so zu ihm hingezogen?

Ich hatte ihm gesagt, dass ich ihn um fünf abholen würde, und um halb fünf tigerte ich in meinem kleinen Wohnzimmer umher. Mein Katze Tabby, meine Hausherrin und Mäusefängerin, musterte mich von ihrem Platz vor dem Feuer verurteilend. »Es ist kein Date«, sagte ich zu ihr. Sie betrachtete mich auf jene überlegene Weise, die Katzen eigen war.

Um zwanzig vor fünf stand ich in meiner Küche, versuchte, mich zu überreden, abzusagen oder auch nicht, und schwankte so wild zwischen den beiden Optionen hin und her, dass ich seekrank wurde. Oder vielleicht waren es die Nerven. Oder die Schuldgefühle.

Um zehn vor stand ich vor dem Kaminsims und fuhr mit dem Finger über den Rahmen von Scotts Foto. Er sah direkt in die Kamera und lachte. Für immer jung und gut aussehend. »Es ist kein Date«, flüsterte ich ihm zu und liebte und hasste das Schweigen, das mir antwortete, wann immer ich mit ihm sprach.

Aber dann heulte draußen der Wind auf und rüttelte an der Tür, als wollte die Insel mir sagen, dass es Zeit zum Aufbruch war. Ich nahm meinen Mantel vom Haken neben der Tür, schlüpfte hinein und zog die Tür hinter mir zu. Ich zwang mich, ins Auto zu steigen, und erreichte den Campingplatz, bevor ich mich überzeugen konnte, dass das hier eine furchtbare Idee war.

Mir ging auf, dass ich keine Ahnung hatte, in welchem Wagen Aubrey übernachtete. Allerdings brannte nur in einem Licht, also ging ich davon aus, dass es seiner sein musste.

Aber kaum, dass ich aus dem Wagen gestiegen war, kam er heraus. Er trug seine blaue Jacke mit der Kapuze im Nacken, Jeans und Stiefel – die einzige Kleidung, in der ich ihn bisher gesehen hatte. Er hielt die Handschuhe, die ich ihm gegeben hatte, und einen schwarzen Rucksack in der Hand.

»Hey«, sagte er und hielt zwei Meter vor mir inne. Es war ein Sicherheitsabstand und ich kam mir dumm dabei vor, mich gefragt zu haben, ob dies eine Art Date war.

»N'Abend«, erwiderte ich und versuchte ihn anzulächeln. »Bereit, dir ein paar Pinguine anzuschauen?«

Er nickte, dann sah er auf zum Himmel. »Wenigstens ist es nicht wolkenverhangen.«

Ich wollte schon sagen, dass den Pinguinen Wolken ziemlich egal waren, entschied mich jedoch dagegen. »Aber es ist windig und die Brise, die südlich vom Meer kommt, kann ziemlich steif sein.« Ich öffnete meine Autotür, doch er zögerte einzusteigen. »Alles klar?«

Er setzte sich in Bewegung. »Ja. Entschuldige.« Er öffnete die Tür und stieg in meinen Wagen. Ich war überzeugt, dass er versuchte, so wenig Raum wie möglich einzunehmen, und er stieg ziemlich schnell aus, sobald ich zu Hause vorfuhr. Doch er sah zum Leuchtturm auf und grinste.

Ich stellte mich neben ihn und sah ebenfalls hinauf. Die roten und weißen Streifen zeichneten sich immer noch gegen den dunkler werdenden Himmel ab und das Leuchtfeuer sandte pulsierend sein Licht aufs Meer.

»Aus der Nähe ist er beeindruckend«, sagte er.

»Ist er. Ich kann mit dir nach oben gehen, wenn du möchtest? Der Ausblick ist fantastisch, selbst bei Nacht.«

Sein Blick suchte voller Aufregung meinen, aber irgendetwas bremste ihn; als müsste er sich selbst daran erinnern, vorsichtig zu sein. »Vielleicht ein anderes Mal.«

»Okay.« Ich zuckte die Schultern, um Gleichgültigkeit bemüht. Dann nickte ich in Richtung meines Hauses. »Gib mir eine Sekunde, um dir die Mütze zu holen. Unten an der Küste wird es noch kälter sein.« Ich wartete nicht darauf, ob er protestierte, denn ich war mir recht sicher, dass es darauf hinauslaufen würde. Es war nur eine Mütze. Sie bedeutete nichts.

Ich schloss meine Tür auf und ging hinein. Erst, als mir auffiel, dass er immer noch neben dem Wagen stand, hielt ich inne. »Du kannst reinkommen«, sagte ich aus der Tür. Ich ging wieder hinein und überließ es ihm, ob er wollte oder nicht. Ich würde ihn nicht drängen. Er hatte eindeutig das Bedürfnis, sich zu schützen, und er stand vermutlich gerade draußen und kämpfte mit seinem Fluchtinstinkt.

Als ich aus meinem Schlafzimmer zurück ins Wohnzimmer kam, stand er in der Tür. Nicht unbedingt im Haus, aber nah genug. Ich hielt die Mütze hoch. Es war ein dunkelgraues, einfach gestricktes Exemplar, das ich geschenkt bekommen hatte. »Probier sie an. Ich habe sie nie getragen. Sie liegt wortwörtlich seit Jahren in der Schublade.«

Er machte einen zögernden Schritt herein. »Schönes Haus.«

Ich sah mich in dem kleinen Wohnzimmer um, das direkt in die Küche überging. Es war winzig, aber sehr gemütlich. Ein Dreisitzersofa, ein Sessel, ein Teppich und ein Fernseher passten hinein, dazu zwei kleine Beistelltische. In der Küche zog sich eine Reihe Schränke unter dem Fenster entlang, bestehend aus Fünfziger-Jahre-Furnier. In einer Ecke stand ein Kühlschrank, in der anderen ein Herd und in der Mitte ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen.

»Ich sagte ja, es ist klein«, bemerkte ich.

»Es ist perfekt«, flüsterte er. »Fühlt sich nach einem Zuhause an.«

Das war eine ziemlich merkwürdige Bemerkung. »Tut es.«

Die Katze streckte sich aus ihrer zusammengerollten Haltung zu voller Länge aus, wobei sie ihren Bauch zum Feuer drehte. Aubrey lächelte sie an. »Du hast eine Katze.«

»Oh, Miss Tabby. Sie erlaubt mir gnädigerweise, ihr Sklave zu sein.«

Seine Lippen zuckten. »So sind Katzen.«

Ich reichte ihm die Mütze und drehte mich um, um die Taschenlampen vom Kühlschrank zu nehmen. Ich hielt eine in jeder Hand. »Pinguine!« Ich nickte über Aubreys Schulter hinweg. »Wollen wir?«

Er trat zurück und wahrte stets ein paar Meter Abstand zwischen uns, während ich ihn zu der Stelle führte, an der die Pinguine nisteten. Der Leuchtturm selbst war rund dreißig Meter von den Felsen entfernt errichtet worden, auf die das Meer traf, aber wenn man der Klippe rund hundert Meter weiter folgte, gab es einen kleinen sandigen Strand, der von Felsen und Gehölz übersät war: das perfekte Zuhause für Zwergpinguinbauten.

Ich machte an der üblichen Stelle halt und sprang auf die erste Felsenstufe hinab. Sie war nur zwei Meter lang und kaum einen Meter breit, aber von hier aus hatte man den perfekten Blick. »Wir setzen uns her und warten«, sagte ich. »Sie werden genau unter uns auftauchen.«

Die Sonne war gerade untergegangen und der Himmel war von einem tiefen Schwarz, der Mond schien hell und der Wind peitschte über die Küste. Ich kauerte mich hin, den Rücken an die Felsen gelehnt, und versuchte, der größten Kälte zu entkommen.

Erst da sprang Aubrey neben mir herab und setzte sich eine Armlänge entfernt hin. Er hielt seinen kleinen Rucksack auf dem Schoß, beide Hände darauf gelegt, als könnte er jeden Moment aufspringen und wegrennen. Seine Schwierigkeiten in Sachen Vertrauen zeigten sich sehr deutlich durch den Raum, den er zwischen uns geschaffen hatte. Ich wusste, dass es nicht an etwas lag, was ich getan hatte, aber ich musste mich fragen, was er durchgemacht hatte, dass er so vorsichtig war.

»Danke für die Mütze«, sagte er.

Da warf ich ihm einen Blick zu. Er hatte sich die Mütze weit heruntergezogen, sein Haar und seine Ohren waren darunter verborgen. Seine Nase war vor Kälte rosa und selbst im Mondlicht erkannte ich, dass er versuchte zu lächeln. Versuchte, tapfer zu sein.

»Der Wind wird genau auf dich treffen. Aber wir werden nicht lange hier sein. Dir ist nicht zu kalt, oder?«

»Nein, alles in Ordnung«, antwortete er.

Ich befestigte den roten Filter an der Taschenlampe und reichte sie ihm. »Weißes Licht jagt ihnen Angst ein und dann kommen sie nicht an Land. Rotes Licht macht ihnen gar nichts aus.«

Er schaltete sie ein und hüllte uns in einen roten Schimmer. »Danke.«

Ich bereitete meine Lampe vor und schaltete sie ebenfalls an, bevor ich hinab zu der Stelle leuchtete, an der das Wasser auf die Felsen traf. »Es sollte nicht mehr lange dauern. Sie waren den ganzen Tag draußen jagen. Also müssen sie an Land kommen und sich ausruhen.«

»Und sie warten auf die Dunkelheit, um Raubtieren aus dem Weg zu gehen, richtig?«

»Jepp.«

Danach schwieg er und rund fünf Minuten später schaltete er seine Taschenlampe aus und öffnete seinen Rucksack. Er zog einen zylindrischen Gegenstand hervor und anfangs hielt ich es für eine dieser Wasserflaschen aus Aluminium, doch dann öffnete er etwas und zog… ein Teleskop hervor?

Es war eines der ausziehbaren Modelle und er erweiterte es auf volle Länge, setzte es ans Auge und richtete es himmelwärts.

Okay, jetzt war ich überrascht. Und beeindruckt. Ich hatte ihn vielleicht für vieles gehalten, für einen Sterngucker jedoch nicht. »Wow, das ist cool«, flüsterte ich.

Er warf mir einen Blick zu, und als er begriff, dass ich von ihm sprach, lächelte er und schien sich etwas zu entspannen. »Es hat meinem Großvater gehört«, murmelte er. Er lächelte das Teleskop an – oder über eine Erinnerung. Ich war mir nicht sicher. »Er ist mit mir Zelten gefahren und wir haben die ganze Nacht damit verbracht, uns die Sterne anzuschauen.«

Mir war nicht klar, warum ich es wusste, aber ich war mir sicher, dass er diesen Teil seines Selbst nicht mit jedem teilte. »Klingt wundervoll.«

»Er hat mich die Sternbilder gelehrt.«

»Klingt nach einem großartigen Mann.«

Er warf mir einen glühenden Blick zu, bevor er beiseite sah. »War er. Der beste.«

Ich wollte ihm gerade sagen, dass es mir leid tat – er hatte in der Vergangenheitsform gesprochen, also ging ich davon aus, dass sein Großvater verstorben war –, als ich ein verstimmtes Scharren und das vertraute Krächzen der Pinguine hörte. Ich lehnte mich nach vorn und leuchtete mit dem roten Lichtstrahl auf die Felsen. »Schau, da kommen sie.«

Unter uns verließ eine Kolonie Zwergpinguine das Wasser. Sie passten sich an die Tide an, um aus den Wellen zu springen und – immer noch recht unbeholfen – auf den Felsen zu landen. Von dort hüpften sie hoch und stiegen die Schräge zu ihren Bauten hinauf.

Aubrey hatte sich nach vorn gebeugt. Er stützte sich auf eine Hand und hielt mit der anderen die Taschenlampe, um neben mir in die Tiefe zu schauen. Er grinste und ich war mir nicht sicher, welcher Anblick spektakulärer war. Saß er etwas näher bei mir? Oder bildete ich mir das nur ein?

»Oh mein Gott«, flüsterte er. »Sie sind so niedlich!«

Das waren sie. Sie gehörten zur kleinsten Pinguinart weltweit und lebten dauerhaft auf der Insel. An die meisten Orte kehrten sie nur zum Brüten zurück, aber diese Kolonien blieben das ganze Jahr über auf der Insel. Es war leicht, sich an ihren Anblick zu gewöhnen, und ich hatte vergessen, wie aufregend es war, sie zum ersten Mal zu erleben.

»Das sind sie wirklich«, stimmte ich zu.

Und im Verlauf der nächsten halben Stunde oder so beobachteten wir, wie sie alle gemeinsam watschelnd den Weg aus den dunklen Tiefen des Ozeans zu ihren Höhlen hinter sich brachten. Ich behielt die ungefähren Bestandszahlen der Kolonie im Auge und als die letzten Nachzügler die Küste erreichten, schaltete ich meine Taschenlampe aus. »Ich hatte vergessen, wie viel Spaß das macht.«

Aubrey lachte leise. »Ich bin wirklich froh, dass ich das zu sehen bekommen habe. Danke.«

»Gern geschehen. Jederzeit.«

Er begann, sein Teleskop einzupacken. »Möchtest du noch eine Weile bleiben und die Sterne ansehen?«, fragte ich. »Es kommt nicht sehr oft vor, dass die Nacht über der Insel klar ist.«

»Du hast nichts dagegen?«

»Teufel, nein. Ich muss schon sagen: Ich bin beeindruckt. Ich hatte dich nicht für einen Astronomen gehalten.«

»Na ja, bin ich auch nicht wirklich. Es ist nur ein Hobby.«

»Jeder, der die Sterne und Planeten studiert, ist ein Astronom, oder nicht?«

Er grinste. »Ich schätze schon.« Dann seufzte er und wog das Teleskop in den Händen, als würde er dessen Gewicht prüfen. »Ich mag die Beständigkeit der Sterne. Sie verlöschen nie, ungeachtet der Rotation der Erde. Es fasziniert mich, dass sich hinter jedem Stern eine andere Welt verbergen könnte. Der Weltraum ist einfach so gewaltig und voll, dass er alles andere unwichtig erscheinen lässt.« Er unterbrach sich abrupt, als müsste er sich zügeln. »Tut mir leid. Ich habe nur…«

 

Ich konnte den Blick nicht von ihm abwenden. »Entschuldige dich nicht.«

Wir schienen beide gleichzeitig zu bemerken, dass der Wind abgeflaut war. Abgesehen vom Schlagen der Wellen unter uns war es still.

»Ich vermute, ich studiere den Ozean«, gab ich zu. »Nicht im Ganzen oder die Tiere darin oder die wissenschaftliche Seite. Ich muss den Wind und die Gezeiten im Auge behalten und was für eine Rolle das Wetter spielt.«

»Macht das einen Ozeanografen aus dir?«, fragte er. »Wenn ich laut deiner Definition ein Astronom bin.«

Ich lachte leise. »Na ja, nicht wirklich. Ich bin nur ein Leuchtturmwärter. Das Meer im Auge zu behalten, ist Teil meiner Arbeit. So wie ich gerade schnell die Pinguine gezählt habe. Ich behalte ihre Zahlen nur grob im Auge, um zu ihrer Erhaltung beizutragen. Jeden Monat schicke ich einen kurzen Bericht an das Pinguinzentrum in Penneshaw. Es ist kein offizieller Bericht. Es ist nicht wirklich mein Job, ich helfe nur ein bisschen aus. Wenn sich signifikant etwas verändert, wenn zum Beispiel nur zehn auftauchen würden, können sie sich das genauer anschauen.«

»War das der Fall? Eine Veränderung, meine ich?«, fragte er aufrichtig besorgt. »Stimmt ihre Anzahl?«

»Genau genommen sehen sie gut aus. Ich habe mehr als vierzig gezählt. Das ist gut. Bedeutet, dass sie gesund sind und das Meer ihnen genug Futter zu bieten hat. Und sie brüten fleißig.«

Das brachte ihn zum Lächeln. »Ich freu mich.«

»Ja, es ist ein gutes Zeichen.« Ich deutete auf das Teleskop, das er nach wie vor festhielt. »Also, willst du es benutzen oder nur festhalten?«

Selbst in der Dunkelheit war ich mir recht sicher, dass er die Augen verdrehte. Doch er setzte das Teleskop wieder an und sah hinauf. Er verharrte so eine Weile und zog langsam einen Bogen über den südlichen Himmel. Ich lehnte mich zurück und beobachtete, wie sich die weißen Wogen an den Felsen unter uns brachen.

Das Meer war heute ruhiger. Es gab keine wütenden Untertöne. Bei Gelegenheiten wie diesen konnte ich mir vorstellen, dass es keine Macht war, mit der man stets rechnen musste, sondern eine friedliche, sanfte Kreatur, die allem Leben Zuflucht bot. An manchen Tagen schlug es wie ein Herz, der Puls der Erde, der allen Dingen Leben verlieh.

An manchen Tagen nahm es Leben.

Es gab einen Grund für das Sprichwort, dass man dem Meer nie den Rücken zukehren solle. Es war eine gnadenlose Kreatur. Ich zog es vor, wenn es sich rau und wechselhaft zeigte, grau und kalt, denn dann war es leichter, sich zu erinnern, zu was es fähig war.

»Geht es dir gut?«, flüsterte Aubrey neben mir.

Er hatte sein Teleskop weggepackt und beobachtete mich. Genau wie die Sterne, die er gerade noch betrachtet hatte, war ich Millionen von Lichtjahren weit entfernt gewesen.

»Sorry. Hab mich in meinen Gedanken verloren.« Ich schenkte ihm das schönste Lächeln, das ich zustande brachte. »Bist du fertig?«

Er nickte und kam auf die Beine. Er setzte seinen Rucksack auf die Kante, dann beide Hände und stemmte sich behände hoch. Himmel. Ich hielt mich für fit, aber die Tage, an denen ich so mühelos einen Meter vom Boden hochgesprungen war, lagen nun wirklich hinter mir. Mein Gesichtsausdruck musste mich verraten haben, denn Aubrey lachte und streckte die Hand aus. »Komm, alter Mann.«

Ich nahm seine Hand und seine Kraft überraschte mich. Ja, er war drahtig, aber er war stark. Er zog mich mit Leichtigkeit hoch. »Ich bin gar nicht so alt, nur, damit du es weißt.«

Er nahm seinen Rucksack, warf ihn sich über die Schulter und wischte seine behandschuhten Finger an den Oberschenkeln ab. »Nur so aus Neugier: Wie alt ist gar nicht so alt?«

»Ich bin einundvierzig.«

Er nickte nachdenklich. »Ich habe mich gewundert, das ist alles. Das Grau in deinem Bart macht es schwer zu schätzen.«

Instinktiv legte ich meine Hand an meinen Bart. »Du willst sagen, er macht mich alt?«

Er lachte. »Distinguiert.«

Ich verdrehte die Augen. »Ja, genau. Und wie nicht alt bist du?«

»Siebenundzwanzig.«

Vierzehn Jahre. Ich hatte so etwas vermutet. Wir machten uns auf den Rückweg zum Haus. Vierzehn Jahre. Das war nicht so übel, oder? Ich seufzte. Es gefiel mir nicht, wohin meine Gedanken abgeglitten waren. Warum dachte ich auch nur darüber nach? Ich musste wieder in die Spur kommen. »Nur um dich ins Bild zu setzen: Der Bart ist hilfreich. Er hält mir im Wind das Gesicht warm. Ich verbringe die meisten Tage im Freien.«

»Sollte keine Kritik sein«, sagte er rasch und mit einem Schritt zur Seite brachte er einen weiteren Meter zwischen uns. Gott, er war wirklich wie ein verängstigtes Kaninchen oder ein Welpe, den man getreten hatte. Er schob die Hände in die Taschen. »Eigentlich gefällt er mir. Ich habe es ernst gemeint, als ich sagte, dass er dich distinguiert wirken lässt.«

Ich lächelte ihm zu, um ihm zu zeigen, dass ich nicht verärgert oder wütend auf ihn war. »Ich kann mit distinguiert leben. Ein Kompliment ist ein Kompliment, richtig?«

Er schien sich etwas zu entspannen und warf mir ein kleines Lächeln zu. Dann, als wir mein Haus erreichten, wurde er erneut von der Größe des Leuchtturms überwältigt. »Er ist einfach herrlich«, sagte er, während er hinaufsah.

»Ist er.« Dann kam mir ein Gedanke. »Möchtest du nach oben auf die Galerie gehen, um dein Teleskop zu benutzen? Ich wette, der Blick auf die Sterne ist von dort oben sogar noch besser.«

Er lächelte, als er dächte er darüber nach. »Klar. Aber in einer anderen Nacht. Ich habe schon genug von deiner Zeit eingenommen.«

»Du bist keine Unannehmlichkeit, Aubrey«, sagte ich und sah ihm direkt in die Augen. »Aber wir können es in einer anderen Nacht nachholen. Mir egal.« Dann fiel mir wieder ein, dass ich ihn hergefahren hatte und ihn auch nach Hause bringen sollte, aber ich war noch nicht ganz bereit, mich zu verabschieden. »Hast du etwas gegessen? Ich habe eine Menge Pasta gemacht. Nur ein bisschen zusammengewürfeltes Gemüse mit Tomaten. Nichts Großartiges, aber es wird dich aufwärmen.«

Er öffnete den Mund, als wüsste er nicht, was er sagen sollte; als ob er wollte, aber sich nicht aufdrängen mochte. Oder als wäre er wirklich hungrig, aber nicht sicher, ob er mit mir hineingehen sollte.

»Oder ich könnte dir etwas in eine Schüssel füllen und du kannst es mit nach Hause nehmen«, bot ich an. »Ich habe wirklich zu viel gemacht.«

»Oh, ich… ehm…« Er sah zu meiner Haustür und stieß langsam die Luft aus.

»Oder ich kann dich einfach nach Hause fahren. Wie immer du willst. Ich bin ganz für nebensächliche Fragen und dafür, dass du dich nicht unbehaglich fühlst, weißt du noch?«

Er lächelte mir schief zu. »Ich erinnere mich. Und ich schätze, ich könnte etwas essen.«

Ich versteckte mein Lächeln, als ich die Tür aufschloss und hineinging. Normalerweise würde ich sie aufhalten, aber ich wollte ihn nicht unter Druck setzen. Ich trat einfach ein und sagte: »Zieh hinter dir zu«, sodass er hereinkommen konnte, wenn er bereit war.

Ich zog meinen Mantel aus und hängte ihn auf, dann streifte ich meine Handschuhe und Mütze ab. Drinnen war es angenehm warm, aber das Feuer war fast heruntergebrannt, sodass ich die Kamintür öffnete und ein kleines Scheit nachwarf. Tabby warf mir einen missmutigen Blick zu, weil ich es gewagt hatte, sie zu wecken, also kraulte ich sie entschuldigend hinter dem Ohr. Sie schlief gleich wieder ein und ich nahm an, dass ich entlassen war. Ich winkte abwehrend. »Nein, bitte, steh nur nicht auf.«

Aubrey stand nun in der Tür und lächelte mir zu. »Redest du öfter mit deiner Katze?«