Wie tickst du? Wie ticke ich? (E-Book)

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Wie tickst du? Wie ticke ich? (E-Book)
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Miriam Engelhardt, Nikola Engelhardt

Wie tickst du? Wie ticke ich?

Babyboomer, Generation X bis Z –

Altersgruppen verstehen in Bildung und Beruf

ISBN Print: 978-3-0355-1570-1

ISBN E-Book: 978-3-0355-1571-8

Zeichnungen: Boris Braun

Abbildung S. 55: Vladimir Arabadzhi

1. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© 2019 hep verlag ag, Bern

www.hep-verlag.com

Inhaltsverzeichnis

Vorwort: Chancen und Grenzen des Generationenmodells

I Generationenmodell

Was sind Generationen?

Die Babyboomer

Kindheit

Jugend/Junge Erwachsene

Arbeitsleben

Generation X

Kindheit

Jugend/Junge Erwachsene

Arbeitsleben

Generation Y

Kindheit

Jugend/Junge Erwachsene

Arbeitsleben

Generation Z

Herausforderungen

Einstellungen und Verhaltensweisen

II Die Generationen treten in Beziehung

Vorgesetzte und Lehrpersonen – ein Phänomen der Übertragung

Beratender Erziehungsstil – was Y und Z von Führungs- und Lehrpersonen erwarten

Werte bei Generation Y und Z

III Konfliktfelder und Fallbeispiele

Hierarchie/Umgang mit Autoritäten

Kommunikation

Eigenverantwortung

Work-Life-Balance

Zugehörigkeit

Selbstverwirklichung und soziale Gerechtigkeit

Sehnsucht nach Anerkennung und hoher Position

Lernen in der Wissensgesellschaft

Ausbildungszufriedenheit

Einflussfaktor «Pädagogische Kompetenz»

Einflussfaktor «Handlungsspielraum»

Flexibilität

Schlussfolgerung

IV Wie Sie Ihre Generationenkompetenz verbessern

Perspektivwechsel

Lösungsfokussierte Methode

Gesprächsführung

Ich + der andere = Beziehung

Neinsagen

Rollenspiel

V Tipps für Coaches und Beratungsstellen

Persönlicher Termin oder 24-Stunden-online-Service

Pünktlichkeit

Hilferufe aus dem Dschungel der Information

Informationsreduktion – eine neue Aufgabe

Rollenwandel: Von der Expertin zum Coach oder zur kompetenten Freundin

Beruhigende Fachkompetenz und klare, einfache Empfehlungen

Online-Angebot – neue institutionelle Herausforderung

Aufbau von IT-Systemen: Die Menschen mitnehmen

VI Tipps zum Erhöhen der Arbeitgeberattraktivität

Herausforderungen für Unternehmen

Welche Generationen wollen Sie ansprechen?

Argumente für einen Generationen-Mix

Was können Sie als Arbeitgeber bieten?

Führung

Methode «Stretch-Feedback»

Spaß bei der Arbeit und gute Zusammenarbeit

Arbeitszeiten

Personalentwicklung

Arbeitgeberidentität

Querdenken

Aktive Ansprache

Netzwerk der Ehemaligen

Mitarbeiter werben Mitarbeiter

Fazit zum Erhöhen der Arbeitgeberattraktivität

VII Warum sich Generationenkompetenz lohnt

Anhang

Die Autorinnen

Quellenverzeichnis

Verzeichnis der Fallbeispiele

Chancen und Grenzen des Generationenmodells

Vorwort

Wir haben es in Bildung und Beruf mit einer Vielfalt an Selbstverständlichkeiten zu tun, die sich besonders deutlich zeigt, wenn verschiedene Generationen miteinander in Kontakt treten. Dieses Buch will diese Generationenunterschiede verständlich und erfahrbar machen.

Massive gesellschaftliche Veränderungen prägten das 20. Jahrhundert: zwei Weltkriege, das Wirtschaftswunder, der Mauerfall, die Verbreitung des Computers, später des Internets, die Anschläge vom 11. September 2001. Diese und weitere Ereignisse beeinflussten auch unseren Alltag stark. Deshalb darf es uns nicht verwundern, dass wir es heute im Arbeitsleben innerhalb der Teams und Abteilungen mit Menschen zu tun haben, die sehr Unterschiedliches erlebt haben und in verschiedenen Welten aufgewachsen sind.

In Abschnitt I erklären wir, wie wir alle so geworden sind, wie wir sind. In Abschnitt II zeigen wir anhand von Fallbeispielen das Konfliktpotenzial, aber auch die Chancen auf, die in unserer Unterschiedlichkeit liegen. Abschnitt III macht uns mit möglichen Lösungsstrategien und Methoden vertraut. Abschnitt IV schließlich widmet sich den Veränderungsprozessen, die die jüngste Generation in Coaching und Beratungsstellen auslöst, während Abschnitt V die Herausforderung für Betriebe und Institutionen beleuchtet, den Erwartungen der verschiedenen Generationen gerecht zu werden, um für alle ein attraktiver Arbeitgeber zu bleiben. Leitgedanke ist, bei aller Unterschiedlichkeit ein positives Miteinander zu finden.

 

Aus betrieblicher Sicht gibt es im Moment drei Generationen, die sich deutlich voneinander abgrenzen lassen. Die geburtenstarken Jahrgänge 1945 bis 1965 heißen Babyboomer. Danach kommt die Generation X, zu der auch die Autorinnen gehören. Und schließlich haben wir die Generation Y (das spricht man gerne englisch aus, also wie das Wort «why»), das sind die Jahrgänge ab 1985. Auf Generation Z werden wir auch eingehen. Diese Generation ist jedoch noch jung und kommt erst gerade im Arbeitsleben an. Deswegen können Aussagen dazu nur unter Vorbehalten gemacht werden. Jede dieser Generationen wird im Folgenden mit ihren Eigenarten, Stärken und Bedürfnissen skizziert.

Um es gleich vorwegzunehmen: Natürlich kann man eine Generation nicht am Geburtsdatum festmachen und alle Individuen eines Jahrgangs gleichsetzen. Ohne eine gewisse Verallgemeinerung lässt sich jedoch kein soziologisches Ordnungsmodell entwerfen. Mit Modellen, ob das nun in der Physik, in der Chemie oder in der Soziologie ist, versucht man, die Lebendigkeit der Wirklichkeit einzufangen, zu abstrahieren, zu systematisieren und dadurch einen Überblick zu bekommen. Dieser dient der allgemeinen Orientierung, gilt aber natürlich nicht zwingend für jeden Einzelfall.

Mit der Generationenforschung ist es ähnlich wie mit interkulturellem Management: Natürlich sind nicht alle Chinesinnen gleich und die Schweizer alle anders als die Deutschen. Wenn wir jedes Individuum einzeln betrachten, sind vielleicht sogar der Chinese Chan und der Schweizer Ueli einander ähnlicher als Chan und Xung. Doch wenn wir Schweizer Führungskräfte darin trainieren möchten, mit China erfolgreiche Handelsbeziehungen aufzubauen, dann kommt es besonders darauf an, die Unterschiede herauszuarbeiten. Das Verständnis für eventuelle Abweichungen hilft, gut miteinander umzugehen. Mit den Generationen werden wir in diesem Buch ähnlich verfahren. Wir verallgemeinern und vereinfachen ganz bewusst und greifen das Typische heraus, um die Unterschiede zu verstehen und den Umgang miteinander zu verbessern.

Das Modell gilt nicht weltweit, und vielleicht erlebt ein Y-ler mit Migrationshintergrund einen Erziehungsstil ähnlich dem der Babyboomer-Zeit in unserer deutschsprachigen Kultur. Das ist die interkulturelle Grenze. Auch gibt es einen Stadt-Land-Unterschied. Häufig ist die Stadt dem Land voraus und so können sich die Jahrgänge der Generationen je nach Wohn- und Arbeitsort etwas verschieben. Ganz wichtig ist auch das Elternhaus, in dem man aufgewachsen ist. Wer hat uns erzogen? Waren es eher fortschrittliche oder sehr traditionelle Eltern? Entsprechend können die eigenen Erfahrungen eher denjenigen einer späteren oder früheren Generation ähnlich sein. Und natürlich spielt auch der konkrete Geburtsjahrgang eine Rolle. Vielleicht befindet sich jemand an der Grenze zwischen zwei Generationen und hat von beiden etwas.

Die Generation, zu der wir gehören, ist nur ein Diversity-Kriterium neben anderen. Wir unterscheiden uns auch nach Geschlecht, Ethnie, sozialer Herkunft und individueller Persönlichkeit. Und doch hat jede Generation ihre eigenen Werte, ihre typischen Denk- und Verhaltensmuster. Diese sind oft der Schlüssel zu Konflikten.

Es lohnt sich also, die Generationenunterschiede zu kennen und zu verstehen: Was braucht mein Gegenüber, das aus einer anderen Generation kommt? Weshalb reagiert es in bestimmten Situationen anders als ich?

Dabei kann das hier vorgestellte Generationenmodell für Sie im Arbeitsleben und im Bildungsbereich ein sehr nützliches Instrument sein. Es gibt Ihnen Ideen, wie Sie sich gut verhalten können, ein Repertoire an Verhaltensweisen, mit deren Hilfe Sie im Alltag besser reagieren können.

Generationenmodell

I

Was sind Generationen?

Sie kennen den Begriff aus Biologie und Medizin. Immer wenn geboren wird, gibt es eine neue Generation. Großeltern, Eltern und Kinder vertreten drei verschiedene Generationen. Geboren wird aber in jeder Sekunde – zu schnell für die Soziologie, die sich für die Entstehung von Trends, Regelmäßigkeiten und Verhaltensmustern interessiert. Wir möchten Ihnen den Begriff «Generation» so vorstellen, wie er in der Soziologie verwendet wird. Wir Soziologinnen schauen immer aus der Adlerperspektive, ob sich die Gesellschaft verändert hat, ob sich relevante Gruppen ausbilden, und dann fangen wir an zu forschen und zu analysieren. 1928 formulierte Karl Mannheim basierend auf seinen Beobachtungen erstmals einen soziologischen Generationenbegriff. Er stellte fest, dass Menschen, die in einem bestimmten Kulturkreis in einer bestimmten Zeit leben, ähnliche Erfahrungen machen, die ihre Werte, Einstellungen und Verhaltensweisen beeinflussen. Diese Ähnlichkeit ist dann das, was wir als generationentypisch bezeichnen.

Umgekehrt kann man formulieren: Das, was für eine Generation charakteristisch ist – wie sie denkt, welche Werte und welche Verhaltensweisen sie ausbildet –, ist die Antwort dieser Generation auf das, was sie in der Welt erlebt.

Im Leben eines Menschen gibt es zwei besonders wichtige Entwicklungsphasen: die Kindheit und das junge Erwachsenenalter. In der Kindheit prägen uns vorrangig die Eltern. Die Soziologie betrachtet im Gegensatz zur Psychologie nicht die individuellen Eigenarten des Vaters oder der Mutter, sie sucht vielmehr nach Gemeinsamkeiten größerer Gruppen von Menschen und fragt: «Was war zu dieser Zeit für alle Kinder dieses Kulturkreises normal?»

In der zweiten wichtigen Phase unserer Entwicklung, im jungen Erwachsenenalter oder der sogenannten späten Adoleszenz, überdenken wir unsere Werte und Einstellungen. In dieser Phase wollen wir weg von den Eltern, ein eigenes Leben führen. Und prompt tauchen ganz neue Fragen auf: «Wie ist die Welt? Ist da ein Platz für mich? Werde ich überhaupt gebraucht?» In dieser Phase schauen wir die Welt erstmals mit eigenen Augen an. Und wir merken, dass sie anders ist als das, was uns die Eltern über sie erzählt haben. Entsprechend korrigieren wir die eigene Wertorientierung und passen unser Verhalten den neuen Gegebenheiten an. Werte werden in der Soziologie definiert als Vorstellungen davon, was in einer Gesellschaft als erstrebenswert gilt.1 Wenn ein Mensch bestimmte gesellschaftliche Werte verinnerlicht und sein Handeln danach ausrichtet, nennt man das seine Wertorientierung. Ein solcher Wert kann zum Beispiel Regeltreue sein: «Man soll sich an die Regeln halten.» Eine Person mit dieser Wertorientierung wird auch dann an einer roten Ampel warten, wenn weit und breit kein Auto in Sicht ist.

Die Werte, Einstellungen und Verhaltensweisen einer Generation werden in der Kindheit und im jungen Erwachsenenalter geprägt. Wenn wir viele Jahre später in Konfliktsituationen kommen, in denen wir uns in unseren Werten angegriffen fühlen, handelt es sich dabei oft um dieselben Werte, die uns schon mit Anfang zwanzig wichtig waren.

Wenn wir uns jetzt die Generationen vorstellen, die zurzeit im Arbeitsleben und Bildungswesen aktiv sind, werden wir immer dieselben Fragen stellen: Was ist typisch für die Generation in der Kindheit? Was hat sie in der späten Adoleszenz oder im jungen Erwachsenenalter erlebt? Welche Auswirkungen hat das auf den Arbeitsalltag und die Lern- und Lehrsituationen?

Die Babyboomer

Personen der Jahrgänge 1945 bis 1965 zählen zu den Babyboomern, der heute ältesten noch im Arbeitsleben und im Bildungsbereich aktiven Generation. Die ersten von ihnen sind bereits pensioniert.

Kindheit

Wie wachsen sie auf? Um es in einem Bild zu sagen: Man ist gefangen im Tunnel der Tradition, rechts Granitfelsen, links Granitfelsen.

Die Lebenswege sind vorgezeichnet. Was wird der Sohn des Schreiners? Schreiner. Wer darf studieren? Söhne – aber keineswegs alle. Nicht einmal alle reichen. Im Normalfall Ärztesöhne, Lehrersöhne, Pfarrerssöhne. Also diejenigen, deren Vater bereits studiert hat. Bei den Mädchen heißt es: «Ach, Mädel, du heiratest ja eh. Warum in eine teure Ausbildung investieren?» Damals ist es selbstverständlich, dass Frauen mit der ersten Schwangerschaft den Beruf aufgeben, nicht nur für die Zeit, in der die Kinder klein sind, sondern für das ganze Leben. Wenn man es sich leisten kann, bleiben die Frauen ihr Leben lang Hausfrauen. Zusätzlich gehen sie oft einer ehrenamtliche Tätigkeit nach, zum Beispiel in der Kirchengemeinde.

Die patriarchale Gesellschaft wird kaum hinterfragt. In den Familien hat der Vater das Sagen, direkt danach kommt die Mutter und anschließend dürfen auch noch alle anderen Erwachsenen mitreden. Kinder müssen gehorchen. Das bedeutet, sie müssen ohne Widerrede, im Zweifelsfall gegen ihren Willen und gegen ihre Überzeugung handeln, wenn die Erwachsenen es ihnen befehlen. Wie schafft man es, dass Menschen in diesem strengen Sinne gehorchen? Durch Strafen und Ausgrenzung. Die Babyboomer werden als Kinder geprügelt, wenn sie Pech haben sogar mit dem Kochlöffel oder dem Gürtel. Sie werden bloßgestellt, in die Kälte hinausgesperrt, in den Keller, oder ohne Essen zu Bett geschickt. Die Strafen für Kinder sind aus heutiger Sicht sehr hart; damals war das normal. Und wenn eines sich verteidigen will, sagt man: «Willst du auch noch frech werden?!»


Tunnel der Tradition. Die Lebenswege der Babyboomer sind vorgezeichnet.

Ein Babyboomer-Kind kann die Anerkennung seiner Eltern und später der Lehrerinnen und Lehrer durch zwei Verhaltensweisen erreichen: Gehorsam und Fleiß. Die Tüchtigen, das sind die Guten. Das liegt nicht etwa daran, dass die Eltern der Babyboomer es nicht gut meinen mit ihren Kindern. Aber man braucht schon früh ihre Arbeitskraft im Haushalt und in der Landwirtschaft. Man benötigt fleißige Kinder, um sie satt zu bekommen. Erziehungsziel ist: «dass aus ihnen etwas wird», also dass sie später ihre Existenz sichern können. Dazu gehört auch, nicht aus der Reihe zu tanzen, sonst kann es schnell passieren, dass man aus der Dorfgemeinschaft ausgegrenzt wird.

Doch die Kinder lernen schnell, mit dieser Normalität umzugehen. Stellen wir uns eine typische Szene aus der Babyboomer-Kindheit vor: Der Vater kommt nach Hause und fragt das Kind: «Und, hast du es erledigt?», und während es überlegt, was es hätte tun sollen, bekommt es schon eine übergebügelt. «Du Faulenzer! Warum hast du wieder nichts geschafft?» Beim zweiten Mal, wenn der Vater kommt und fragt: «Und, hast du es erledigt?», rennt das Kind gleich weg, überlegt sich «O je, was hätte ich denn machen sollen?» Und während es rennt, fällt es ihm vielleicht ein und es biegt in die richtige Richtung ab, um es schnell zu erledigen, denn es ist ja klug und möchte der Strafe ausweichen. Beim dritten Mal flitzt das Kind schon los, wenn es den Vater nur von weitem kommen sieht, und erledigt, was es hätte tun sollen. So sieht Erziehung in einer hierarchischen Gesellschaft aus. Ihr Ergebnis ist vorauseilender Gehorsam.

Zum Vergleich: Wenn Sie heute im Betrieb am Horizont auftauchen, vielleicht als Führungskraft oder Lehrperson – passiert irgendetwas bei Ihren jungen Mitarbeitenden oder Lernenden, dass sie stramm stehen würden oder in irgendeine Richtung rennen? Im Normalfall nicht. Die heutige Jugend ist nicht geprügelt worden, sie kennt diese tiefe Angst nicht. Also muss die Führungskraft präzise wiederholen, was sie haben will, bis der Auftrag ausgeführt wird. Aus Angst rennt die heutige junge Generation nicht.

 

Jugend/Junge Erwachsene

Nun werden die Babyboomer älter. Sie haben eine historische Chance: das Wirtschaftswunder. Es gibt bezahlte Arbeit, man kann jobben gehen und sich von den Eltern unabhängig machen.

Aufgrund der guten wirtschaftlichen Lage werden auch das Bildungssystem und das Gesundheitswesen stark ausgebaut. Entsprechend kommen immer mehr Menschen in den Genuss von Bildung. Die Eltern der Babyboomer haben vielleicht noch gehört: «Sieben Jahre Volksschule, das reicht!» Jetzt werden Ausbildung und Studium zunehmend wichtig. Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen erhalten die Möglichkeit, zuhause auszuziehen und unabhängiger zu werden, denn für die Ausbildung müssen sie meist woanders hin, z. B. in eine andere Stadt, in ein anderes Dorf.


Einkommen pro Kopf in Deutschland, 1851–2003. Zwischen 1948 und 1973 verdoppelt sich das Pro-Kopf-Einkommen in Deutschland. Der Ausbau von Bildungssystem und Gesundheitswesen wird möglich.

An einem anderen Ort, mit anderen jungen Menschen zusammen in Ausbildung und Studium, aber noch geschützt vor der vollen Last der Existenzsicherung, geschieht etwas: Die Babyboomer erweitern den Anwendungsbereich von Kommunikation. Bisher hatte sie vor allem als Mittel zum Austausch von Sachinformationen gedient («Hast du es erledigt?»). Jetzt wird sie zum Mittel für den Austausch von Gedanken und Gefühlen. Die Babyboomer beginnen damit, Themen miteinander zu besprechen wie: «Was ist Liebe?»

«Das, was meine Eltern leben», denken die Babyboomer, «kann keine Liebe sein! Der Vater schreit, schlägt und hat immer das letzte Wort. Die Mutter kann ihre guten Ideen nicht durchsetzen und muss ihn noch todmüde bedienen. Das kann keine Liebe sein!» Und im zweiten Schritt folgt die Selbstreflexion: «Wollen wir wirklich auch so sein? Wir müssen doch etwas anderes finden, wir wollen keine hierarchische Liebesbeziehung!» Es bilden sich Paare und bald kommt ein weiteres Thema auf: «Wie wollen wir unsere Kinder erziehen? Sicher nicht so, wie wir selbst erzogen wurden. Nicht so streng!» Zum ersten Mal stellt sich also eine Generation Fragen wie: «Will ich das auch? Was hat das, was ich selbst erlebt habe, mit mir gemacht?» Die Babyboomer erfinden die Selbstreflexion.


Hippies und Flowerpower. Hippies, barfuß, mit langen Haaren, verkörpern den Widerstand gegen jede Einengung. Im Hintergrund die Menschenkette gegen Panzer, ein neues, friedliches Engagement für eine bessere Welt.

Zusammen mit der Bildung und den neuen Möglichkeiten, selbst Geld zu verdienen, hilft die Selbstreflexion den Babyboomern dabei, aus dem engen Rahmen der Tradition auszubrechen und den vorgezeichneten Lebensweg zu verlassen. Sie ermöglicht es ihnen also, die durch ihre Eltern vermittelten Werte zu relativieren. Die wichtigste Frage, die sie sich stellen, ist: «Wie will ich leben?» Die Radikalsten kaufen sich ein Ticket und fliegen nach Indien. Zurück kommen sie mit Meditation – das Wort hat in Europa bislang noch niemand gehört. Andere kaufen sich einen alten VW-Bus und fahren nach Griechenland an den Strand. Dort treffen sie andere junge Erwachsene und diskutierten die Frage: «Wie wollen wir leben?»

Viele trauen sich nun auch zu formulieren, was sie gerne lernen wollen. Die Mädchen hätten vielleicht dem Plan ihrer Eltern gemäß nur ein Jahr die Hauswirtschaftsschule besuchen sollen, nun sagen sie: «Ich will eine richtige dreijährige Ausbildung machen.» Den Wunschberuf lernen zu dürfen, das ist damals schon ein großes Ziel und Zeichen für Freiheit und Selbstbestimmung.

Es sind nicht nur die individuellen Möglichkeiten aufgrund von Wirtschaftswunder und zunehmenden Bildungschancen, die den Babyboomern den Mut geben, den Tunnel zu verlassen. Auch die allgemeine Aufbruchsstimmung und der Fortschrittsglaube in der Gesellschaft geben Rückenwind. Die Babyboomer haben teilweise als kleine Kinder noch erlebt, wie man das Land mit dem Pferd bewirtschaftet. 1969 erleben sie die erste Mondlandung: ein unglaublicher technischer Fortschritt. Der Fortschrittsglaube kennt keine Grenzen. Noch zwei, drei große Staudämme in Afrika, und wir bekommen den Welthunger in den Griff. Wirtschaftswachstum, technologischer Fortschritt und Bildungsexpansion führen bei den Babyboomern zum Lebensgefühl: «Wir werden die Welt verbessern!», «Alles ist möglich!» Die typischen Themen der Babyboomer sind Selbstbestimmung, die Welt verbessern, Visionen haben und sich für diese Visionen einsetzen. Alles ist möglich!

Arbeitsleben

Was ist übrig geblieben? Es sind vor allem zwei Dinge, die die Babyboomer von ihren Eltern übernommen haben. Erstens der Vorrang von Arbeit, zweitens die Hierarchie.

Die Einstellung «Erst die Arbeit, dann das Vergnügen» sitzt tief. Allein die Frage eines Lehrlings «Kann ich heute ein bisschen früher gehen?» ist für sie schon ein Fauxpas. Selbst die Bemühung, pünktlich Feierabend zu machen, kann einen Beigeschmack bekommen: «Die Jungen gehen immer pünktlich. Wir bleiben, bis die Arbeit fertig ist.» Wird irgendwo viel und laut gelacht, entsteht für Babyboomer unbewusst schnell der Eindruck: «Die schaffen nix!» Und wenn junge, kinderlose Kollegen und Kolleginnen eine 80-Prozent-Stelle möchten, fragen sich die Babyboomer: «Wann wollen die eigentlich anfangen mit arbeiten?»

Stichwort Hierarchie: Obwohl sie im Erwachsenenalter darüber reflektiert und sogar in den 68er-Studenten-Revolutionen hart dagegen gekämpft haben, ist die Hierarchie den Babyboomern noch immer im Blut. Wir neigen dazu, das, was wir selbst als «normal» oder «richtig» empfinden, unbewusst auch von anderen zu erwarten. Unterordnung wird selbstverständlich vorausgesetzt, und zwar besonders bei den Jüngeren. Alter und Dauer der Betriebszugehörigkeit sind klare Hierarchie-Merkmale.

Wenn im Betrieb junge Mitarbeitende oder Auszubildende nicht sofort das tun, was ihnen aufgetragen ist, sondern dreimal nachfragen oder Gegenvorschläge einbringen, empfinden das die Babyboomer schnell als anmaßend. Aus ihren Lehrjahren kennen sie eine klare Hierarchie, die mit Alter und langjähriger Betriebszugehörigkeit zu tun hat. Man muss sich hocharbeiten. Im ersten Lehrjahr wird Kaffee gekocht und die Werkstatt gefegt. Wenn sich heute junge Kollegen und Kolleginnen ab dem ersten Tag auf Augenhöhe fühlen und all ihre Vorschläge und Meinungen einbringen, ist das für Babyboomer befremdlich, sie hätten sich das früher nie getraut. Bis heute sagen Babyboomer erst dann etwas, wenn sie sich ihrer Sache hundertprozentig sicher sind. Zu häufig haben sie hören müssen: «Schweig, du bist nicht gefragt worden!»

Entsprechend haben Babyboomer ein klares Verhältnis zu Regeln: Regeln sind Regeln und haben ihren Sinn. Es irritiert sie, wenn Regeln von Jüngeren hinterfragt werden oder diese versuchen, Ausnahmen für sich zu verhandeln.

Ähnlich sieht es mit der Pünktlichkeit aus. Weil sie es selbst früher nie gewagt hätten, unpünktlich zu sein, empfinden die Babyboomer den laxen Umgang mit Terminen bei Jüngeren schnell als respektlos.

Auch die Feedbackkultur der Babyboomer ist nicht frei von Hierarchie. «Feedback» heißt für Babyboomer immer Kritik von oben nach unten und nicht umgekehrt. Sie sind schon irritiert, wenn Lernende oder junge Kolleginnen ihre Vorgesetzten fachlich loben, aber wenn sie diese korrigieren, dann spätestens ist Schluss.

Auch im Umgang mit Fehlern unterscheiden sich die Generationen deutlich voneinander. Jugendliche der Generation Y pflegen einen offenen Umgang damit und begründen Fehler gerne ausführlich. «Ja, deswegen und aus dem Grund ist das so passiert.» Sie sind in einer Fehler- und Lernkultur groß geworden, in der man die Frage stellt: «Wie kam es dazu?» Wenn junge Kollegen und Kolleginnen oder Lernende also bei einem Fehler sofort Erklärungen liefern, denken Babyboomer: «Das sind Ausreden!» Ihnen ist die Grundhaltung der jüngeren Generationen «Irren ist menschlich» sehr fremd. Denn Babyboomer sind für Fehler bestraft oder lächerlich gemacht worden. Fehler dürfen nicht passieren. Darum trauen viele Babyboomer der konstruktiven Fehlerkultur nicht und geraten in eine Verteidigungshaltung oder in Panik, wenn ihnen ein Fehler unterläuft.

Lernen ist für die Babyboomer bis heute etwas sehr Wichtiges. Bildung war für sie der Weg aus dem Tunnel in ein selbstbestimmtes Leben. Darum ist Lernen immer eine Chance, und sei es zur Persönlichkeitsentwicklung. Wenn dann die Jungen manchmal sagen, «muss ich das lernen, ist das wirklich prüfungsrelevant?», denken die Babyboomer, «Mein Gott, die Jugend von heute ist wirklich unmotiviert, sie denkt nur an ihre Prüfungen. Lernen ist doch eine Chance, die sollten über den Tellerrand hinaus lernen und nicht nur für die Prüfung.» Der junge Lernende weiß aber, dass es lebenslanges Lernen gibt mit Wikipedia, Google und modularen Aufbaukursen. Da ist es viel sinnvoller, sich jetzt auf die Prüfung zu konzentrieren. Viele Babyboomer fassen das als Desinteresse auf.

Noch etwas ist sehr typisch für Babyboomer: «Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.» Die Arbeitsmoral haben sie von ihren Eltern übernommen. Wenn es hart auf hart kommt, arbeiten die Babyboomer einfach mehr, länger, die Pausen durch und auch dann noch, wenn sie schon halb krank sind. In den Köpfen geistert noch immer das Sprichwort herum: «Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen.» Es ist die Generation, die am ehesten in einen Burnout läuft. Es ist sogar die Generation, in der der Burnout zum ersten Mal beschrieben worden ist. Arbeitsmoral und Leistungsbereitschaft haben einen hohen Stellenwert. Etwas nicht zu schaffen, wird als persönliches Versagen erlebt. Wenn die Berge so hoch sind, dass sie nicht mehr abzutragen sind, haben Babyboomer oft keine Notbremse, denn die Idee der Work-Life-Balance wird erst für die nachfolgenden Generationen zu einem relevanten Wert.

Mit der Babyboomer-Generation haben wir eine hochloyale, sehr arbeitsame Generation mit großem Durchhaltevermögen. Denn Durchhalten ist die wichtigste Tugend im Tunnel.

Generation X

Generation X, das sind die Geburtsjahrgänge 1965 bis 1985. Bitte bedenken Sie auch hier wieder: die Übergänge sind fließend. Für Generation X haben wir zwei Bilder: eines für die Kindheit, das zweite für das junge Erwachsenenalter.

Kindheit

Bei der Geburt hat der Storch die Kinder der Generation X in den Sahnetopf fallen lassen. Diese Kinder erleben, wie im Zuge des Wirtschaftswachstums der Reichtum in die Familien durchsickert. Die erste Kugel Eis! Richtiges Spielzeug zum Geburtstag! Früher hat man einfach etwas bekommen, was praktisch ist, die warmen Fausthandschuhe zum Beispiel. Nun Playmobil und Barbiepuppen.

Durch den Einsatz der Anti-Baby-Pille ist die Zahl der Geburten rückläufig, es entsteht der sogenannte Pillenknick. Generation X kommt aus kleineren Familien mit weniger Kindern. Diese Kinder erleben zum ersten Mal auch ein bisschen Langeweile. Denn Kinder der Generation X müssen im Vergleich zu den Babyboomern viel weniger arbeiten und im Haushalt helfen. Es gibt weniger Geschwister zum Spielen, nicht so viele Gleichaltrige auf der Straße. Gut, dann gehen sie eben in ihr Zimmer und spielen dort vielleicht allein mit ihrem Spielzeug. Das kann schon mal ein bisschen langweilig sein oder auch einsam. Spätestens beim ersten Liebeskummer kommt die Einsamkeit wirklich über sie. Denn was können die X-ler machen, wenn sie vielleicht mit 14 Jahren vor Liebeskummer nachts nicht schlafen können? Die Geschwister wecken? Geht nicht, wenn man schon ein eigenes Zimmer hat. Die beste Freundin oder einen Freund anrufen? Unmöglich. Es gibt nur das Festnetztelefon, fest verschraubt neben dem Elternschlafzimmer – da kann man unmöglich heimlich leise jemanden anrufen. Zum Vergleich: Ist irgendein Jugendlicher heute nachts allein? Nicht, solange es WLAN gibt.

Später werden die X-ler die Fähigkeit, sich mit sich selbst zu beschäftigen und sich selbst zu trösten, noch brauchen.

Der zunehmende Wohlstand in den Familien führt auch dazu, dass fast jeder Haushalt irgendwann einen Fernseher hat. Was guckt Generation X? Pippi Langstrumpf. Hier wird es interessant. Pippi Langstrumpf ist weder anständig noch wohlerzogen. Trotzdem ist sie ein schönes Kinderideal: lebendig, fröhlich, mutig, kreativ und sehr sozial. Selbst die Eltern sagen: «Schau du mal Pippi Langstrumpf.»

Diese Eltern erziehen ihre Kinder bewusst etwas weniger anständig. Denn was ist früher Anstand gewesen? Kennen Sie diese Fotos, schwarzweiß, von kleinen Kindern im Anzug beim sechzigsten Geburtstag des Großvaters? Kinder, die zweieinhalb Stunden beim Festessen am Tisch sitzen müssen und nicht aufstehen dürfen? Das war Anstand. Diese Kinder sehen auf den Fotos unglücklich aus. Das wollen die Eltern der X-ler nicht mehr. Sie wollen authentische Kinder. Nun werden aus diesen authentischen Kindern junge Erwachsene, die hinaus wollen in die Welt. Was sehen und erleben sie?

Jugend/Junge Erwachsene

Jetzt kommt das zweite Bild zum Zuge. Was findet sich in den 80er-Jahren in den Schlagzeilen? Globale Umweltzerstörung. Wir haben im April 1986 die atomare Katastrophe in Tschernobyl, ein Ereignis, das in Sekundenschnelle den Gelehrtenstreit beendet, ob Atomkraft nun gefährlich ist oder nicht. Im November des gleichen Jahres färbt sich vom Raum Basel aus der Rhein rot. Bei einem Brand bei Sandoz im Gebiet Schweizerhalle fließt hochgiftiges Löschwasser in den Rhein, löst ein großes Fischsterben aus und macht die Trinkwasserversorgung in weiten Teilen Deutschlands für Wochen zur Herausforderung. 1988 versucht Klaus Töpfer, damals Umweltminister von Rheinland-Pfalz, später Bundesumweltminister, die Sauberkeit des Rheins zu belegen und springt demonstrativ vor laufender Kamera ins Wasser. Man hört erstmals, dass die Gletscher schmelzen. Wir haben FCKW – Fluorkohlenwasserstoff – als Treibgas für so wichtige Dinge wie Deodorant oder Schuhsprays, als Kältemittel für Kühltruhen und als Reinigungs- und Lösemittel. Gleichzeitig zeigen wissenschaftliche Studien: Die FCKW tragen massiv zur Vergrößerung des Ozonlochs über den Polen bei. Mit welchen Folgen? Erstens dringt vermehrt aggressive Sonnenstrahlung ein, damit steigt das Risiko für Krebs, und zweitens entweicht durch das Ozonloch unsere Atmosphäre ins Weltall und mit ihr der Sauerstoff.