Samba tanzt der Fußballgott

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Von der Normandie aus stach man, nach diesem sensationellen Ausflug im gesamten Fußballeuropa bekannt, in See Richtung Heimat. Beim planmäßigen Halt in Lissabon sprach sich die Anwesenheit des legendären CA Paulistano rasch herum. Spontan erschien eine Delegation örtlicher Fußballvertreter und bat um ein improvisiertes Spiel. Fried und seine Mitspieler legten auf dem Schiff Fußballkleidung an und gewährten der portugiesischen Mannschaft ein 60-minütiges Stelldichein, welches mit 6:0 gewonnen wurde. Die sportliche Bilanz der Reise brachte beeindruckende 9 Siege bei einer Niederlage und 30:8 Tore, wovon allein elf Treffer auf Frieds Konto gingen.

Die Ausflugstruppe hatte der jungen Republik enormes sportliches Renommee eingebracht und wurde zum Dank in der Heimat kolossal empfangen. Beim Einlauf im Hafen von Rio de Janeiro säumten jubelnde Massen die Kaimauern, es ging anschließend im Autokorso zum Präsidentenpalast, wo die Mannschaft in festlicher Gewandung von Präsident Arthur Bernades persönlich geehrt wurde.

Als das Team tags darauf mit dem Zug im heimischen São Paulo ankam, wiederholten sich frenetische Szenen. Internationale Vergleiche waren zu der Zeit eine Seltenheit und dass die Brasilianer, die erst vor zwei Jahrzehnten mit dem Fußball in Kontakt kamen, die Nation derart repräsentiert hatten, verstärkte die Außerordentlichkeit des Ereignisses aufs Schönste.

Martin Curi zitiert aus dem Sportalmanach von 1928 folgende Ehrung Arthur Friedenreichs: „Er wurde für das Fußballspiel geboren [...] wir können sicher sein, dass Arthur die ideale Personifizierung eines Stürmers ist. Im Verlauf seiner Karriere entwickelte er sich vom wagemutigen Stürmer, der vom eigenen Strafraum bis zum gegnerischen Gehäuse mit verspielter ‚Kunst‘ Zeit verlor, zu einem ‚Gelehrten‘, einem Meister der Meister. Fried spielt heute mannschaftsdienlich und praktiziert keine Finten oder Schritte und bewegt sich nicht, wenn er nicht absolut sicher ist, dass er daraus einen Vorteil gegenüber dem Gegner erarbeiten kann. Diese Spielzüge entwickelt er bis zum gegnerischen Strafraum, und wenn er dort angekommen ist, zeigt sich nicht nur der Techniker von heute, sondern auch der Künstler und Virtuose von gestern. Dort zeigt er alle Künste seiner Erfahrung und Schule, indem er zum einen Verzweiflung unter den gegnerischen Abwehrreihen provoziert und zum anderen seine Geistesblitze umsetzt, die, wenn der Fußball als Kunst anerkannt wäre, ihm den Titel des Meisters einbringen würden, so groß ist die Perfektion und Schönheit, mit der er sie immer dann anbringt, wenn ein Schuss oder eine Befreiung unmöglich erscheinen.“

Neben der Vollendung des Fußballers Fried und dessen Extraklasse lässt sich aus diesen Zeilen eine interessante Parallele zur Entwicklung des Menschen Arthur Friedenreich ablesen: Der schmächtige Junge hatte einst gegen Vorurteile von allen Seiten zu kämpfen, sah sich zwischen den Ansprüchen der deutschen und gutsituierten Gemeinde und seiner rassistisch motivierten Herabsetzung der dunklen Hautfarbe wegen aufgerieben, er pflegte auf und neben dem Fußballplatz seine Einzelkämpferrolle und begehrte auf. Als gereifter Spieler und Persönlichkeit stellte er bereitwillig seine Talente in den Dienst der Mannschaft und machte gerade auf öffentlichem Parkett eine glänzende Figur. Fried war stets tadellos gekleidet und aufgrund seiner unterhaltsam-freundlichen Art bei seinen Mitspielern beliebt, sofern sie nicht gerade gegen ihn beim Poker verloren, und machte auch auf den großen Bühnen von Politik und Showgeschäft eine gute Figur. Es scheint, dass der Fußball dem Menschen Arthur Friedenreich die Gelegenheit gab, seinen persönlichen Hintergrund in einer gelungenen Entwicklung zu entfalten und seine Stärken aufblühen zu lassen. Fried, der sich auf ein gutes Auskommen mit den Menschen der Unterschicht und der Oberschicht verstand, der weißes und schwarzes Blut in sich trug, war in jungen Jahren nirgends richtig zu Hause. Mit dem Fußball und der Anerkennung seiner Talente öffneten sich für ihn viele Türen und plötzlich zeigte sich in seinem Grenzgängertum ein charmanter Kosmopolitismus, das sichere Gespür, auf allen gesellschaftlichen Terrains reüssieren zu können. Er war vorerst der Enge der isolierten Milieus entkommen und konnte als Vorbote eines neuen multiethnischen und daraus starken und vielseitigen Brasiliens angesehen werden.

Das Ende der goldenen Zwanziger

Im Jahr 1926 verlor Paulistano knapp den Kampf um die Meisterschaft. An sich betrachtet wäre eine kleine Unterbrechung der Erfolgsserie gewiss zu verschmerzen gewesen, doch dummerweise hatte der Schiedsrichter im entscheidenden Spiel gegen São Bento eine Abseitsposition bei dessen Siegtor übersehen. Dies führte beim grimmigen Präsidenten und Kaffeebaron Prado über Tobsuchtsanfälle schließlich zur scheinbaren Gewissheit, Opfer einer Verschwörung der auf Professionalisierung drängenden Vereine zu sein. Kurz entschlossen verließ Paulistano auf Geheiß des Bosses die Liga und gründete mit der Liga de Amadores de Futebol (LAF) einfach eine neue. Es fanden sich sieben weitere Klubs, die dem Wettbewerb beitraten, den Paulistano direkt gewinnen konnte. Dieses Kunststück wiederholte man 1927 und Fried sicherte sich mal wieder die Torjägerkanone, im Alter von 35 Jahren.

1928 gelang Arthur Friedenreich ein Kunststück, welches bis zum großen Pelé eine singuläre Stellung bewahrte: Am 16. September erzielte Fried im Ligaspiel gegen União da Lapa sagenhafte sieben Tore. Zwar ging die Mannschaft am Ende der Saison leer aus, doch im darauffolgenden Jahr wurde die goldene Ära Paulistanos und Frieds mit dem erneuten Meistertitel und der Torjägerkanone für ihren Star gekrönt.

Auf die Feierlichkeiten folgte jedoch der unerwartet heftige Katzenjammer. Grund dafür war wieder Präsident Prado, der über Nacht einen Brief an die LAF verschickte, in dem er über die sofortige Auflösung der Fußballabteilung Paulistanos informierte. Der herrschsüchtige Kaffeebaron konnte sich dem wachsenden Wunsch nach einer Professionalisierung nicht weiter verschließen; da er aber keinesfalls bereit war, den gesellschaftlichen Wandel mitzutragen und auf den Fußball als Elitesport – und wohl auch die eigene Machtfülle – zu verzichten, zerschlug Prado die erfolgreichste Mannschaft jener Zeit komplett.

Nun standen die Spieler der besten Mannschaft ihrer Generation von einem Tag auf den anderen ohne Klub da. 60 Paulistanos trafen sich daher mit dem finanziell in Schwierigkeiten steckenden Verein AA Palmeiras und gründeten kurzerhand gemeinsam den neuen Verein São Paulo da Floresta, der seit 1935 FC São Paulo heißt.

Arthur Friedenreich erzielte auch im neuen Dress zunächst unglaubliche Quoten. Doch trotz seiner 31 Tore in den 30 Spielen des Kalenderjahres 1930 konnte die Stadtmeisterschaft nicht gewonnen werden. Und einmal mehr stellte sich die Seleção, der Traum eines jeden brasilianischen Fußballers, als das traurigste Kapitel im Sportlerleben Arthur Friedenreichs heraus.

Nach einem Mini-Comeback von seiner Verbannung aus der Nationalmannschaft im Jahre 1925 war Arthur Friedenreich bis 1930 erneut, diesmal aufgrund der Verbandsstreitigkeiten seines Vereins und dessen Zugehörigkeit zur LAF, nicht berufen worden. Doch als 1930 die erste Fußballweltmeisterschaft anstand, glaubten viele Experten und Fans hoffen zu dürfen, dass der beste brasilianische Fußballer, und vielleicht auch der Welt, berufen würde. Doch die CBD blieb bei ihrer Linie und nominierte ausschließlich Spieler aus dem Verband Rio de Janeiros. Die Welt hatte vergeblich auf den Wunderstürmer gewartet, Brasilien schied sang- und klanglos in der Vorrunde aus.

Für ein bedeutungsloses Länderspiel nach dem Turnier wurde Fried berufen. Hier ging es um nichts, sodass der Verband nicht glaubte fürchten zu müssen, sein Gesicht zu verlieren. Der 3:2-Sieg gegen Frankreich blieb das einzige Länderspiel des großen Tigers gegen einen Gegner, der nicht aus Südamerika kam. 1934, die zweite Fußballweltmeisterschaft stand an, wurde Friedenreich als zu alt eingestuft, obwohl ihm in 26 Spielen für den FC São Paulo 14 Treffer gelangen. 1935 wurde der legendärste Spieler seiner Zeit für ein Abschiedsspiel gegen den argentinischen Verein River Plate nominiert. Es war sein gerade einmal 22. Länderspiel, die eigentlich gute Quote von 10 Toren war eines Tigers zudem unwürdig.

An der Banalität seiner Laufbahn im Nationaldress ändert auch nichts, dass Fried bei anderer Zählung, je nachdem welche südamerikanischen Vergleiche man in den Zeiten der großen Verbandsquerelen als offizielle Nationenvergleiche anerkennen möchte, auf 26 Tore in 25 Länderspielen kommt.

Vom Spielfeld aufs Schlachtfeld

Im Verein lief es zu Beginn der 1930er-Jahre weiterhin gut für Arthur Friedenreich. 1931 konnte der Titel gewonnen werden und der Goldfuß bewies auch im fortgeschrittenen Alter seine Qualitäten. 1930 und 1931 wurde Friedenreich jeweils Zweiter in der Torjägerwertung. 1932 rückte der Fußball in Brasilien in den Hintergrund. Unter der Herrschaft des Diktators Vargas war der Bundesstaat São Paulo, der den demokratischen Strömungen nahestand, zunehmend marginalisiert worden. Als am 23. Mai regimetreue Soldaten im Zentrum São Paulos fünf Jugendliche bei einem Attentat ermordeten, brachen auch bei der breiten Masse alle Dämme. Es wurde eine 40.000 Mann starke Revolutionsarmee gebildet, die zum Kampf gegen das Regime blies. Arthur Friedenreich meldete sich freiwillig und führte als Sergeant ein Bataillon in den militärisch aussichtslosen Kampf gegen die weit überlegenen Regierungstruppen. Martin Curi berichtet in seiner Friedenreich-Biografie von kaum überprüfbaren Erzählungen, die sich um den Heldenmut Arthur Friedenreichs in der Schlacht drehten und durch dessen Beförderung wegen außergewöhnlichen Mutes zum Leutnant zumindest nicht widerlegt werden. Gewiss ist, dass die Kräfte der Revolution militärisch den ungleichen Kampf verloren und in den Armen Friedenreichs ein junger Soldat starb. Dieses Erlebnis ließ den sensiblen Menschen nie wieder los. Als São Paulo im Belagerungszustand war, ließ Friedenreich alle seine Pokale und Trophäen verkaufen, um mit dem Erlös die ärgste Not in seinem Umfeld zu lindern.

 

Der Niederlage der Revolution folgte ein Teilerfolg durch die Hintertür der Politik. Diktator Vargas musste, um seine Macht erhalten zu können, die vielen unzufriedenen Revolutionäre und die wachsende demokratische Bewegung integrieren. Das Mittel der Wahl bestand in einem neuen Populismus, der, trotz aller Symbolpolitik, Fortschritte brachte wie das allgemeine Wahlrecht für Frauen und eine Anerkennung der Revolution.

Nach den schlimmen Monaten des Waffengangs fand der in die Jahre gekommene Tiger nicht mehr zu alter Bissigkeit zurück. Er begann eine Abschiedstour mit kurzen Gastspielen in verschiedenen Vereinen und beendete 1935 seine Karriere im Alter von 43 Jahren im Trikot von Flamengo Rio de Janeiro im Derby gegen Fluminense. Auch hier stand Fried, der Wanderer zwischen den sozialen Schichten, im Zweifel auf der Seite der einfachen Leute.

Nach dem Ende seiner Abschiedstour, auf der ihm der erste offizielle Profiliga-Treffer Brasiliens einen weiteren Eintrag in die Geschichtsbücher sicherte, bezog Friedenreich mit seiner Frau Joana das ihm für seine Verdienste vom FC São Paulo geschenkte Haus. Dort gründeten sie eine Familie und pflegten ein munteres Leben mit vielen Besuchen und Hausmusik.

Was in Deutschland undenkbar scheint, sicherlich aber den allzu großen Hochmut gegenüber den Männern, die einst schwarz trugen, mildern würde, war in Brasilien zu Friedenreichs Zeiten absolut üblich: Fried wurde häufig eingeladen, Spiele als Schiedsrichter zu leiten. Außerdem machte er sich als Amateurtrainer um die Jugendarbeit verdient. Bis zu seiner Rente arbeitete Friedenreich als Werbevertreter einer Brauerei, was dem aufgeschlossenen und mehrsprachigen Mann sehr entgegenkam. Sowohl mit den Mächtigen der Wirtschaft als auch mit den einfachen Menschen in den Kneipen und Gasthäusern kam der ehemalige Fußballstar blendend aus.

Vergänglichkeit des Ruhmes

Die letzten Jahre des großen Spielers der Pionierzeiten des Fußballs waren weniger glücklich. In Rente gegangen wurde das Geld im Hause Friedenreich knapp und der Mann, den einst die Massen als den Tiger, den König der Könige und ihren Goldfuß verehrt hatten, geriet in Vergessenheit. Die Abgeschiedenheit bekam Friedenreich nicht gut und er erkrankte an Depressionen, später an Parkinson und Arteriosklerose und verstarb am 6. September 1969.

Wenn man Fried in den letzten Jahren im öffentlichen Leben antraf, dann zeigte er Straßenkindern Fußballtricks, die den merkwürdigen alten Mann nicht mehr erkannten. Die neue brasilianische Fußballwelt drehte sich mittlerweile um Pelé und Garrincha. Die große Zeit des Amateurfußballs war vorbei.

Nach Friedenreichs Tod gab es kaum öffentliche Anteilnahme und auch sein Grab im Mausoleum für Amateursportler von São Paulo wird nur sehr selten besucht.

Die 26 Jahre währende Karriere des Arthur Friedenreich ist überreich gesegnet an Superlativen. Darunter befinden sich nicht bloß amüsante Fußballmärchen wie die makabre Legende, dass Arthur Friedenreich einmal einen Elfmeter so hart geschossen habe, dass er den Torwart mit seinem Schuss tötete. Tatsache ist, dass Friedenreich einst einen Strafstoß mit strammem Schuss einem Torhüter in die Magengrube beförderte, sodass dieser, dem die Puste wegblieb, ausgetauscht werden musste. Danach lebte der Ballfänger jedoch noch ein langes Leben. Diese Anekdote widerlegt auch die von Friedenreich selbst gern gepflegte Legende, er habe in seinem Leben über 500 Elfmeter verwandelt, ohne jemals einen Fehlschuss gehabt zu haben.

Unglaubliche elfmal wurde Friedenreich Torschützenkönig der São Paulo-Liga und etablierte mit seiner Gewandtheit und Eleganz den fortan beispielhaften brasilianischen Stil; zudem gilt Friedenreich als Erfinder des Effetschusses. Vom Jahr 1985 an galt Friedenreich laut Guiness Buch der Rekorde auch als der mit 1.329 erzielten Toren offiziell erfolgreichste Stürmer in der Geschichte des Weltfußballs. Mittlerweile hat die Guiness-Redaktion diese Angabe mit dem Zusatz „undocumented“ relativiert. Es bleibt also Geschmackssache, ob man Pelé oder dessen frühen Vorgänger Friedenreich an der Spitze sehen will.

Die Unklarheit beruht auf der mangelnden Dokumentation des Fußballgeschehens jener Pioniertage. Martin Curi klärt über diese 22 Jahre nach Friedenreichs Tod aufgetauchte Rekordzahl auf. Die Biografen Orlando Duarte und Severino Filho weisen in ihrem Werk Fried versus Pelé in minutiöser Archivrecherche 558 in Zeitungen belegte Treffer (in 562 Spielen) des Tigers nach.

Zu den 1.329 Treffern kam es durch die Arbeit von Oscar Friedenreich, der penibel über die Karriere seines Sohnes Buch führte und kurz vor seinem Tod diese Aufgabe an Frieds Mannschaftskameraden Mario Andrada übertrug. Aus deren privater Dokumentation gingen so 1.329 Spiele mit 1.239 (!) verzeichneten Treffern hervor. Hierzu muss angemerkt werden, dass Friedenreich, der für seine Ruhmestaten in der großen Zeit bei Paulistano als Amateur kein Geld erhalten durfte, zur Aufbesserung seiner Kasse immer mal wieder an inoffiziellen Spielen in den Auen teilnahm. Bei diesen relativ lose organisierten Wettstreits profilierten sich örtliche Unternehmen gern als Sponsoren der Teams und die besten Spieler konnten einiges Handgeld kassieren. Offiziell als Wettbewerb anerkannt wurden diese Spiele jedoch nie.

Kurz vor seinem Tod zeigte Andrada die Statistiken einem Sportjournalisten, der sofort die große Story, die Ablösung Pelés durch Arthur Friedenreich als besten Torjäger aller Zeiten, witterte. Bevor Andrada die Sammlung zur Auswertung übergeben konnte, verstarb er jedoch und dessen Hinterbliebene warfen die Dokumente fort. Der enttäuschte Journalist wollte sich freilich seine Entdeckung nicht so einfach nehme lassen und brachte die Trefferzahl in einer Zeitungs-Hommage an Arthur Friedenreich unter.

Verwirrung um die Krone

1965 erschien dann das bei brasilianischen Fußballfans zum Standard gehörende Werk Giganten des Fußballs. Der Autor des Kapitels über Arthur Friedenreich, João Maximo, übernahm die veröffentlichte Trefferzahl und baute diese zudem mit einem Zahlendreher von 1.239 zu 1.329 noch weiter aus. Auch eine Verwechslung der Anzahl der Spiele mit derjenigen der Tore kann nicht ausgeschlossen werden.

Offiziell dokumentiert und anerkannt sind für Arthur Friedenreich 558 Tore in 562 Spielen. Der faszinierende und heute weitgehend vergessene Stürmer darf nicht nur als einer der besten Fußballer aller Zeiten und bemerkenswerte Persönlichkeit angesehen werden. Besondere Anerkennung verdient sein schwerer Weg als erster farbiger Spieler in der Geschichte des offiziellen Ligaspielbetriebs in Brasilien. Arthur Friedenreich war gewiss kein sozialer Underdog, der sich von unten nach oben kämpfen musste, steht aber mit seiner Sportlerbiografie für die Etablierung des authentischen Brasiliens als einer multiethnischen Gesellschaft in den repräsentativen Ausdrücken öffentlichen Lebens. Als Sohn eines weißen Vaters und einer schwarzen Mutter, als Teil der neuen wachsenden Mittelschicht Brasiliens, die die vormals in der Trennung von kolonialen Grundbesitzern und Kaffeebaronen auf der einen und afrobrasilianischen Sklaven auf der anderen Seite befangene Gesellschaft aufbrach, steht Friedenreich als Vorbote sozialer Modernisierung. Sein tadelloses Auftreten gepaart mit seiner sportlichen Extraklasse machten Fried zu einem exponierten Botschafter des Fußballs und zum leuchtenden Vorbild für alle Afrobrasilianer. Diese Stellung musste sich Fried gegen viele Widerstände erkämpfen.

Gummimann beerbt Tiger

Als legitimer Nachfolger des großen Arthur Friedenreich darf Leônidas da Silva angesehen werden, dem gelang, was Fried noch verwehrt wurde: Gegen den latenten bis offenen Rassismus seiner Zeiten durfte Leônidas als dunkelhäutiger Spieler sein Land bei Weltmeisterschaften vertreten und wurde zum ersten farbigen internationalen Fußballstar.

Die symbolische Wachablösung fand 1931 beim Finale der brasilianischen Meisterschaft statt. Die Auswahlmannschaft São Paulos, in der letzten Auflage Sieger in Rio de Janeiro, wurde angeführt vom in die Jahre gekommenen Kapitän Arthur Friedenreich. Auf der Gegenseite stand Botafogos Stürmerstar und Teilnehmer der WM 1930 Nilo Murtinho Braga im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Auf den weißen Star, der mit seinem Team zweimal die Carioca, die Meisterschaft Rios gewonnen hatte, richteten sich die Hoffnungen der auf Revanche sinnenden Fans der damaligen Hauptstädter.

Das Finale des Vereinsfußballs Brasiliens gewann besondere Brisanz aus den politischen Spannungen zwischen der Zentralregierung in Rio de Janeiro und den Modernisierern aus São Paulo, die sich schließlich in den revolutionären Auseinandersetzungen 1932 entladen sollten.

Die Erwartungen der Cariocas erhielten einen herben Dämpfer, als bekannt wurde, dass kurzfristig Torjäger Nilo ausfallen würde. Kenner des Hauptstadtfußballs forderten die Nominierung eines gerade 18-jährigen Talents namens Jose Leônidas da Silva vom damals wie heute relativ unbedeutenden Klub Bonsucesso FC, einem Kiezklub aus dem Norden Rios. Der junge Stürmer war als Sohn eines portugiesischen Seefahrers und einer afrobrasilianischen Mutter geboren worden und hatte es trotz seines unbestrittenen Talents wegen seiner dunklen Hautfarbe schwer, bei einem der großen Klubs anzuheuern. Obwohl der junge Mann, dessen Eltern sich eigentlich gewünscht hatten, er solle Medizin studieren, im Vereinsfußball noch keinen persönlichen Titel oder einen nennenswerten Mannschaftserfolg vorzuweisen hatte, setzte der Coach der Auswahlmannschaft tatsächlich kurzfristig auf den Jungspund.

Debüt mit dicken Bohnen

Der unbedarfte Teenager hatte am Vortag nicht den Hauch einer Ahnung, dass er im ausverkauften Stadion São Januário im Endspiel auflaufen sollte und bereite sich dem Verantwortungsgefühl seines Alters gemäß vor: Er hatte die Nacht trinkend und tanzend auf einer Party verbracht, die sportliche Vorbereitung bestand in einem lustigen Kick mit Kumpels in den Morgenstunden. Völlig übernächtigt machte sich Leônidas zum Lager der Mannschaft auf und war froh sich dort ein gewaltiges Katerfrühstück gönnen zu können. Einen großen Bohneneintopf später war der junge Mann bereit, sich das Finalspiel anzuschauen. Doch seine Tagesplanung stellte sich jäh als Makulatur heraus, als ihm der Auswahlcoach mitteilte, er solle als Mittelstürmer den großen Nilo ersetzen. Angesichts seiner augenblicklichen Verfassung setzte anstelle der Vorfreude auf das Debüt auf großer Bühne Panik ein. Doch es half nichts, die schwere Bürde, verkatert und vollgefressen den großen Hoffnungsträger seines Staates zu ersetzen, musste er tragen.

In der ersten Halbzeit war dem jungen Mann die Nervosität deutlich anzumerken, doch zu seinem persönlichen Glück konnte und musste er sich den Kater und die Aufgeregtheit aus den Beinen laufen, die Auswechslung war schließlich noch nicht erfunden. In Durchgang zwei begann der aufgehende Stern des Jungstars zu leuchten. Leônidas erzielte zwei Treffer und bereitete ein weiteres Tor vor.

Der bis dato vornehmlich nur Kennern bekannte Spieler schoss sich ins Rampenlicht und sein Team zum Titel. Nach dem Abpfiff gratulierte der große Mann des brasilianischen Fußballs, der König der Könige, Arthur Friedenreich, symbolträchtig dem jungen Leônidas. Die Fackel der Entwicklung des brasilianischen Fußballs und in ihr der Emanzipation der farbigen Brasilianer schien übergeben.

Leônidas war nun in aller Munde. Bei seinem Verein Bonsucesso hatte er ein ideales Umfeld für die eigene Entwicklung gefunden. Der kleine Klub hatte aus der Not eine Tugend gemacht und ein Team um junge Talente, unabhängig von deren Hautfarbe, aufgebaut. Dort hatte der junge Leônidas erste Akzente gesetzt. Nach seiner Sternstunde im Finale der Brasilianischen Meisterschaftskämpfe stand Leônidas nun die Welt der großen Klubs offen.

Brasilien baute nach der vergeigten Weltmeisterschaft 1930, der Titel ging an den kleinen Nachbarn Uruguay, eine neue und junge Generation in die Seleção ein, der seit 1932 auch Leônidas angehörte.

Immer wieder Uruguay

Auch in der Auswahlmannschaft sorgte Leônidas für Furore. Die umformierte Seleção trat in einem sehr prestigeträchtigen Freundschaftsspiel im ausverkauften Estadio Centenario gegen die Celeste des Weltmeisters an. Mit zwei Treffern trug Leônidas zum moralisch wichtigen Sieg Brasiliens bei. Dennoch sorgte der neue Hoffnungsträger ein Jahr später für einen Tabubruch.

 

Da infolge der Bürgerkriegswirren der Fußball zurückstand und zudem Brasilien über keine Profiliga verfügte, wechselte Leônidas im Alter von gerade zwanzig Jahren ins Ausland. Ausgerechnet Peñarol Montevideo, der Hauptstadtklub in der uruguayischen Profiliga wurde 1933 seine sportliche Heimat. Der Wechsel des Jungstars ins Nachbarland und somit in die Liga eines kontinentalen Konkurrenten mag zum endgültigen Entschluss beigetragen haben, endlich auf Ebene der brasilianischen Staaten offene Profiligen ohne die Verbands-Streitigkeiten aus Amateurzeiten einzuführen.

Tatsächlich kehrte nach einjährigem Gastspiel Leônidas in die Heimat zurück. Seine Stationen hießen Vasco da Gama, SC Brasil und Botafogo, bis der Wandervogel schließlich für eine längere Periode bei Flamengo anheuerte.

Die WM 1934 hätte zum Schaulaufen der jungen Seleção werden sollen, doch nach den Revolutionswirren und der erst kürzlich erfolgten Einführung des Profifußballs präsentierte sich Brasiliens Auswahl wenig gefestigt. Neben Argentinien vertrat lediglich Brasilien die Fußballehre Südamerikas. Weltmeister Uruguay nutzte das Turnier, um sich für die mangelnde europäische Beteiligung am heimischen Turnier 1930 zu revanchieren, indem man nun seinerseits nicht antrat. Die verbliebenen südamerikanischen Mannschaften konnten bei dem Turnier in Italien allerdings wenig glänzen. Sowohl Argentinien als auch Brasilien schieden in den Endkämpfen, die komplett im K.O.-Modus ausgetragen wurden, bereits im ersten Spiel aus. Brasilien zog mit 1:3 gegen das ungesetzte Spanien den Kürzeren, der Treffer von Leônidas blieb nicht mehr als eine Fußnote.

Fußball-Fahrrad

Obwohl Leônidas mit Flamengo in fünf Jahren nur einmal Staatsmeister Rio de Janeiros wurde, wuchs der Ruhm des Stürmers unaufhaltsam. Unter brasilianischen Fußballfans firmierte der Stürmer unter dem bildhaften Kampfnamen „Gummimann“, da er für seine fantastische Geschmeidigkeit und tänzerische Gewandtheit berühmt war. Als Erfinder des Fallrückziehers wurde er zudem gefeiert, obwohl Leônidas selbst nicht müde wurde zu versichern, er habe sich die spektakuläre Schusstechnik bei seinem Landsmann Petronilho de Brito in einem Trainingsspiel abgeschaut. Tatsächlich wurde der Fallrückzieher durch den Chilenen Ramon Unzaga erfunden, der ihn 1927 bei einer Spanienreise seines Teams vorführte, weshalb die vielleicht spektakulärste Art des Torschusses umgehend „la chilena“ getauft wurde. Leônidas gebührt der Verdienst, den Fallrückzieher zu technischer Perfektion inklusive Scherenschlag der Beine und zu großer Bekanntheit als eigenes Markenzeichen gebracht zu haben. Der Beinbewegung beim Scherenschlag wegen nennt man diese Schusstechnik in Brasilien Bicicletas, den Bicycle-Kick.

Schwarzer Diamant

1938 sollte die Seleção bei den Titelkämpfen in Frankreich mit einer eingespielten Mannschaft um ihren Superstar Leônidas die Misserfolge der Turniere von 1930 und 1934 vergessen machen. Bereits vor dem ersten Spiel gegen die zwar nicht gesetzten, aber für ihren athletischen Fußball dennoch gefürchteten Polen überschlug sich die europäische Öffentlichkeit vor Neugier. Leônidas war sein Ruf als Fußballstar, als unberechenbarer Gummimensch vorausgeeilt. Seinem persönlichen Nimbus war sicher auch seine frühere Affäre mit der jungen und als „Divina“ bekannten Sängerin und Schauspielerin Elizete Cardoso nicht abträglich, die auf Wunsch ihres Vaters beendet wurde. Dieser wollte keinen Fußballer als Schwiegersohn; ob der Vater der Göttlichen diese Entscheidung nach dem Weltturnier 1938 bereut hat, ist nicht bekannt.

Leônidas war der exponierte Offensivstar der Mannschaft, die als „Großer Favorit aus Übersee“ (Fußball-Woche) gehypt wurde. Die Presse stilisierte das Match Brasiliens gegen Polen zum Kampf der Fußballstile. Le Jour sah in diesem Aufeinandertreffen die Frage „Kunstfertigkeit oder Stoßkraft?“ artikuliert, Football orakelte martialisch stabreimend: „Zerreißt Polen-Punch Brasiliens Fußball-Filigran?“

25.000 Zuschauer fieberten im Stade de la Meinau von Straßburg dem Spiel an einem sonnigen Pfingstsonntag entgegen. Was die Menge anschließend zu sehen bekam, ging als eines der legendärsten Spiele in die Geschichtsbücher des Weltfußballs ein.

Die erste Halbzeit geriet zu einem glanzvollen Schaulaufen der Brasilianer, die sich auf ihren, in Uruguay „Diamante Negro“ getauften, Mittelstürmer Leônidas verlassen konnten. Der feingliedrige, kleine Stürmer erzielte das 1:0 selbst und war Mittelpunkt der zahlreichen brillanten Angriffszüge, die das 3:1 zur Halbzeit sicherten. Niemand gab mehr einen Pfifferling auf die hilflosen Polen, die dem brasilianischen „Traumfußball, so reich an Arabesken und kunstvollem Dekor, dass er sich ansah wie Florentiner Filigran-Schmuck“ (Sportreporter Federico da Sil) nichts entgegenzusetzen hatten. Doch Polska hatte einen unerwarteten Verbündeten: In der Pause öffnete Petrus alle zur Verfügung stehenden Schleusen und es ging ein epischer Sturzregen über Straßburg nieder. Die Halbzeit musste wegen der völligen Überflutung des Spielfeldes um 30 Minuten verlängert werden. Es goss beim Wiederanpfiff immer noch in Strömen, doch immerhin hatte der Rasen die größten zusammenhängenden Wasseransammlungen aufgenommen. Auf dem nun völlig morastigen Geläuf schlitterten die Brasilianer, solche Bedingungen nicht gewohnt, wie betrunkene Schlittschuhläufer durch die Gegend und mussten mit ansehen, wie der mit weit weniger klangvollem Fußballflair ausgestattete Ernst „Ezi“ Willimowski durch zwei Tore ausglich.

Torjägerduell

Wutentbrannt suchte Leônidas nach einer Lösung für die fatalen Standschwierigkeiten und erinnerte sich seiner Kindertage, als das Fußballspielen barfuß und mit ausgestopften Strümpfen improvisiert wurde. Konsequent zog er auf dem Feld Schuhe und Strümpfe aus und schleuderte diese nutzlosen Werkzeuge vom Spielfeld. Der Legende, er habe barfuß weitergespielt, muss widersprochen werden, dies verhinderte der FIFA-Beauftragte Karl Lotsy. Die Zuckerhutkicker mussten die Stiefel wieder schnüren und bald hatte auch Polens Petri Heil ein Ende, der Regen ließ nach.

Die Brasilianer fanden ihren Rhythmus wieder und Peracio erzielte in der 72. Minute aus vollem Lauf mit seinem zweiten Treffer das 4:3. Nun wähnten sich die Brasilianer in Sicherheit und als das Spiel dem Ende entgegenging, mochte nach diesem aufregenden Schlagabtausch auch mancher Zuschauer durchatmen. Doch die letzte Pointe hatte dieses faszinierende Match noch nicht geschrieben. In der 88. Minute sprintete „Ezi“ Willimowski in einen verunglückten Pass Afosinhos, wurstelte sich mit letzter Kraft durch zwei brasilianische Abwehrspieler und schoss das nicht mehr für möglich gehaltene 4:4.

Die Verlängerung wurde zum furiosen Finale der Leônidas-Gala. Noch in den ersten fünfzehn Minuten schoss der Gummimann zwei Tore.

Um diese Treffer ranken sich nicht nachprüfbare Legenden, deren Quintessenz lautet, dass Leônidas zumindest eines der Tore ohne Schuh erzielt habe. Die offiziellen Seiten der FIFA geben keinen klaren Aufschluss und widersprechen sich in der Sache: Einmal ist die Rede von „einer netten Geschichte“, die besage, der Treffer zum 5:4 sei „angeblich“ nach Verlust eines (!) Schuhs barfuß erzielt worden, an anderer Stelle heißt es: „Leônidas erzielte drei Tore, einschließlich des letzten Treffers, der eine Besonderheit aufwies: Er erzielte ihn ohne Schuh.“ Da es an gleicher Stelle weiter heißt: „Seine Schuhe (!) waren zuvor im tiefen, vom Regen aufgeweichten Boden steckengeblieben“, darf gerätselt werden, ob der gute Leônidas überhaupt noch irgendwelches Schuhwerk am Leib trug. Vermutlich waren seine Treter einfach so mit Schlamm überzogen, dass diese mit bloßem Auge nicht mehr von den ebenfalls schlammigen Stutzen zu unterscheiden waren und sich so die Legende bildete. Man möge sich also nicht leichtfertig allzu abfällig über die heute modisch angesagten Fußballstiefel in Neon-Pink äußern.

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