Samba tanzt der Fußballgott

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Wohlhabende Amateure

Der verpflichtende Amateurstatus erfüllte eine nicht unwesentliche Funktion bei der Aussperrung der schwarzen Unterschicht vom weißen Fußball. Indem der Fußball als Einnahmequelle per Satzung eliminiert wurde, konnten nur Spieler zu den Teams finden, die auf alternativem Weg Geld verdienten. Anständig bezahlte Lohnarbeit, die nebenbei Zeit für Hobbys ließ, war jedoch für die meisten farbigen Brasilianer kaum erreichbar und so konnten diese nicht im Fußball reüssieren. Dieser gezielte Ausschluss sollte der Sorge Vorschub leisten, es könnten sich farbige Angehörige der Unterschicht finden, die am Ende gar die weiße Oberschicht in ihrem Gentlemen-Spiel übertrumpften. Es bedurfte der Erfahrung einer ehemals als Kolonialmacht herrschenden und nun selbst herabgesunkenen Bevölkerungsgruppe, um das britische Fußballkartell zu sprengen: Die Portugiesen in Brasilien, längst selbst eine sozial marginalisierte Randgruppe aus eng zusammengerückten Handeltreibenden, gründeten in Rio 1915 die Fußballabteilung ihres Sportclubs Vasco da Gama, benannt nach dem portugiesischen Seehelden. Um die Vormacht der großen Clubs in Rio zu brechen, verpflichteten sie Fußballer aller sozialen Schichten und Hautfarben – einfach nach deren Leistungsvermögen.

Um die Amateurklausel zu umgehen, bekam jeder Spieler irgendeine Arbeit in den Läden der Vereinsoberen zugewiesen. 1923 stieg die Mannschaft in die erste Liga der Region Rio auf und besaß die Frechheit, mit einer Mannschaft, in der drei Schwarze und ein Mulatte spielten, auf Anhieb Meister zu werden. Auf dieses als gänzlich unwürdig empfundene Gebaren reagierten die arrivierten Clubs Rios mit der Gründung einer eigenen Liga, in der Vasco nicht mitmischen durfte. Doch angesichts der enormen Beliebtheit der Mannschaft musste der Club auf Druck der Massen wieder in den Spielbetrieb aufgenommen werden.

Nenn mich „Silva“

Die weißen Großklubs ersannen eine neue List, um die Spieler der Unterschicht aus dem Fußball zu drängen und den multiethnischen Rivalen zu schwächen: Neue Vorschrift wurde, dass alle Spieler ihren Namen selbständig auf dem Spielberichtsbogen eintragen mussten. Vasco verfügte mit seinen zahlreichen armen Spielern über die größte Zahl an Analphabeten. Doch abermals zeigte sich der Verein couragiert im Aushebeln der diskriminierenden Regelungen und schickte die gesamte Mannschaft in einen eigens organisierten Lese- und Schreibunterricht. Bei Spielern, deren Name allerdings zu lang oder kompliziert war, als dass der bildungsferne Kicker ihn hätte schreiben können, half leider nichts. Der Name musste also kurzerhand geändert werden, Vasco lief bald mit einigen Spielern auf, die allesamt auf den einfachen Namen „Silva“ hörten.

Vor so viel Erfindungsgeist fürchteten die Großclubs kapitulieren zu müssen und entschlossen sich daher, auch den Besitz eines eigenen Stadions für jeden Club vorzuschreiben. Die Portugiesen sammelten, wild entschlossen, sich auch von dieser Schikane nicht den Ball vom Fuß nehmen zu lassen, unter den Mitgliedern ihrer Gemeinde Geld. Die Solidarität war so groß, dass Vasco bald genug Geld beisammen hatte, um mit dem São Januário das damals größte Fußballstadion Brasiliens zu bauen. Auf diesem Weg gelang es dem Club, den verbindlichen Amateurstatus ins Wanken zu bringen.

Als die europäischen Profiligen in den 1930er-Jahren begannen, Spieler aus Lateinamerika abzuwerben, wurde die Einführung von Profiligen unumgänglich. 1933 führten Rio und São Paulo Profiligen ein, die Menschen aller Hautfarben und sozialer Herkunft offenstanden. In Rio schickte der Club Bonsucesso gleich elf schwarze Spieler in die Auftaktsaison. Fußball war nun Massensport. Den verbohrtesten Anhängern der weißen Oberschicht blieb nur Kricket.

Schwarze Vorkämpfer – Friedenreich und Leônidas

„Die Neger scheinen Schädel wie Kokosnüsse zu haben.“ F. Richter im Magazin Fußball

„Die Brasilianer spielen Fußball, als wäre es ein Tanz. Das ist wahrscheinlich der Einfluss derjenigen Bewohner, die afrikanisches Blut in sich haben oder deren Kultur vorwiegend afrikanisch ist, denn sie neigen dazu, alles, Arbeit ebenso wie Spiel, in einen Tanz zu verwandeln.“ Gilberto Freyre in New World in the Tropics

Der Fußball unserer Tage artikuliert von offizieller Seite den Anspruch, ein Völker verbindendes und Rassismus überwindendes Spiel und kulturelles Ereignis zu sein. Kaum ein internationaler Vergleich auf Nationalmannschafts- oder Vereinsebene kommt ohne Werbespots oder symbolische Bekundungen im Stadion gegen Rassismus aus. Unbestritten ist gewiss auch, dass das Fußballspiel mit seinen recht simplen Regeln und dem weit gefächerten Spektrum unterschiedliche persönliche Stärken in den Mannschaftssport einzubringen, einen Möglichkeitshorizont darstellt, soziale Schranken auf dem Spielfeld verschwinden zu lassen und ein heterogenes, gelingendes Kollektiv zu bilden.

Die Tatsache jedoch, dass es für nötig befunden wird, einen enormen Werbeaufwand gegen rassistische Tendenzen zu betreiben, mag ein indirekter Hinweis darauf sein, dass auch die Fußballszene nicht per se frei ist von diskriminierendem Denken. In Zeiten der medialen Fokussierung auf diesen Weltsport besteht zum einen eine große soziale Verpflichtung, der es gerecht zu werden gilt; zum anderen dienen Exzesse im Umfeld des Fußballs dazu, von gesellschaftlichen Problemen abzulenken, den Fußball entlastend allein zu stigmatisieren. Im brasilianischen Fußball ist die politische Dimension des heißen Stadt-Derbys zwischen Flamengo und Fluminense, kurz Fla-Flu, bezeichnend. Während Fluminense seit je der Klub der wohlhabenden Oberschicht war, stehen die breiten Massen auf Seiten Flamengos. Sigurd Jennerjahn beschrieb in der Jungle World exemplarisch, welche politische Brisanz das Derby anlässlich der Kongresswahlen des Präsidentschaftskandidaten 1984 erfuhr: „Eine Spielerdelegation von Fluminense machte dem noch amtierenden Diktator und bekennenden Fluminense-Anhänger Figueiredo ihre Aufwartung und bei dieser Gelegenheit gleich ein Foto mit dem rechten Präsidentschaftskandidaten Paulo Maluf. Am folgenden Tag sprachen sich Vereinsführung und Anhang von Flamengo für den Gegenkandidaten Tancredo de Almeida Neves aus und machten aus dem Spiel eine politische Demonstration für diesen.“

Der Fußball ist ein Spiegel der Gesellschaft und trägt in sich die Möglichkeit, Menschen zu versöhnen, wie er eine Bühne darstellt, Aggressionen und Rassismus auszuleben. Man wird dem Sport weder gerecht, wenn man ihn als Lösung aller Probleme, noch als dessen Ursprung betrachtet. Die Wurzeln gesellschaftlicher und rassistischer Konflikte liegen leider tiefer, als dass ein einfaches Ballspiel im Guten wie im Schlechten verantwortlich zu machen wäre.

Die Geschichten der ersten farbigen Fußballstars Brasiliens erzählen vom Fußball, als einem Sport, in dessen Strukturen sich die ungeschriebenen Gesetze und Realitäten der Gesellschaft abbilden, zugleich aber auch davon, wie es mutigen und unbeirrten Sportlern gelingen kann, symbolische Impulse zu setzen, die größere Entwicklungen in Gang bringen.

Schwarz oder Weiß?

Der erste große Star des brasilianischen Fußballs trug den für die an kurze Künstlernamen gewöhnten Fußballliebhaber Brasiliens äußerst unschön klingenden Namen Arthur Friedenreich. Dass dieser deutsch klingende Name kaum zum Ausbau einer Marke taugt, mag zu dessen weitgehender Vergessenheit beigetragen haben. Ebenso natürlich die Tatsache, dass Friedenreich zu einer Zeit glänzte, als es noch keine Massenmedien gab, die das kollektive Gedächtnis prägten. Es ist eine weite historische Distanz, die uns von dem Fußball zu Friedenreichs Zeit trennt; für „Fried“ selbst war es ein langer Weg ins große Fußballgeschehen und bis zur Anerkennung seiner Qualitäten.

Arthur Friedenreich kam im Jahr 1892 auf die Welt, vier Jahre, nachdem Prinzessin Isabella auf Geheiß ihres Vaters Pedros II. das „Goldene Gesetz“ unterzeichnet hatte, das die Befreiung der Sklaven verordnete. Nur ein Jahr später hatte die Familie Kaiser Pedros II. aus dem Land fliehen müssen, als sich die liberale Partei in ihrem Streben nach einer republikanischen Verfassung mit den ursprünglich kronloyalen Konservativen gemeinsam gegen die Herrschaftspolitik des Kaisers wendete. Es war Pedro II. nicht gelungen, den Spagat zwischen Zugeständnissen an die wachsende liberale Bewegung und dem Erhalt der Loyalität der konservativen Grundbesitzer und Sklavenhalter zu bewältigen. Der Putsch brachte 1889 die Ausrufung der Republik.

Eine materielle oder soziale Aufwertung der ehemaligen Sklaven war mit ihrem neuen Bürgerstatus nicht verbunden. Da die unzähligen farbigen Leibeigenen über keinen Zugang zur Bildung verfügt hatten, blieb ihnen größtenteils nichts anderes übrig, als zu Hungerlöhnen bei ihren ehemaligen Herren anzuheuern und zu Zeiten, da keine Erntesaison war, als Tagelöhner in die Städte zu ziehen, wo die beginnende Industrialisierung Humankapital erforderte.

Doch für den Händler Oscar Friedenreich bedeutete der neue Bürgerstatus der afrobrasilianischen Bevölkerung einen ganz persönlichen Vorteil. Dessen Vater Carl war nach seiner Verwicklung in die 1848er-Revolution vom brandenburgischen Dahme 1850 nach Brasilien ausgewandert und hatte sich in die deutsche Kolonie in Blumenau im Staat Santa Catarina eingegliedert. Für die Kolonie warb die brasilianische Regierung aktiv neue Siedler an, sollten doch diese bisher unerschlossene Gebiete zugänglich machen. Da die Regierung sich mit Infrastrukturmaßnahmen jedoch auf die Zentren São Paulo und Rio de Janeiro konzentrierte, waren die deutschen Siedler und die Bürger Santa Catarinas bald gegen die kaiserliche Politik gestimmt. Zudem gab es in dem südöstlichen Staat kaum Sklaven, sodass die Freude über die Ausrufung der Republik groß war.

 

So auch bei Oscar Friedenreich, der in den 1880er-Jahre sein Glück in São Paulo suchen wollte und dort seine spätere Frau Matilda kennen und lieben gelernt hatte. In der neuen Republik genoss Matilda nun Bürgerrechte und die beiden konnten heiraten. 1892 kam Arthur in São Paulo auf die Welt, als Kind eines Weißen und einer Schwarzen. Nicht nur die Ehe der Eltern darf als zu dem Zeitpunkt relativ ungehörig angesehen werden, auch Arthurs Äußeres als „Mulatte“ verschloss ihm zunächst viele Türen.

Die Bevölkerungsexplosion São Paulos in Folge von Landflucht und Industrialisierung brachte einen neuen wirtschaftlichen Kolonialismus mit sich. Für die rasch wachsende Großstadt wurde ein öffentliches Nahverkehrssystem und ein Ausbau der Infrastruktur nötig. Das Know-how und Material kam zusammen mit den Ingenieuren und deren Familien aus Großbritannien. Rasch bildete sich eine wohlhabende und große britische Gemeinde, die es vorzog unter sich zu bleiben und möglichst vollständig die Annehmlichkeiten und kulturellen Praktiken des britischen Königreichs in São Paulo nachzuahmen.

In den elitären Sportstätten der britischen Oberschicht frönte man dem Kricket sowie – zunächst als Pausenfüller – dem Football und veranstaltete Radrennen. Arthur wuchs unweit des Velodroms auf, in welchem zur Jahrhundertwende bereits der Fußball durch seinen wachsenden Zuspruch die Radrennen abgelöst hatte. 5.000 Zuschauer der Oberschicht besuchten die dort ausgetragenen Spiele und auch der kleine Arthur träumte sich in den Fußballtempel, an dessen Tür ein Schild mit der Aufschrift „Schmährufe verboten!“ die britische Zurückhaltung zur Raison der feinen Herrschaften erklärte.

Der kleine Arthur besuchte zu der Zeit das Mackenzie College, dessen Herrenmannschaft sich 1902 die Stadtmeisterschaft sicherte, angeführt von Kapitän und Torschützenkönig Charles Miller. Es wäre Arthur aufgrund seiner gemischten Hautfarbe normalerweise unmöglich gewesen, Aufnahme auf das College zu finden, doch Vater Oscar ließ seine Beziehungen als Händler in die wohlhabenderen Gesellschaftskreise spielen, sodass sein Sohn als erster farbiger Schüler das College besuchen konnte.

Dribblings zwischen Stadion und Friedhof

Dort mit dem Fußballvirus infiziert reduzierte Arthur das Lernen aufs Nötigste und jagte in jeder freien Sekunde dem Ball nach. Arthur spielte in der Schule mit den Mitschülern Fußball im Schulsport und wurde bald aufgrund seines Talents durch die Auenmannschaft Bexiga eingeladen, an deren inoffiziellen Vereinsspielen teilzunehmen. Körperlich konnte der schmächtige Junge mit den Erwachsenen kaum mithalten und kultivierte deshalb seine größte Stärke, die Wendigkeit und tänzerische Leichtigkeit, umso mehr.

Seine Fähigkeit zu blitzschnellen Drehungen sicherte ihm nicht nur auf dem Fußballfeld das Überleben. Eines Nachmittags, so gibt Martin Curi in seiner verdienstvollen Friedenreich-Biografie eine der Lebenslegenden um den Sportler wieder, kickte Arthur mit einigen Freunden auf der Straße, als Ball diente ein ausgestopfter Strumpf. In der Rua Consolação spielten die Kinder zwischen Stadion und Friedhof die Spiele ihrer großen Idole nach. Plötzlich raste ein Friedhofswagen aus einer Kurve und schoss direkt auf Arthur zu. Als seine Freunde schon den Atem anhielten, ließ dieser mit einer geschmeidigen Drehung wie ein Torero den Wagen knapp an sich vorbeischießen. Dabei klebte ihm der Strumpf eng am Fuß.

Man erzählte sich, dass Arthur in diesem Moment instinktiv seinen ersten für ihn typischen Trick entwickelte, der ihn später im Stadion glänzen ließ.

Der Wunsch des Jungen, endlich das Innere des Stadions zu Gesicht zu bekommen, wurde immer größer. Für den 31. Juli 1906 wurde ein Match zwischen einer São Paulo-Auswahl und einer englischen Auswahlmannschaft aus Südafrika angesetzt. Diesen internationalen Vergleich wollte Arthur so gern sehen, dass er sogar auf seine Nachmittagskicks verzichtete und im Haushalt mithalf, um seine Eltern gnädig zu stimmen. Doch da die Schulnoten ihres Sprösslings in letzter Zeit unter dessen Fußballleidenschaft zu sehr gelitten hatten, gaben sie nicht nach.

Arthur musste daher mit der „Live-Übertragung“ vorlieb nehmen, die Juwelier Clarc veranstaltete. Dieser hatte einen Angestellten verpflichtet, aus den Obergeschossen des Hauses ins Stadion hinüberzulugen und alle fünf Minuten die Ereignisse auf die Straße herunterzubrüllen. Nach verheißungsvollem Beginn ging die brasilianische Auswahl mit 0:6 gegen die englischen Gäste unter. Arthur beschloss für sich, als Spieler in diesem Stadion, in das er einfach nicht hineinkam, einst aufzulaufen und die Ehre Brasiliens wiederherzustellen.

Die Folge seines Schwurs war, dass Arthur sich noch entschlossener aufs Fußballspielen stürzte, worunter seine Noten weiter litten. Es schien, als habe der Junge, dem seine deutschen Wurzeln den Besuch des College und dessen dunkle Haut das Kicken in den Auen mit der armen Stadtbevölkerung ermöglichten, eine Entscheidung getroffen. Der Junge setzte derart auf die Karte Fußball, dass seinem Vater, auch angesichts der mangelnden Aussicht auf eine Qualifikation des Jungen für die Universität, nichts anderes übrig blieb, als diesen zu unterstützen. Vater Oscars Kalkül mag es gewesen sein, dass der Junge zufriedener sein und besser lernen würde, wenn er in einem offiziellen Verein spielen könnte. Talentiert war er zudem, was den Stolz des Vaters förderte. Daher entschloss sich Oscar Friedenreich, bei Hans Nobiling, dem deutschen Fußballpionier und Präsidiumsmitglied beim SC Germania für seinen Sohn vorzusprechen.

Hans Nobiling war sich zunächst unsicher, wie er den Antrag auf Aufnahme bewerten sollte: Einerseits konnte man den Jungen aufgrund der Herkunft des Vaters als Deutschen ansehen, andererseits spielten Menschen dunkler Hautfarbe in den Vereinen nur eine Rolle als Bedienstete, jedoch keinesfalls als Spieler in diesem auf Vereinsebene weißen Oberschichtensport. Fußballer durch und durch beschloss Nobiling, dass ein Probetraining den Ausschlag geben sollte. Wenn der Junge nicht zu arg talentiert wäre, brauchte man sich nicht den Kopf zu zerbrechen. Trainer Herrmann Friese jedoch riet nach dem Vorspielen dringend zur Aufnahme in den Verein und so wurde 1909 Arthur Friedenreich der erste farbige Spieler bei einem Eliteklub – im Alter von 16 Jahren.

Zwischen allen Stühlen

Doch das erhoffte Glück stellte sich für den Jungen, der unverschuldet schon immer zwischen allen Stühlen gestanden hatte, nicht ein. Das körperbetonte Spiel der kräftigen Deutschen behagte dem filigranen Jugendlichen ebensowenig wie die bornierte Art seiner Mitspieler. Weder auf dem Fußballfeld noch bei den krautigen Hindenburg-Geburtstagsfeiern auf dem Klubgelände fühlte er sich wohl. Vor den Spielen glättete Arthur, dem seine ethnische Herkunft Kummer bereitete, seine Haare mithilfe heißer Tücher und einer Menge Pomade, gelegentlich lief er mit Haarnetz auf. Unter Zuhilfenahme von Reispuder versuchte der junge Mann, seine vermeintlich zu dunklen Haare aufzuhellen. Doch sein Außenseiterstatus ließ sich auf diese Weise nicht aus der Welt schaffen. Nach einer Handvoll wenig erfolgreicher Einsätze wurde er in die zweite Mannschaft abgeschoben. Als der neu gegründete und weniger elitär geführte Klub CA Ypiranga 1910 in die erste Liga São Paulos aufstieg, wechselte Arthur mit anderen unzufriedenen Spielern der zweiten Mannschaft Germanias zum Liganeuling. Doch nach nur zwei Einsätzen in der ersten Erstligasaison kehrte er ratlos zu Germania zurück, wo ihm sein erstes Erstligator gelang und er auf dreizehn Einsätze mit vier Toren kam.

Doch Arthur Friedenreich schien seinen Platz im Team nicht recht zu finden und wechselte wiederum nach nur einer Saison zurück zur Herrenmannschaft seiner Schule Mackenzie. Im zweiten Spiel der Saison schoss der schmächtige Stürmer vier Tore beim 8:2 gegen sein Ex-Team Ypiranga und war über Nacht in aller Munde. Da kein Brasilianer mit seinem Nachnamen etwas anfangen konnte, wurde ihm sein erster Spitzname „Fried“ verliehen. Der Knoten war geplatzt, mit 16 Toren in elf Spielen wurde Arthur Torschützenkönig und erzielte nach seiner Berufung in die Auswahlelf São Paulos drei Tore in seinen fünf Spielen gegen internationale Teams.

1913 kehrte der nirgends Wurzeln schlagende Fried zu Ypiranga zurück und geriet in einen folgenschweren Konflikt auf höherer Ebene.

Dem Vorbild ihres Helden Arthur Friedenreich nacheifernd drängten immer mehr farbige Spieler aus den unteren Schichten in den Vereinsfußball. Dies war vielen Vereinsverantwortlichen ein Dorn im Auge. Wenn auch die farbigen Brasilianer auf dem Papier Bürgerrechte besaßen, so wollten die Eliten diese dennoch aus den Sphären des höheren und repräsentativen Lebens heraushalten. Zwischen dem immer stärker auf und abseits des Platzes dominierenden Athletico Paulistano und dem SC Germania entflammte ein Streit, der die schwelenden sozialen Konflikte der großstädtischen Gesellschaft spiegelte. Paulistano kämpfte massiv für die Aufrechterhaltung des Amateurideals, das ein intensives Trainieren der ärmeren Fußballer, die für ihren Lebensunterhalt hart Sorge zu tragen hatten, unmöglich machte.

Es kam zur Spaltung der Liga im Jahr 1913. In der neu gegründeten APEA spielten die wohlhabenden Amateurklubs um Paulistano und auch Frieds Ypiranga, in der bis 1917 bestehenden LPF die als die „drei Musketiere“ bezeichneten Klubs Americano, Internacional und Germania. Friedenreich war aufgrund seiner Tore und Ballkünste inzwischen auch in der Eliteliga akzeptiert, doch wer noch dunklere Haut besaß oder weniger talentiert war, dem blieben die Tore in jeder Hinsicht verschlossen.

Verbandschaos und Doppelmoral

Und auch der aufgehende Stern Friedenreichs blieb nicht vom Aufziehen düsterer Wolken verschont. Der Rassismus brasilianischer Prägung zeigte sich immer wieder in den Zusammenstellungen der Auswahlmannschaften, die São Paulo und Rio de Janeiro in den Kampf um die brasilianische Meisterschaft auf Landesebene schickten. Die zerstrittenen Vereine und Verbände auf Staatsebene trugen ihre Machtkämpfe um die Nominierung ihrer Spieler für die repräsentativen Landesmeisterschaften auf dem Rücken besonders der farbigen Spieler aus, die immer wieder, gerade danach, wie der politische Wind stand, als nicht vorzeigbar angesehen wurden. Auch mit der Gründung des zentralen Fußballverbandes auf Landesebene, der CBD, im Jahre 1916 änderte sich dieser Missstand nicht.

Arthur Friedenreich sammelte in den folgenden Jahren Meriten und glänzte immer wieder als Torjäger und Dribbelkünstler. Besonders mit seinen angeschnittenen Torschüssen, die auf schiefer Bahn ihren Weg ins Ziel fanden, sorgte er für Aufsehen und gilt als Erfinder des Effetschusses, des Torschusses auf gebogener Flugbahn. Woran es ihm jedoch sportlich fehlte, waren Titel.

Um diesem Missstand Abhilfe zu schaffen, wechselte Friedenreich 1917 zum Spitzenverein Athletico Paulistano. Der 1900 von vier Studenten gegründete Klub sollte formal allen echten Brasilianern offenstehen, für Ausländer gab es eine Quotierung. Bei den Vereinsmitgliedern sollte es sich um Amateure aus besseren Schichten handeln, was faktisch viele farbige Spieler ausschloss. Doch Fried hatte sich mit seiner Qualität längst einen Namen gemacht und mit seinem Wechsel begann die Ära des großen Erfolgs für Paulistano und Fried. Paulistano verteidigte mit Friedenreich im Sturm den im Jahr zuvor errungenen Meistertitel, Frieds erste Mannschaftstrophäe. In den folgenden zwei Jahren machte das Team das Tetracampeão perfekt. Die vier Meistertitel in Folge sind unerreicht, Arthur Friedenreich wurde in seinen ersten drei Spielzeiten jeweils Torschützenkönig der Liga. 1919 heiratete Arthur Friedenreich zudem seine Freundin Joana, mit der er bis zu seinem Tod 1969 zusammenblieb.

Der Tiger macht Beute

Auch international machte der Ausnahmekicker von sich reden. Im hochdramatischen Finale der Südamerikameisterschaft 1919 gegen Uruguay, für das nach einem Unentschieden im ersten Versuch ein Wiederholungsspiel angesetzt wurde, spielte Fried die Hauptrolle. Am 29. Mai trafen die beiden Erzrivalen nach dem 2:2 vier Tage zuvor erneut aufeinander. Dem 0:0 nach 90 spannenden Minuten folgte eine torlose Verlängerung. Nun war das Elfmeterschießen noch nicht erfunden und die Schiedsrichter etwas ratlos, was nun zu tun sei. Der Abpfiff des Spiels hätte ein erneutes Wiederholungsspiel nötig gemacht. Nach gründlicher Beratung beschloss man dem frenetischen Publikum eine zweite Verlängerung von 30 Minuten zu gewähren. In der 123. Minute, kurz nach Beginn der ersten Halbzeit der zweiten Verlängerung oder der fünften Sechstelzeit aufs Gesamtspiel bezogen, erzielte Arthur Friedenreich das umjubelte 1:0. Es dauerte mehrere Minuten, bis die Ordnungskräfte alle auf das Spielfeld geschleuderten Hüte eingesammelt hatten. Die Führung hielt bis zum Abpfiff und Fried wurde auf den Schultern der Fans durch das Stadion getragen. Die unterlegenen Uruguayer verneigten sich in großer Geste vor ihrem Bezwinger. Während der Jubelarien verfassten die Spieler der Verlierer eine Urkunde, die sie Arthur Friedenreich noch im Stadion überreichten. Der Inhalt lautete: „Wir, die Mitglieder der uruguayischen Nationalmannschaft, übertragen dem Herrn Arthur Friedenreich aufgrund seiner perfekten Leistung als Mittelstürmer bei dieser südamerikanischen Meisterschaft den Titel ‚El Tigre‘, der Tiger des Fußballs.“ Selten kam eine große sportsmännische Geste so notariell daher, doch der nächste Spitzname Arthur Friedenreichs war fortan etabliert.

 

Dieser erste internationale Triumph Brasiliens revolutionierte zudem das Zeitungswesen. Nie zuvor war eine Zeitung mit einer Abbildung auf dem Deckblatt erschienen, doch wenige Tage nach dem Finale verdrängte auf dem Cover der Tageszeitung A Noite ein lebensgroßes Foto von Frieds linkem Fuß, dem Siegtor bringenden Körperteil, die üblichen Bleiwüsten. Der Titel des Artikels lautete schlicht: „Der Goldfuß“. Ein findiger Juwelier witterte daraufhin eine gute Chance zur Werbung für sein Geschäft und stellte mit Friedenreichs Erlaubnis dessen Fußballschuh inmitten des Goldschmucks im Schaufenster aus.

Auf diese Weise brachte die Kontinentalmeisterschaft Fried gleich zwei Künstlersynonyme, denn „Goldfuß“ wurde er seitdem auch immer wieder genannt. Was die Auswahlmannschaften betrifft, war dieser Höhepunkt Arthur Friedenreichs zugleich der Wendepunkt seiner internationalen Karriere, die in der Folge dem außergewöhnlichen Könnens des Spielers unangemessen verlief.

Vereinsfreuden und Auswahlqualen

1920 fand in Rio ein kleines Turnier mit drei Mannschaften statt, bei dem Arthur Friedenreich seine Extraklasse demonstrierte. Da die Teams in Fluminense Rio de Janeiro, dem Team Brasil aus Pelotas und Paulistano aus São Paulo bestanden, nannte sich die Veranstaltung „Erste Brasilianische Fußballmeisterschaft“. Paulistano gewann diesen von den brasilianischen Verbänden nicht offiziell anerkannten Titel überlegen. Fried traf in den zwei Begegnungen viermal und sicherte sich auch 1921 die Torjägerkanone São Paulos.

Im darauffolgenden Jahr richtete die CBD zum ersten Mal eine offizielle Landesmeisterschaft aus, die besonders im Hinblick auf die im selben Jahr stattfindenden kontinentalen Landeswettkämpfe zum Laufsteg für die besten Spieler der Staaten des Landes werden sollte. Im Team São Paulos ragte Friedenreich als achtfacher Torschütze in vier Spielen heraus und wurde für die Kontinentalmeisterschaft berufen.

Alle Welt und auch Fried selber erwarteten für dieses Turnier neue Wunderdinge des Stürmerstars, doch der Wettbewerb verlief für Fried äußerst unglücklich. Im ersten Spiel verletzte sich der Goldfuß und kam erst im dritten Spiel wieder zum Einsatz. Nach dem 0:0 gegen Uruguay wurde der Stürmer erneut spielunfähig geschrieben. Hiermit war Arthur Friedenreich, der sich vollständig gesund fühlte und dem die rassistischen Motive bei der Auswahl und Bevorzugung von Spielern nichts Neues waren, nicht einverstanden. Er ließ sich von einem Arzt privat untersuchen und sprach mit der ausgestellten Gesundschreibung bei den Offiziellen vor. Diese nutzten den zivilen Ungehorsam des Spielers weidlich aus und bliesen die begangene Kühnheit, eine zweite ärztliche Meinung einzuholen, medial zu einer Revolte auf. Fried wurde öffentlich als eine Art Agent des Verbandes von São Paulo angeprangert, der die Integrität des in Rio beheimateten Landesverbandes CBD untergraben wolle. Es kam schlimm für Fried: Er wurde für drei Jahre aus der Seleção ausgeschlossen, für die infolge des öffentlichen Skandals um die Krankschreibung des Tigers nur noch Spieler aus dem Verband Rio de Janeiros berufen wurden.

Fortan konnte Friedenreich nur noch im Vereinsteam glänzen, was mit Meisterschaften und Auszeichnungen als bester Torjäger in Serie spektakulär gelang. Die legendäre Mannschaft um Arthur Friedenreich wurde international beobachtet und schließlich vom Pariser Klub Stade Français zu einem Fußballspiel eingeladen. 22 Spieler legten am 10. Februar 1925 im Hafen von Santos ab und begaben sich auf eine dreimonatige Abenteuerreise, auf welcher Arthur Friedenreich auch abseits des Platzes ungeahnte Talente offenbarte.

Auf Fußballkaperfahrt

Während der einmonatigen Überfahrt zockte Fried jeden seiner Mannschaftskollegen beim Pokern ab und ergriff, als vermutlich niemand mehr mit ihm spielen wollte, die Gitarre in einer spontan gegründeten Jazzcombo mit dem sprechenden Namen „Chaosquartett“. Nach der langen Überfahrt erlebnishungrig stürzten sich große Teile der Mannschaft ins Pariser Nachtleben. Nach zwei Wochen immer neuer Partyausflüge seiner Spieler verkündete der mitgereiste Vereinspräsident Antonio Prado den sofortigen Rauswurf samt Heimatverschiffung des nächsten Spielers, der nach 22 Uhr nicht im Hotel sei. Dieser unglückliche Jemand war Arthur Friedenreich. Prado wollte auch seinem Star gegenüber keine Gnade zeigen, Friedenreich bekniete den Präsidenten die ganze Nacht lang erfolglos.

Die bevorstehende Abreise des Stars sprach sich herum und die französischen Gastgeber mussten befürchten, ihren Fans nicht den sagenumwobenen Wunderstürmer aus dem fernen Brasilien präsentieren zu können. Die Aufregung war so groß, dass sich schließlich der brasilianische Botschafter einschaltete und bei Prado eine Begnadigung von Fried erreichte.

Vor den Augen des zukünftigen brasilianischen Präsidenten Washington Luis, des Botschafters und zahlreich anwesender französischer Prominenz trat Paulistano am 15. März 1925 im ausverkauften Stade Buffalo gegen eine französische Auswahlmannschaft an. Die französische Presse war zwar voller Neugier auf den exotischen Fußballbesuch, jedoch räumte man den körperlich unterlegenen Brasilianern im ungewohnten, kalten Pariser Wetter keine Siegchancen ein. Nachdem Paulistano die französische Selektion mit 7:2 vom Platz gefegt hatte, kannte die Begeisterung für das Team keine Grenzen, Paris Soir ernannte die Mannschaft aus São Paulo zu „Königen des Spiels“, die Sportreporter hoben Arthur Friedenreich aus dem Siegerteam hervor: Aus seiner Ernennung zum „König der Könige!“ resultierte sein dritter bleibender Spitzname: „El Rei“.

Die folgenden Spiele in Paris brachten mit dem 3:1 gegen Stade Français und dem 0:1 gegen Cette (heute: Sète) im schweren Schneegestöber eine gemischte Bilanz. Doch die Niederlage unter den ungewohnten Witterungsverhältnissen blieb die Einzige der gesamten Reise, die Fried und seine Mitspieler über Bordeaux und Le Havre nach Straßburg führte, wobei die Gegner auf allen Stationen das Nachsehen hatten. Die Pariser Zeitung Sporting hob besonders das geschickte Mannschaftsspiel des großen Einzelkönners Arthur Friedenreich hervor. Fried hatte sich vom unberechenbaren Dribbler früherer Jahre zu einem uneigennützigen Mannschaftsspieler mit gnadenloser Präzision vor dem Tor entwickelt. Nur wenn es der Sache diente, setzte er seine nach wie vor unwiderstehlichen Dribblings an.

Die nächste Station der Europareise der Paulistas bildete die Schweiz. Sowohl Auto Tour Bern, als auch eine eidgenössische Auswahlelf wurden besiegt, ein Schicksal, das auch der CA Rouen aus Frankreich teilte.