Samba tanzt der Fußballgott

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Pilgergänge und das Blau der Jungfrau

Die Kreativität, mit der Brasilianer alle Möglichkeiten ausloten, ihrem Verein zum Erfolg zu verhelfen, zeigt sich auch in den absurden Exzessen, die der Aberglaube hervorbringt. Im religiösen Synkretismus Brasiliens gehen der Katholizismus, die besonders in den letzten Jahren wachsenden evangelikalen Sekten, traditionelle Religionen wie Voodoo oder Candomblé und der „ganz normale“ Aberglauben tolle Bündnisse ein.

Traditionell beten Katholiken bestimmte Heilige an, um Beistand bei konkreten Lebensproblemen zu erhalten. Im Gegenzug geloben die Gläubigen symbolische Bußetaten zu vollbringen. In einem Land, in dem der Fußball im Gefühl der Menschen vielleicht das zentrale Lebensproblem ist, welchem man mit der allergrößten Hingabe begegnet, mag der Pilgergang Didis, der mit Brasilien 1958 und 1962 Weltmeister wurde und bürgerlich Valdir Pereira hieß, nicht überraschen. Im Jahr 1957 gelobte Didi öffentlich, dass er zu Fuß vom Maracanã-Stadion zum Klubhaus Botafogos wandern würde, wenn Gott seinem Team die Meisterschaft schenken würde. Ein kräftiges „Amen“ und den erteilten Segen des Fußballgottes später durfte Didi tatsächlich zu seiner Pilgerschaft antreten. Womit er nicht gerechnet hatte, war, dass ihn 5.000 Fans auf seiner Wanderung begleiteten. Als er am Klubhaus ankam, trug er nichts mehr am Leib als die Unterhose. Unterwegs hatten sich die Fans tatkräftig um Souvenirs bemüht. Vor der Weltmeisterschaft 1958 in Schweden verzichtete Didi auf öffentliche Schwüre.

Legendär ist der Wallfahrtsort Juazeiro do Norte im nordöstlichen Bundesstaat Ceará. Jedes Jahr pilgern zwei Millionen Menschen in die 250.000-Einwohner-Stadt. Die Legende des Ortes geht zurück auf das Jahr 1899, in welchem sich bei der Kommunion des legendären Priesters Cicero die Hostie im Mund einer Laienschwester in Blut verwandelt haben soll. Solch Wunderwerk lockt natürlich neben christlichen Pilgern auch den abergläubischen Fußballliebhaber an, der es für geraten hält, sich mit dem (Fußball-)Gott gut zu stellen.

Mittlerweile weist die Kultstätte einen Devotionalienraum auf, in welchem sich Tausende Exvotos, kleine Opfergaben, für erbrachte Gunst von oben befinden. Fans, Spieler und Vereinsfunktionäre aller sportlichen Ebenen legen im Fußballtempel Trikots, Schuhe, Fotos, Haarbüschel, Totems und allen erdenklichen symbolischen Krimskrams ab, der dort gesammelt wird. Der riesige begehbare Devotionalienschrein trägt den Namen „Raum der Wunder“. Dem Abergläubischen beweist jede der Gaben selbstverständlich das Gelingen der Anbetung. Neben dem Raum der Wunder werden im „Nippesbasar“ die Kultgegenstände nach einer pietätsvollen Inkubationszeit wieder verhökert. Die ehemals profanen Gegenstände kommen mit geheiligter Aura wieder in den Umlauf.

Von nicht weniger magischer Aura umgeben ist die Pilgerstätte Aparecida do Norte im Bundesstaat São Paulo. Deren Geschichte beginnt im Jahr 1717, als Fischer in einem Netz eine Terrakotta-Statuette der heiligen Jungfrau fanden. Der Erzählung nach füllte sich der kaum Wasser führende Fluss nach der Bergung der Aparecida („unverhofft Erschienene“) getauften Dame mit Fischen. Die heilige Unverhoffte wurde seit dem 19. Jahrhundert mit einem blauen Samtmantel behangen ausgestellt und für so zahlreiche Wunder verantwortlich gemacht, dass der stetig anschwellende Pilgerstrom im Jahr 1955 mit dem Bau der Basílica de Nossa Senhora Aparecida gleich die Errichtung des zweitgrößten katholischen Gotteshauses erforderlich machte.

Die sich bald ergebende Verbindung dieser Heiligen zum Fußball mag dem rational denkenden und säkularisierten Europäer absurd erscheinen, für Brasilianer ist sie es keineswegs. Im WM-Endspiel 1958 hatte Brasilien gegen Gastgeber Schweden anzutreten, welcher wie Brasilien in Gelb antrat. Die abergläubischen Spieler der Seleção waren wegen der Tatsache, dass man plötzlich auf die blauen Ausweichtrikots zurückgreifen musste, schwer beunruhigt. Kurz vor dem Anpfiff stürmte der Leiter der brasilianischen Delegation, Paulo Machado de Carvalho, in die Kabine und erklärte den Spielern, dass das Blau im Gegenteil ein gutes Zeichen von oben sei, denn die Aparecida trage schließlich auch: Blau.

In dem Moment, in welchem der Schlusspfiff den Sieg Brasiliens besiegelte, war auch die „unverhofft Erschienene“ als Nationalheilige in Sachen Fußball etabliert.

Genau wie in Deutschland gelten auch in Brasilien die Torhüter als die Abergläubischsten aller Spieler. Im Unterschied zu den Gepflogenheiten hierzulande – Deutschland ist für seine grundsolide ausgebildeten Torwächter berühmt – erwartet man in Brasilien vom Torhüter nicht, dass er einen grundsoliden und sachlichen Job macht und keine Patzer begeht. Brasilianische Torhüter stehen vor der Alternative als Aussätzige oder Heilige angesehen und behandelt zu werden. Barbosa, der unglückliche Torhüter des verlorenen Finales 1950, wurde zeitlebens als Totengräber Brasiliens diskriminiert; hingegen wurde Claudio Taffarel, der Weltmeistertorhüter von 1994, nach dem gehaltenen Endspiel-Elfmeter des Italieners Daniele Massaro in mehreren Songs als „Schutzengel Sankt Taffarel mit den wundersamen Händen“ besungen und geehrt. Vor dieser zugespitzten Erwartungskonstellation mag es kaum Wunder nehmen, wenn brasilianische Torhüter einen ausgeprägten Wunderglauben entwickeln und einen besonders guten Draht zum Fußballgott aufzubauen trachten. Exemplarisch für diese besonders prekär lebende Fußballspezies Brasiliens stand der Tormann Darci, der stets einige Minuten vor Spielbeginn sein persönliches Ritual aufführen musste, um sich sicher zu fühlen: Er dribbelte mit dem Ball im Mittelkreis einmal rund um den Schiedsrichter, kniete anschließend zum Gebet nieder, drosch danach einige Bälle ins leere gegnerische Tor, um schließlich, zwischen die eigenen Pfosten zurückgekehrt, seine Torlinie mit dem Fuß nachzuzeichnen und das eigene Tor auratisch zu versiegeln. Danach durfte es losgehen.

Botafogo und der magische Hund

Es war für Darci gewiss wichtig, seinem Beruf in einem Umfeld nachgehen zu können, in dem derartige Marotten auf Verständnis stießen. Die Grenzen dessen, was selbst für einen abergläubischen Menschen noch nachvollziehbar ist, lotete in den 1940er- bis 1950er-Jahren Carlito Rocha aus. Jener Rocha war Präsident des Klubs Botafogo aus Rio de Janeiro, was bedeutete, dass sein persönlicher Glaube an Rituale qua Amtsautorität den gesamten Klub in Atem hielt.

Als der Fahrer des Mannschaftsbusses einst in falscher Richtung in eine Einbahnstraße einbog und umkehren wollte, untersagte dies der Präsident persönlich umgehend: „Botafogo geht niemals rückwärts. Das bringt Unglück.“ Für die Spieler bedeutete dies, dass sie den Weg zum Stadion zu Fuß fortsetzen mussten. Sollten die Kicker beabsichtigt haben, auf dem Fußmarsch zum Stadion ihre Fußballschuhe einzulaufen, so hätten sie in ihren Tretern Zettel mit den Namen ihrer jeweiligen Gegenspieler vorgefunden. Der Präsident präparierte die Schuhe seiner Angestellten am Tag des Spiels dergestalt, dass das Herumtrampeln auf den kleinen, die Gegner verkörpernden, Voodoo-Zetteln deren Aura negativ beeinflussen sollte. Unterstützend wurden die Vorhänge im Botafogo-Klubhaus vor jedem Spiel zusammengeknotet, eine symbolische Fesselung des Gegners.

Bei Auswärtsspielen verstreute der Präsident ein Kilo Zucker auf der Stadionmauer des Gegners. Die magische Wirkung des Zuckers lässt sich womöglich auf die frühere Sklavenarbeit der Afrobrasilianer in den Zuckerrohrplantagen zurückführen, die seit dem 17. Jahrhundert den Voodoo nach Brasilien gebracht hatten. Neben diesem Schadenszauber, den Präsident Rocha dem Gegner angedeihen ließ, führte er eine im Laufe der Zeit wachsende Zahl an Talismanen mit sich. Um diese beisammenhalten zu können, ließ sich der Präsident schließlich eine riesenhafte Sicherheitsnadel anfertigen, an der er sie nun gesammelt um den Hals tragen konnte. Der edlen Überlegenheit Botafogos angemessen wurde die im doppelten Sinn Sicherheit gebende Nadel aus Gold hergestellt.

Die Spieler Botafogos waren selbst vor körperlichen Übergriffen ihres Vereinsvorsitzenden, natürlich im Dienste der gemeinsamen guten Sache, nicht sicher. Um zu verhindern, dass seine Spieler vergiftet werden konnten, bereitete der Präsident den Spielern das Essen eigenhändig vor. Ist über die Kochkünste Senhor Rochas nichts bekannt, so ist doch überliefert, dass dieser seine Finger beim Kochen im Haar des ihm jeweils nächststehenden Spielers reinigte.

Was im Verdacht stand, auf irgendeine geheimnisvolle Weise Botafogos Erfolg zuträglich zu sein, wurde gnadenlos durchexerziert. Und selbstverständlich auch vice versa: 1945 träumte der Botafogo nahestehende Sportjournalist Geraldo Romualdo da Silva, dass der Klub im nächsten Spiel über ein Unentschieden nicht hinauskommen würde. Als Botafogo sogar das Spiel verlor, wurde umgehend angeordnet, den somnambulen Unglücksraben vom Träumen abzuhalten. Wie dies zu bewerkstelligen war? Ganz einfach: Die Vereinsführung buchte dem Journalisten am Abend vor den Spielen einen Platz im besten Kasino der Stadt, Angestellte des Klubs holten diesen zur Sperrstunde ab und unterhielten den Journalisten ununterbrochen bis zum Spielbeginn. Mit Schlaf war es in dieser Saison nichts für da Silva, zumindest nicht am Wochenende.

Galt Carlito Rocha infolge derartiger Exzesse 1948 als der abergläubischste Vereinsboss Brasiliens, so führte ihm der Zufall in jenem Jahr seinen kongenialen Partner zu, mit dem gemeinsam Carlito Rocha fortan das legendärste Tandem in der Geschichte sportlichen Aberglaubens bildete: Biriba, einen Promenadenmischling von magischer Prominenz.

Das Debüt des berühmtesten Vierbeiners der Fußballhistorie fand in einem an sich unspektakulären Rahmen statt. Einem Ersatzspieler Botafogos namens Macaé war der herrenlose Straßenköter zugelaufen, just an einem Tag, als Botafogos Reserve ein ansonsten recht bedeutungsloses Spiel gegen Bonsucesso, eine unterklassige Mannschaft aus Rio, austrug. Da Macaé auf die Schnelle nicht wusste, wohin mit dem Hund, nahm er diesen mit zum Spiel. Lange Zeit hielt der Hund brav neben der Ersatzbank aus, bis er plötzlich bei einem Angriff Botafogos wie von der Tarantel gestochen auf den Platz in Richtung gegnerisches Tor stürmte. Der Schlussmann Bonsucessos griff, durch die Tatsache irritiert, dass sich neben den gegnerischen Stürmern und dem Ball noch ein Hund in seinem Strafraum aufhielt, an einem harmlosen Schuss vorbei. Macaé mag zunächst im Boden versunken sein, da er auf sein neues Haustier nicht besser acht gegeben hatte, zumal bei diesem Testspiel der unberechenbare Präsident zuschaute. Doch in dem Moment da der Schiedsrichter das Tor gab, stand für Präsident Carlito Rocha eines fest: Diesen Hund hatte der Himmel geschickt. Der Botafogo gewogene Fußballgott hatte Gestalt angenommen – als schwarz-weiß gemusterter Bastard. Daran konnte kein Zweifel bestehen, schließlich trug der Hund in seinem Fell die Vereinsfarben.

 

Hatte Macaé zunächst mit einigem Ärger gerechnet, so durfte er sich stattdessen einer plötzlich eingetretenen und nachhaltigen Wichtigkeit für seinen Verein erfreuen. Zwar nicht als Spieler, so aber doch als persönlicher Betreuer des magischen Hundes, der innerhalb kürzester Zeit das Maskottchen des Vereins wurde. Biriba, so ordnete der Präsident an, hatte fortan jedem Botafogo-Spiel beizuwohnen.

Tatsächlich stellte sich unter Biribas Ägide ein deutlicher Aufwärtstrend der Mannschaft ein. Um die magische Wirkung des Hundes zu befördern, bekam Biriba vom Mannschaftskoch Botafogos auf Weisung Rochas vor jedem Spiel ein Festmahl zubereitet. Manche Spieler mochten munkeln, der Hund werde besser versorgt als sie selbst, doch der Erfolg gab Carlito Rocha recht, wenn man auch nicht von einem wissenschaftlich validen Kausalzusammenhang sprechen konnte.

Biriba war bald nicht mehr nur als Glücksbringer wichtig, in engen Partien kam der Hund auch zu spektakulären Sondereinsätzen: Drohte ein Spiel zuungunsten Botafogos zu kippen, ließ Präsident Rocha den munteren Mischling aufs Feld jagen. Nach der nötigen Spielunterbrechung, um den Hund einzufangen, fand der Gegner nicht selten nicht mehr zu seinem Spiel-Rhythmus.

Die Bedeutung Biribas erkennend und ausgestattet mit einer passablen Portion Paranoia ließ Präsident Rocha anordnen, dass vor jedem Fresschen Biribas ein Spieler vorzukosten hatte. Im Fall eines Giftanschlags hätte man den Verlust eines einzelnen Spielers gewiss auffangen können, doch wer hätte den magischen Hund Biriba ersetzten sollen?

Die Erfolgs-, oder sollte man tatsächlich Glückssträhne sagen, Botafogos hielt an. Immer mehr Menschen brachten die Siege Botafogos mit Biriba in Zusammenhang. Schließlich kam es zu Entführungsdrohungen. Hundehalter Macaé wurde verpflichtet mit Biriba ins Klubhaus zu ziehen, um den ehemals streunenden und nun äußerst sesshaften Hund rund um die Uhr zu bewachen. Wer weiß, ob der Spieler sich des herrenlosen Hundes angenommen hätte, wenn er geahnt hätte, wie dessen Präsenz sein Leben verändern sollte? Leicht hatte es der Hundehalter gewiss nicht.

Und die Biriba-Show wurde noch toller. Vor einem wichtigen Spiel Botafogos erdreistete sich der unantastbare Vierbeiner und pinkelte einem Spieler des Teams in der Umkleide ans Bein. Die Logik Präsident Rochas kannte keine Ausnahme. Nach dem Sieg wurde angeordnet, dass Biriba bis Ende der Saison, wenn es die Natur denn hergab, vor jedem Spiel ans Bein desselben Spielers urinieren sollte.

Nun mag der geneigte Leser den Kopf ob dieser Auswüchse schütteln, doch eines steht unumstößlich fest: In der Premierensaison Biribas gewann Botafogo die Stadtmeisterschaft Rio de Janeiros – zum ersten Mal seit dreizehn Jahren. Roch es in der Kabine des Teams 1948 zwar etwas streng nach Hundefutter und Urin, so verlor die Mannschaft doch seit dem Auftauchen des legendären Straßenköters kaum noch ein Spiel. Carlito Rocha und Biriba waren das außergewöhnlichste Duo des brasilianischen Fußballs, die Fans Botafogos werden als historische Reminiszenz bis heute Cachorrada genannt, zu deutsch: Hundemeute.

Der Fluch des Phantomfroschs

Neben dem Hund Biriba und dessen zugunsten des eigenen Teams ausgeübten Zauber erlangte ein weiteres, wenn auch namenloses, Tier Berühmtheit im brasilianischen Fußball: der Frosch von Vasco da Gama.

Jener Traditionsklub der portugiesischen Einwanderer Rios verfügte in den 1930er-Jahren über eine hervorragend besetzte Mannschaft, die 1934 und 1936 bereits Rios Stadtmeisterschaft gewonnen hatte. 1937 stand im heimischen Stadion São Januário die Begegnung der Startruppe gegen den Abstiegskandidaten Andaraí FC an. Auf dem Weg zum Stadion stieß der Mannschaftsbus Vascos mit einem Müllwagen zusammen, was die Ankunft am Stadion endlos verzögerte. Dort wartete der Gegner ahnungslos im Nieselregen. Obwohl ein Antrag auf Wertung des Spiels zu eigenen Gunsten wegen des Nicht-Antretens des Gegners möglich gewesen wäre, erwies sich Andaraí als sehr fair im Sinne des Sportsgeistes.

Nach Ewigkeiten traf Vasco schließlich am Stadion ein und das Spiel konnte stattfinden. Der klar unterlegene Klub aus Bahia setzte auf eine auch real-sportliche Anerkennung der sportiven Geste und durfte nach entgegenkommenden Vorgesprächen auf eine gewisse Schonung hoffen. Doch auf dem Platz machte Vasco rücksichtslos ernst und schlachtete den Gegner, dessen Freundlichkeit man die Austragung des Spiels überhaupt verdankte, mit sage und schreibe 12:0 ab. Nach dem Abpfiff dieser ungastlichen Lehrstunde betrat Andaraís Ersatzspieler Arubinha das Spielfeld, kniete auf dem Rasen nieder und sprach laut ein Gebet, in welchem er beschwor, dass Vasco, wenn es denn einen gerechten Gott gäbe, genau zwölf Jahre lang die Meisterschaft nicht mehr gewinnen möge.

Zunächst maßen die Vereinsoberen der Geschichte keine besondere Bedeutung bei, doch kurze Zeit nach dem Spiel kursierten Gerüchte, Arubinha habe heimlich einen Frosch unter dem Rasen begraben. In den Naturreligionen Brasiliens gilt der Frosch, der Wächter des Regenwaldes, als Überbringer schlechter Nachrichten und Verwünschungen. Und das amphibische Menetekel begann Wirkung zu zeigen. Die kommenden Jahre sahen Vascos Starelf in der Tabelle stets weit vorn, doch es wollte mit dem Titel nicht klappen. 1943 drang Vasco mit einer der stärksten Mannschaften der Vereinshistorie endlich wieder ins Endspiel vor. Doch Gegner Flamengo, der Klub der benachteiligten Massen, triumphierte mit 6:2. Jetzt wurde Vascos Management nervös. Ein früherer Spieler des Klubs, der vorgeblich über besondere spiritistische Fähigkeiten verfügte, wurde angeheuert, um den Frosch zu entfernen, den Fluch zu bannen. Dieser schritt mit einer Wünschelrute, die auf dämonische Präsenz reagieren sollte, den gesamten Platz ab und verkündete schließlich, der Frosch sei unauffindbar.

Als im kommenden Jahr die Mannschaft, erneut hochfavorisiert in die Meisterschaft gestartet, den Titel wiederum verfehlte, schien es keine Alternative zu geben als vor dem Fluch zu kapitulieren. Arubinha wurde öffentlichkeitswirksam gebeten, dem Klub zu verzeihen. Man habe nun wirklich genug gelitten, er möge doch endlich verraten, wo der Frosch vergraben sei. Das Dumme war nur, dass Arubinha von einem Frosch nichts wissen wollte, er habe keinen Schimmer, wie die Gerüchte aufgekommen seien und habe nichts unter dem Rasen der einstigen Schande vergraben.

Es half nichts: Vascos Fans mussten das gesamte Spielfeld umgraben. Dass kein Froschskelett gefunden wurde, machte die Sache natürlich nur noch bedrohlicher. Die Vereinsoberen gaben keine Ruhe und beknieten Arubinha, etwas gegen den Fluch zu unternehmen. Achselzuckend verkündete dieser, er hebe offiziell den Fluch auf. Im folgenden Jahr wurde Vasco Meister und glaubte sich endgültig vom Phantom-Frosch befreit. Um ganz sicher zu gehen, verpflichtete Vasco zudem einen Masseur, der im Nebenberuf Medium war und einen direkten Draht zu den Orixas, den afrobrasilianischen Göttern, hatte.

1970 schlug die Stunde Vater Santanas. Seit dem Titelgewinn 1958 hatte Vasco die Meisterschaft nicht mehr gewonnen. Dieser Umstand wurde allgemein als Comeback des verwunschenen Froschs gewertet. Vater Santana trommelte, als die Saison erneut zu kippen drohte, etwa zwei Dutzend Kumpel, allesamt Dämonenbeschwörer wie er, zusammen, um in einer nächtlichen Zeremonie die Sache endgültig zu Ende zu führen. Die Candomblé-Kombo ließ diverse Dämonen Besitz von ihren Körpern ergreifen und streute Muscheln auf das Spielfeld, aus denen sie die Handlungsanweisungen der Dämonen entnahmen. Die launischen Götter forderten zur Neutralisierung des Fluches allerhand, beispielsweise musste ein großes Holzkreuz hinter einem Tor begraben werden. Solcherart gefordert hatten Vater Santana und seine Freunde Arbeit bis fünf Uhr morgens.

Was der skeptische Westeuropäer für eine alberne Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Esoterik-Freaks halten mag, wird in Brasilien anders gewertet. Vasco gewann die Meisterschaft und Vater Santana wurde fortan von den Anhängern des Klubs als Superstar behandelt und in jedem Spiel mit Sprechchören gefeiert. Seine Arbeit wurde erst in den Neunzigerjahren etwas eingeschränkt, als der Gesetzgeber die rituelle Opferung von Tieren für Vascos Erfolg verbot. Der Erfolg heiligt eben doch nicht mehr alle Mittel.

Das brasilianische Verständnis des Begriffs „Fußballmärchen“ ist zweifelsohne komplexer und reicher an Schattenseiten, als es hierzulande der Fall ist. Denn wie in den alten Märchen ist der brasilianische Fußballkosmos bevölkert von blutigen Legenden, absurden Verwünschungen und schutzbringenden Talismanen. Im Vergleich zu unsichtbaren Fröschen, magischen Mischlingshunden und Voodoo-Zauber erscheint eine böse Stiefmutter als recht banales Problem.

Vom britischen Societyevent zum brasilianischen Volkssport

„Mein Uniabschluss!“, Fußballpionier Charles Miller, bei seiner Landung in Brasilien zwei Fußbälle unter den Armen tragend, auf die Frage seines Vaters: „Was ist das, Charles?“

„Es erfüllt die Beteiligten mit großer Befriedigung oder versetzt sie in große Niedergeschlagenheit, wenn diese Art von gelblicher Blase ein Rechteck passiert, das aus Holzstangen zusammengesetzt ist.“ Ein Journalist berichtet über ein Fußballspiel im Jahre 1896

Die Rolle des Fußballs für das kulturelle Selbstverständnis Brasiliens kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Nicht wenige Wissenschaftler und Schriftsteller beschreiben das im Kern recht simple Spiel zwischen den beiden Toren als den mythischen Ort, an dem sich das brasilianische Volk als eine Nation zu fühlen begann und bis heute fühlt. Darf England zweifelsfrei als das Mutterland des Fußballs gelten, so halten sich doch die Brasilianer zugute, dass dieses Spiel erst durch ihre Interpretation zu sich selbst gekommen sei. Als Sport, als Ausdruck eines Lebensgefühls und als wahrhafte, praktizierte Kunst. Der Weg zu diesem Verständnis des Spiels als ureigene brasilianische Angelegenheit und Erfahrungsraum soziokultureller Identität ist jedoch ein langer gewesen – und durchaus steinig.

Wie so viele Geschichten des südamerikanischen Kontinents ist auch die Geschichte des Futebol eine solche des Kolonialismus – und der kreativen Aneignung importierter Kulturformen der Herrschenden durch die ehemals unterdrückten Massen. Die erste bekannte Ausübung des Sports datiert auf das Jahr 1878, als britische Seeleute vor dem Palast der Prinzessin Isabell in Rio kickten. Kein Mensch wusste, was die Männer dort trieben, und ihren Ball nahmen sie auch wieder mit. Die eigentliche Geschichte beginnt etwas später – und zwar mit zwei Fußbällen.

1894 lief ein gewisser Charles William Miller mit dem Schiff in den Hafen von São Paulo ein. Der junge Mann, Sohn schottischer Einwanderer, kehrte kaum 20 Jahre alt, von seinem zehnjährigen Schulaufenthalt in England zurück. Dessen Vater, John Miller, war als Eisenbahningenieur dem Lockruf des schwarzen Goldes nach Brasilien gefolgt, wie viele Immigranten seiner Zeit. Miller senior arbeitete an dem Ausbau des Schienennetzes in Brasilien. Die Hafenstadt Santos sollte mit den Kaffeeplantagen im Inland des Staates São Paulo verbunden werden, um das lukrative Geschäft mit dem anregenden Heißgetränk zu befördern. Den eigenen Spross hatte der schottische Brasilianer einer soliden Schulbildung wegen im Alter von zehn Jahren gen Hampshire verschifft, wo dieser im Internat lebte und erfolgreich die Schulbank drückte. Besonders sportlich tat sich der junge Student hervor und übte die angesehenste Sportart des Commonwealth, Kricket, mit ebensolcher Bravour aus, wie die in England beliebte und anderswo noch weitgehend unbekannte junge Sportart Fußball.

 

Als John Miller seinen Sohn im Hafen São Paulos in Empfang nahm, stellte er zu seiner Überraschung fest, dass sein Sohn in jeder Hand zwei große Lederbälle trug. Verwundert stellte er den Filius zur Rede, was dies zu bedeuten habe. „Das ist mein Uniabschluss“, antwortete Charles gelassen, „dein Sohn hat die Fußballprüfung bestanden.“ In der Tat hatte sich Charles Miller in dem an den Universitäten beliebten Sport, der durch die Gründung der Football League 1888 bereits ein gut organisierter Amateursport geworden war, derart hervorgetan, dass er als Linksaußen für St. Mary’s spielte, Vorläufer des FC Southampton.

Jene historisch so wirkmächtigen Utensilien, es ist post festum nicht vermessen, das Bild eines eingeschleppten Virus zu beschwören, landeten jedoch nach Millers Ankunft zunächst im Schrank. Die britische Gemeinde São Paulos befand sich in der Kricket-Saison, wer hätte da Notiz von dieser außerhalb der britischen Inseln kaum bekannten Sportart genommen …

Nach dem Ende der Kricket-Saison begann Charles Miller die ersten Fußballspiele unter Bekannten zu organisieren. Die erste nach Regeln geführte Fußballbegegnung auf brasilianischem Boden fand zwischen britischen Angestellten der Eisenbahngesellschaft und der Gasverwaltung statt. Die Bühne jener legendären Stunde Null des brasilianischen Fußballs bildete eine Weide, die den Maultieren, die die Straßenbahnen São Paulos zogen, ansonsten zum Grasen diente. Charles Miller erinnerte sich 50 Jahre später an die positive Resonanz der Spieler dieses ersten regelrechten Kicks Brasiliens: „Das allgemeine Gefühl war damals: Was für ein großartiger Zeitvertreib, was für ein nettes kleines Spielchen.“

350 Kilometer weiter nördlich sollte ein weiterer Anglo-Brasilianer einige Jahre später parallel an der Etablierung dieses neuen Ballspiels arbeiten. Oscar Cox kehrte 1901 von seinem Studium in Lausanne zurück und führte einen weiteren Fußball in das Riesenreich ein. Bei dem von ihm arrangierten Spiel zwischen Mitgliedern des Kricket- und Leichtathletikverbandes von Rio de Janeiro und jungen Männern aus der Oberschicht bildete sich erstmals so etwas wie eine Fan-Kulisse: Der Vater und die Schwester eines Spielers, zwei Freunde und eine zufällig vorbeischauende Tennis-Mannschaft verfolgten das Aufeinandertreffen. Waren die Anfänge auch bescheiden, so trat der Fußball doch in atemberaubender Geschwindigkeit seinen Siegeszug an.

Anfangs konnte der Fußball noch nicht als brasilianischer Sport gelten. Erst Jahre später wurde der Sport erstmals Brasilianern zugänglich, wenn auch vorerst nur Mitgliedern der Oberschicht: 1898 wurde die College-Mannschaft Mackenzie in São Paulo gegründet, als Spielgerät diente ein aus den USA mitgebrachter Basketball eines Sportlehrers. Ein Jahr später fand das erste Vereinsmatch statt: Mackenzie wurde durch die Mannschaft deutscher Auswanderer, Germania, gegründet durch Hans Nobiling, der als Vereinsfarben gleich diejenigen des HSV mitbrachte, herausgefordert. Auch das ernüchternde Ergebnis von 0:0 konnte das aufblühende Interesse an dem neuartigen Sport nicht stoppen.

1902 wurde die erste Meisterschaft Brasiliens in São Paulo ausgetragen: Das siegreiche Team, der São Paulo Athletic Club, wurde von Kapitän und Torjäger Charles Miller angeführt und bestand aus elf Engländern. Bereits 1904 berichtete Miller brieflich über ein Spiel unter Jugendlichen, zu dem er als Schiedsrichter gebeten wurde: „In jeder Mannschaft waren 20 von ihnen, sie wollten es so. Ich dachte natürlich, dass das Ganze ein wüstes Durcheinander werden würde, aber ich sah, dass ich im Irrtum war ... zu dieser Veranstaltung kamen 1.500 Leute.“ Begeistert stellt er zudem fest: „Mehr als 2.000 Fußbälle sind in den letzten zwölf Monaten verkauft worden. Beinahe jedes Dorf hat nun einen Klub.“

Exklusiver Sport in Weiß

Für die farbigen Einwohner Brasiliens ist es allerdings noch ein weiter Weg in die Fußballmannschaften. Erst 1888 schaffte Brasilien, als letztes Land der westlichen Hemisphäre, die Sklaverei ab. Die ehemaligen Leibeigenen zogen nach dem Ende ihrer Unterdrückung in die Städte und bildeten dort, zwar nun ihrem Status nach freie Bürger, dennoch eine weitgehend marginalisierte Unterschicht, der die Teilhabe am öffentlichen Leben verwehrt wurde. Das eigentlich brasilianische Element kam erst mit dem Zugang der afrobrasilianischen Spieler zu den Mannschaften in den Fußball.

Fußballpionier Oscar Cox gründete gemeinsam mit neunzehn Freunden 1902 den Klub Fluminense, Rios ersten Fußballverein. Die Spiele waren ein Societyereignis erster Güte, die Damen der Oberschicht führten die neueste Mode aus, die Herren erschienen in Anzug und Krawatte, man gab sich dem britischen Vergnügen in weltläufiger Attitüde hin. Die Spieler waren weiße Studenten und Angehörige der Oberschicht, samt Amateure, die dem modernen Gedanken der Leibesertüchtigung frönten.

Setzen sich heutzutage im deutschen Fußball Fans für den Erhalt günstiger Stehplätze ein, um auch weniger begüterten Liebhabern des Sports Stadionbesuche zu ermöglichen, so verteidigen sie einen Gedanken, der in den Anfangszeiten dieses Sports nicht vorgesehen war: soziale Inklusion als gesellschaftliche Funktion des Sports. Der sich etablierende Fußball Brasiliens war im Gegenteil das exklusive Spiel der britischen Eliten, Brasilianer und ehemalige Sklaven waren nicht erwünscht.

Doch schon bald fanden sich auf den Dächern der umliegenden Häuser immer mehr farbige Zuschauer ein, die als Kiebitze die Spiele auf dem Feld verfolgten. Fußball bot gegenüber dem Kricket den Vorteil, dass es simpel zu erlernen und durchzuführen war und daher auch den weniger begüterten Möglichkeiten zur Ausübung bot. Da man nicht mehr benötigte als einen Ball, begannen auch die schwarzen Brasilianer bald überall zu kicken. Sockenknäuel, mit Papier ausgestopfte Tücher oder aus Gummibäumen abgezapfter und ausgehärteter Kautschuk gaben den Ball, der Rest war pure Freude. Bereits um 1910 war Fußball das beliebteste Spiel Rio de Janeiros, die arme Unterschicht bolzte überall und imitierte so das gepflegte Hobby der weißen Oberschicht auf eine Weise, die den meisten vornehmen Gentlemen des Sports ein Naserümpfen entlockte. Zu jener Zeit soll Rio über mehr Fußball- und Bolzplätze verfügt haben als jede andere Stadt Südamerikas. Dass wir nicht von ordentlichen Sportstätten sprechen, ist dem Bericht des Klubvorsitzenden des englischen Teams Exeter City zu entnehmen, der 1914 Rio besuchte: „Stellen Sie sich den schlimmsten Amateurplatz vor, den Sie je gesehen haben, den werfen Sie nun auf wie einen Teppich, streuen Schotter und Steine darüber und setzen das Ganze der tropischen Sonne aus, dann bekommen Sie eine entfernte Vorstellung von dem Spielfeld hier“, schrieb M.J. Mc Gahey an die Lokalzeitung aus Exeter und empörte sich zudem über einen Strandkick, als er der beteiligten Spieler ansichtig wurde und feststellte, „dass alle Nigger waren. Schwarz wie ein Zylinder, und die meisten spielten barfuß“. Das war eindeutig zu viel für die vornehmen Besucher.

Der erste Club in Rio, der auch schwarze Spieler in seine Mannschaft aufnahm, war Bangu Atlético Clube. Bangu war eine Werksmannschaft, gegründet von den Inhabern einer Textilfabrik, die auch nicht-weißen Spielern die Teilnahme ermöglichte. Da diese ihr Geld als Fabrikarbeiter verdienten, verstießen die Spieler nicht gegen den vorgeschriebenen Amateurstatus. Bangu blieb jedoch einige Jahre eine absolute Ausnahme und verfügte nicht über die sportliche Klasse, um ein wirklicher Stachel im Fleische der weißen Fußballherren zu sein.