Samba tanzt der Fußballgott

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Das Akquirieren von Plätzen stellte neben den Kosten für die Fahrzeuge ein weiteres Problem dar. Ebenso wie von den Fahrzeugen blieb von den Spielstätten häufig nicht viel übrig. Die Attraktivität des Sports für die Massen war jedoch unweigerlich mit dessen verschwenderisch-destruktivem Potenzial verbunden. Ein Dilemma. Ivan Sant’ Anna resümierte nach dem Ende der großen Zeit des Autoballs drastisch: „Die vier, fünf Jahre, in denen Autoball gespielt wurde, waren eine interessante Zeit. Wir hatten gute Publicity. Aber es hätte zu einem tödlichen Unfall kommen müssen. Mir war das immer klar, egal was passiert, Autoball würde beim Publikum nur ankommen, wenn es Tote gab.“

Neben den aus Sicht des Marketings bedauerlicherweise fehlenden Todesopfern war ein zweiter Grund hauptsächlich für das Aus des Sports verantwortlich: Die Ölkrise. 1974 verbot die brasilianische Regierung alle Arten von Motorsport. Autoball geriet in Vergessenheit. Bis es in Zeiten zunehmender Knappheit fossiler Brennstoffe von Stefan Raab für Deutschland wiederentdeckt wurde, wenn auch lediglich als Fernsehereignis, mit Sturzhelmen und zeitgemäß spritsparenden Fahrzeugen (beispielsweise: VW Fox mit Durchschnittsverbrauch zwischen 6 und 9 Litern auf 100 Kilometern). Wäre wohl nicht Walter Lacets Ding gewesen.

Knopfballduelle

Weiter zurück reichen die Anfänge einer anderen Promenadenmischung des Fußballs. Knopffußball heißt die an das deutsche Tipp-Kick erinnernde brasilianische Variante der Fußballimitation im Miniaturformat. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als auch der brasilianische Fußball noch in den Kinderschuhen steckte, waren es eben Kinder, die begannen, Fußballspiele mit Knöpfen spielerisch nachzuvollziehen. Mit jeweils elf Knöpfen wurde auf Tischen nach einem Miniaturball geschnippst, um diesen im gegnerischen Tor unterzubringen. Dieses Kinderspiel hat bis heute einen ungebrochenen Siegeszug in Brasilien angetreten.

Alex Bellos berichtet über das „Knopfbüro“ von Marcelo Coutinho. Dieses Fachgeschäft des Knopffußballs in Rio zieht Jungs und Männer aller Altersklassen in seinen Bann. Coutinho handelt mit Equipment aller Art für das simple Spiel, das sich in puncto Einfallsreichtum und Design stark weiterentwickelt hat. Die Nachfolger der Mantelknöpfe sind Plastikmarken in der Größe von Dominosteinen, die an Pokerchips erinnern. Die Chips sind in den Farben aller populären Fußballmannschaften zu haben, tragen Rückennummern oder Namen berühmter Spieler und bieten so der Fantasie allen Raum, den es braucht, um sich in die große Welt des Fußballs zu träumen. Die „Buttonistas“, wie die Anhänger des Spiels heißen, bewahren ihre Teams in Holzschachteln auf, die „Umkleidekabinen“ genannt werden. Auf Reisen zu Auswärtsspielen darf die medizinische Versorgung der Spieler nicht zu kurz kommen: Möbelpolitur, Reiniger, Wachs und Tücher werden zur Behandlung der Knöpfe mitgeführt.

Ähnlich wie moderne Computer- oder Konsolenfußballspiele bietet Knopffußball den Spielern die Möglichkeit, Knopf-Alter-Egos an die Seite der großen Stars zu setzen. So spielte beispielsweise in Marcelo Coutinhos Wettkampfteam, nachempfunden dem FC Porto, auch dessen Frau Monica im rechten Mittelfeld. Auch Gandhi und Nelson Mandela sollen im Sturmzentrum zu Einsätzen gekommen sein. Der Verdacht liegt nahe, dass der Knopffußball mit der Zeit den modernen elektronischen Fußballspielen zum Opfer fallen könnte. Doch der Knopffußball scheint auf beste analoge Art zu trotzen und schlägt gar den Weg sportlicher Institutionalisierung ein. Nach Jahren regionaler Streitigkeiten über das Spielgerät und die Anzahl der Schnippser pro Mannschaft (Rio: größerer Tisch, drei Schnippser; São Paulo: kleinerer Tisch, zwölf Schnippser) veröffentlichte das Sportmagazin Placar „Die Zehn Gebote des Buttonistas“. Das erste Gebot lautet salomonisch: „Es gibt keine falschen Regeln, nur verschiedene Meinungen und Geschmäcker.“ Die Zeit des konstruktiven Miteinanders im Tischfußball, der wie der große Fußball seine Zeiten der regionalen Eifersüchteleien zu überstehen hatte, hatte begonnen. Der nationale Sportrat gab am 29. September 1988 bekannt, dass der Tischfußball wegen der weit verbreiteten Praxis und der Meisterschaften auf nationaler Ebene als Sport anerkannt werde. Da ein „Buttonista“ während eines Spiels angeblich dreieinhalb Kilometer laufe, war auch der Nachweis physischer Herausforderung erbracht. Mittlerweile haben große Fußballclubs wie Internacional Porto Alegre und Corinthians eigene Tischfußball-Abteilungen und der Knopffußball ist beliebter denn je.

Brasilianische Ruhmeshallen

Ein Außenseiterdasein fristet das von Alex Bellos beschriebene „Ökoball“, welches im Regenwald in der Stadt Macapá gespielt wird: Das pädagogisch sinnvolle Spiel sieht einen Fußballplatz mit Bäumen vor, denen unbedingter Respekt entgegenzubringen ist. Trifft ein Spieler einen der Bäume, wird er des Feldes verwiesen – und, noch nicht genug bestraft, muss der Herausgestellte zudem eine Limone lutschen.

Es gibt wohl unzählige Abwandlungen des Spiels, die den jeweiligen Gegebenheiten fröhlich Rechnung tragen. Die brasilianische Kultur, deren beredter Ausdruck der Karneval ist, lebt von der Improvisation, Mischung und Travestie verschiedenster Einflüsse und Praktiken. Wo immer ein runder Gegenstand zu finden oder herzustellen ist – viele Indianerstämme produzieren eigene Fußbälle aus dem Harz der Kautschukbäume –, denken sich Brasilianer die merkwürdigsten Fußball-Spiele aus.

Wesentlich bekannter als die unzähligen lokalen Fußballhybriden sind die dem Ursprungsspiel enger verwandten Varianten wie Futsal oder Beach Soccer, die von Brasilien ausgegangen sind und mittlerweile als global bekannte Spielarten gelten können.

Futsal, ein Akronym für Futebol de Salão (Hallenfußball), ist ein Indoorsport mit zwei Teams à fünf Spielern. Mit einem schweren und sprungreduzierten Ball wird auf zwei kleine Tore gespielt, wobei es im Unterschied zum klassischen Fußball in der Halle keine Banden gibt. Die erste Idee zu diesem Sport geht auf den Uruguayer Juan Carlos Cerani zurück, der im Montevideo der 1930er-Jahre ein Fußballspiel auf einem Basketballplatz veranstaltete. Erstmals wurde als Spieluntergrund ein Kunststoffboden verwendet. In São Paulo wurde dieser Einfall in den 1950er-Jahren aufgegriffen und im Rahmen des CVJM-Sportprogramms zu einer eigenen Sportart weiterentwickelt.

Um auf dem Hallenboden ein wildes Herumhüpfen des Fußballs zu unterdrücken, wurden die Bälle anfangs mit Sägemehl, Kork oder Pferdehaaren beschwert, weswegen der Sport den Spitznamen „Spiel mit dem schweren Ball“ erhielt. Bereits 1954 wurde der erste Futsal-Verband in Rio gegründet, bis Ende der 1950er-Jahre zogen diverse brasilianische Landesverbände nach. Die Reglements unterschieden sich anfänglich deutlich und brachten interessante Nuancen hervor. Diese reichten von einem Sprechverbot für die Spieler, über ein Lärmverbot für die Zuschauer, bis hin zu einem Verbot der Ballberührung, wenn gleichzeitig eine Hand des Spielers den Boden berührte. Nachdem sich zahlreiche Spieler, beim Versuch einen Sturz durch Abrollen zu kompensieren, die Schultern gebrochen hatten, nahm man die Regel zurück.

1971 wurde der Internationale Verband für Hallenfußball (FIFUSA) in Brasilien gegründet und 1989 in den Weltfußballverband FIFA integriert. In Brasilien ist der Sport kaum weniger beliebt als der klassische Fußball, die einheitliche Profiliga floriert und mit Futsal lässt sich längst eine Menge Geld verdienen. Die brasilianischen Profis dominieren den Sport weltweit, fünf der sieben Futsal-Weltmeisterschaften wurden gewonnen.

Die Übergänge zwischen dem Futsal und Fußball sind in Brasilien gerade im Jugendbereich fließend, sodass viele berühmte Fußballstars der Seleção ihre Grundausbildung im Futsal erhalten haben. Falcão, der wohl beste Futsalspieler aller Zeiten, beschreibt die Vorzüge des Sports, bei dem äußerste Körper- und Ballbeherrschung vonnöten sind, aus Sicht brasilianischer Ballverliebtheit: „Beim Futsal hat man immer den Ball am Fuß. Auf dem großen Fußballfeld muss man manchmal fünf Minuten auf ihn warten.“ Für einen waschechten Brasilianer ein untragbarer Zustand.

Klar ist, dass der Futsal mit seiner Begünstigung individueller Ballbeherrschung und tänzerischen Geschicks alle Elemente bedient und fördert, die Brasilianer auch beim Fußball wertschätzen. Am Zuckerhut fragt niemand nach Taktik, Athletik und Disziplin! Und falls doch, so hört dem Langweiler niemand zu.

Samba, Sonne, Strandfußball

Über noch mehr brasilianisches Flair verfügt der Strandfußball. Die Strände der Copacabana sind ohne braungebrannte Strandkicker kaum vorstellbar. Samba, Sonne, Strand – diese Erlebnistrias scheint den brasilianischen Spielern, auch fern der Heimat, eingeschrieben zu sein.

Wie so häufig wurde auch im Falle des Strandfußballs aus der Not, die erfinderisch macht, schließlich ein eigenes Markenzeichen. Zu Beginn der 1920er-Jahre hatte das Fußballfieber bereits weite Teile der Bevölkerung gepackt, doch eine Aufnahme in die Vereine stand größtenteils nur wohlhabenden und weißen Spielern offen. Das Anwachsen der Metropole Rio de Janeiro brachte ein zunehmendes Verschwinden innerstädtischer Freiflächen mit sich. Wo also sollten die ärmeren Fußballfreunde ihrem Vergnügen nachgehen? Die Zeit des Strandfußballs war gekommen. Dieser breitete sich so rasch aus, dass der Bürgermeister Rios ein Verbot in die Wege leiten wollte – das Einreichen einer Petition mit 50.000 Unterschriften ließ ihn rasch von diesem Vorhaben Abstand nehmen. Zwar waren die Vereinsstrukturen elitär und von kolonialem Rassismus geprägt, doch bereits zu jener Zeit ließ sich das Volk nicht um seinen Fußball betrügen. Mit der zunehmenden Etablierung des Fußballs schwang sich auch der Strandfußball zu neuen Höhen auf.

 

In den 1950er- und 1960er-Jahren wimmelten Rios Strände von Fußballern, die elf gegen elf auf Sand um Ball, Sieg und Selbstverwirklichung rangen. Teams steckten ihre Strandabschnitte an der Ipanema und der Copacabana wie Claims ab und beanspruchten zu regelmäßigen Spielen ihr Territorium. Den Scouts der Vereine, die sich zu dieser Zeit Spielern aus allen Schichten geöffnet hatten, blieb das Treiben nicht verborgen. Der Strand wurde zum leicht anarchischen Laufsteg für zukünftige Profikarrieren. Mit der Zunahme des Strandfußballs, des Tourismus und der Bevölkerungszahl in der Metropole aufgrund der Arbeitsmigration nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es eng an den Stränden. Zwischen 1940 und 1960 hatte sich die Bevölkerungszahl Rios annähernd verdoppelt. Die räumliche Enge, der Kampf um die Plätze und das zunehmende Spektakel führten zu teils wilden Auseinandersetzungen an den Stränden. Die Folge waren Reglementierungen und Einschränkungen des spielerischen Wildwuchses. Anfang der 1960er-Jahre war Strandfußball erst ab 14 Uhr erlaubt, Plätze wurden ausgewiesen und die Ordnung überwacht.

Doch Brasilien wäre nicht es selbst, wenn nicht auch diesem neuen Notstand durch Erfindungsreichtum begegnet worden wäre. So kamen zu dieser Zeit einige verscheuchte Strandfußballer auf die Idee, einfach auf die am Strand längst zur Institution gewordenen Beachvolleyballplätze auszuweichen und den Ball mit dem Fuß übers Netz zu jonglieren. In Deutschland kennt man das Spiel meist als „Fußballtennis“, treffender ist jedoch die ursprüngliche Bezeichnung „Footvolley“. Eine neue Spielart des Fußballs war geboren, die insbesondere auch von den kickenden Mädchen und Frauen begeistert angenommen wurde, da beim Footvolley weniger Athletik und Zweikampfhärte gefragt, sondern vor allem technisches und akrobatisches Geschick ausschlaggebend war.

Die Wohlhabenderen unter den Strandkickern verließen hingegen das öffentliche Territorium Strand wieder und besannen sich auf die Exklusivität der Fußballanfangsjahre. Ihr Rückzug vom Strandfußball führte die Mittel- und Oberschicht zurück in die Stadtzentren. Zu jener Zeit wirtschaftlicher Prosperität und die durch den WM-Sieg 1958 angeheizte Fußballbegeisterung galt es in den höheren Schichten als enorm statusfördernd, sich in den Städten private kleine Rasenplätze anzulegen, um Sport und gesellschaftliche Begegnung zu verbinden. Wer über genügend Mittel verfügte, sich die aufwendig zu pflegende Rasenfläche im tropischen Klima leisten zu können, der empfing Geschäftspartner und bedeutende Persönlichkeiten zu Grillfesten, auf denen dem Bier und privaten Kick gefrönt wurde. Diese vorwiegend reinen Männergesellschaften stellten sozialen Zusammenhang sicher und waren Nährboden für allerlei Geschäftliches.

Der Strandfußball selbst war natürlich nie totzukriegen. Wo immer ein Ball ist, wird gespielt. Doch nach der wilden und freien Anfangszeit erlebte der Strandfußball seine Phase der Domestizierung und schließlich der Anpassung an die neuen Gesetze der Kommerzialisierung. Anfang der 1990er-Jahre wurde für das Fernsehen der „Beach Soccer“ erfunden, bei welchem jeweils fünf Spieler in drei Perioden à zwölf Minuten gegeneinander antreten. Seit 1998 ist Beach Soccer an der Spitze offiziell Profisport. Frühere brasilianische Nationalspieler wie Romário oder Zico verdienten sich nach ihrer Fußballkarriere ein paar Reals dazu und dienten als populäre Zugpferde der Vermarktung.

Traum und Wirklichkeit

Die brasilianische Variante des Tellerwäscher-Mythos ist der Fußballer, der vom Strand oder Bolzplatz weg verpflichtet wird und zu Ruhm und Reichtum gelangt. Von der Wirklichkeit ist er weit entfernt, zumindest, wenn man die Wirklichkeit an den Strukturen misst, die die riesige Masse armer Fußballer ausbeuten, und nicht an den sehr seltenen Ausnahmen.

Das gewaltige Reservoir an Fußballtalenten wurde und wird von den brasilianischen Vereinen weidlich genutzt und ausgenutzt, wobei aus der Not der meisten begabten Spieler Kapital geschlagen wird. Der heutige Traum vom Profifußball führt nicht mehr über den spielerischen Freizeitkick, sondern über die Peneiras, die Spielersichtungen der Vereine. An diesen zentral organisierten Fußball-Assessment-Centern nehmen jedes Jahr Tausende Jugendliche teil. Katrin Sturm und Carsten Bruder nennen in Zwischen Strand und Stadion die Zahl von 20.000 Teilnehmern pro Jahr allein bei den Sichtungen des FC São Paulo. Von diesen 20.000 Spielern werden etwa 90 Spieler im Durchschnitt in die Jugendmannschaften des Vereins aufgenommen. Aus dem Kreise dieser Auserwählten schaffen ca. zwei Prozent den Sprung in den Profikader. Die Spieler opfern diesem Traum die wichtigsten Jahre ihrer Jugend und bekommen in den Akademien der Vereine, in denen sie jahrelang untergebracht werden, zumeist keine Schulbildung. Schaffen Sie es nicht, stehen sie vor dem Nichts, und diejenigen, die es schaffen, geraten sehr häufig in die Hände von Beratern, die den Vereinen zuarbeiten und die mangelnde Bildung ihrer Mandanten weidlich zum eigenen Vorteil ausnutzen. Von dem brasilianischen Elend und dem Traum vom Profifußball nähren sich Vereine und eine ganze Wirtschaft drum herum prächtig.

Um diesem Missstand bei der Ausbeutung der Talente Einhalt zu gebieten, haben in den vergangenen Jahren vermehrt ehemalige Spieler die sogenannten Escolinhas gegründet. Das Problem an den privat betriebenen Talentschulen ist jedoch, dass diese, abgesehen von einigen Förderstipendien für besonders talentierte arme Jugendliche, kostenpflichtig sind, wodurch sie in der Regel ausschließlich von Mittel- oder Oberschichtkindern besucht werden können.

Auch muss erwähnt werden, dass viele Spieler in den letzten Jahren, unter ihnen Weltstars wie Kaká, eng mit den zahlreichen evangelikalen Sekten Brasiliens in Kontakt gekommen sind und niemand beurteilen kann, welchen Formen der Indoktrination junge Fußballschüler in den Escolinhas ausgesetzt sind.

In seiner dreijährigen Zeit als außerordentlicher Sportminister legte Pelé ein Programm für öffentliche Fußballschulen auf, die Kindern aus allen Schichten offen stehen. Nicht nur Karriereförderung und karitative Motive waren ausschlaggebend: Die wachsende Jugendkriminalität in den Ballungsräumen machte politisches Engagement nötig. Der Erfolg nicht nur im Hinblick auf die Entwicklung der Jugendkriminalität gibt diesen Projekten recht. Professor Mauricio Murad von der Universität des Bundesstaates Rio de Janeiro stellt im Hinblick auf die soziale Bedeutung des Fußballs für sein Land fest: „Mithilfe des Fußballs als einem sehr wichtigen kollektiven Ritual erhalten wir Zugang zu den grundlegenden Dimensionen des gesellschaftlichen Lebens und der brasilianischen Geschichte. Fußball ist in Brasilien mehr als ein Massensport und unser Sport Nummer eins. Fußball ist eine Metapher des gesellschaftlichen Lebens in Brasilien, eine Zusammenfassung seiner wichtigsten Charakteristika“; und zieht für die öffentlichen Fußballprogramme das positive Fazit: „Sogar die UNO unterstützt und finanziert zusammen mit der FIFA seit einigen Jahren Zehntausende von Fußballsportzentren, deren Konzept in der Zusammenführung und gegenseitigen Beeinflussung der Kulturen besteht. Über ihre Funktion als Freizeitzentren hinaus dienen sie Kindern und Heranwachsenden auch als Treffpunkt, als Ort des Gedankenaustauschs und der Solidarität, erst recht, wenn sie in einem schwierigen sozialen Umfeld leben. Vom Elitären und Exklusiven zum Populären und Demokratischen, das ist die wesentliche historische Kurve des Fußballs in Brasilien.“

Wenn sich das Geschäft mit dem Fußball einem weltweiten Umsatzvolumen von jährlich 300 Milliarden Dollar annähert, sollte dessen sozial-pädagogische Bedeutung nicht nur Thema für Sonntagsreden sein, sondern mit entsprechenden Mitteln gefördert werden. In all seiner Widersprüchlichkeit, Schönheit, Grausamkeit und Komplexität bleibt der Fußball in erster Linie ein kultureller Ausdruck vieler Gesellschaften in der ganzen Welt.

Brot oder Spiele?

Dass der Ausdruck der die Gesellschaft prägenden Gegensätze und Paradoxien in Brasilien besonders deutlich ausfällt, zeigt auch die Ausstattung mit ansprechenden Fußballstadien, die sich unzählige ansonsten sehr arme Gemeinden leisten – und dies nicht selten nicht einmal gegen den Willen der Einwohner. Vorreiter des fast massenweisen Baus von Fußballstadien war während der 1970er-Jahre die Militärregierung, die mit prachtvollen Fußballarenen Symbole des Nationalstolzes errichten wollte. 1978 verfügte Brasilien laut dem Guiness-Buch der Rekorde über 27 Stadien mit einem Fassungsvermögen von mindestens 45.000 Zuschauern und fünf Stadien, die mehr als 100.000 Zuschauer aufnehmen konnten. Die Mentalität des „Hast du was, bist du was“ wurde und wird bis heute auch von kleinen und wirtschaftlich marginalen Gemeinden gelebt.

Alex Bellos berichtet über die kleine Stadt Brejinho im staubtrockenen und glutheißen Nordosten des Landes. 1993 war die Gegend von einer anhaltenden Dürreperiode betroffen, deren Folgen für die ärmere Bevölkerung Ausmaße einer humanitären Katastrophe hätte annehmen können. Öffentlich organisierte Notfallhilfe mit Lebensmittellieferungen konnte das Schlimmste verhindern. Die allgemeine Not in der Region führte bei den lokalen Politikern zu der Einsicht, dass es vor allem an einem mangele: einer schmucken Fußballarena!

Im Jahr der Dürrekatastrophe ließ Bürgermeister João Pedro die Arbeiten am Bau eines Stadions für 10.000 Zuschauer beginnen. Der Ort Brejinho kam zu jener Zeit, die ländliche Umgebung bereits mitgerechnet, übrigens auf 4.000 Einwohner.

Der Bürgermeister, ganz brasilianischer Fußballvisionär, begründete seine kurios bis wahnsinnig anmutende Maßnahme gleichermaßen mit Nachhaltigkeit wie auch mit dem Willen seiner Einwohner: „Ich habe nicht bloß an die Gegenwart gedacht. Ich machte etwas, das für lange Zeit bleiben wird. Die Menschen hier wollten mehr als alles andere ein Stadion. Ich versprach ihnen, dass ich es für sie bauen werde. Und ich hielt mein Versprechen.“ Das Stadion benannte João Pedro nach seinem verstorbenen Schwiegersohn, Dr. Antônio Alves de Lima.

Das Bemerkenswerte: Diese Geschichte ist nicht bloß ein Beispiel politischen Größenwahns oder reiner Anmaßung, denn die Menschen Brejinhos sind ihrem Bürgermeister dankbar. Sie tauften das Stadion eigenmächtig und liebevoll Tonhão (= der große Antonio) und verzichten zugunsten fußballerischen Glamours gern auf Investitionen in die Infrastruktur, die die strukturelle Armut mildern könnten. Das völlig deplatziert scheinende moderne Stadion inmitten der sandigen Wüstenei verfügt über eine komfortable Bar und sogar eine Rundfunklounge für eventuelle Radioübertragungen. Im Gespräch mit Alex Bellos blickt der Sportsekretär Brejinhos zurück auf die Zeit der Schmach: „Früher schämten wir uns, dass wir kein richtiges Stadion hatten. Wir baten und bettelten.“ Wie jener João Vilarim den Ausgang der Geschichte einordnet, kann man sich denken: „Endlich kam der Bürgermeister zur Vernunft!“

Das Vermächtnis des Stadions verhalf dem zweiten Schwiegersohn des Bürgermeisters zur Nachfolge auf diesem Posten. José Vanderlei begegnet aufklärerisch denkenden Menschen auf deren Einwände, ein Stadionbau in einer verarmten Region sei doch sehr anrüchig, wenn nicht korruptionsverdächtig, auf ganz eigene und an einer womöglich zynischen Realität geschulten Art: „Okay, wir haben 75.000 Dollar ausgegeben. Ein anderer Bürgermeister hätte vielleicht nichts getan, und die 75.000 Dollar wären auch so einfach weg gewesen.“

José Vanderlei gewann seine Wahl übrigens mit dem Versprechen, dass Fassungsvermögen der Tribüne von 3.000 Plätzen (etwa ein Sitzplatz pro Einwohner) auf 10.000 Plätze zu erhöhen. Die drei vorhandenen Kassenhäuschen wurden bisher einmal benutzt, wegen der Armut der Bevölkerung erhebt der Amateurverein normalerweise keine Eintrittspreise.

Welch interessante Bauprojekte die brasilianische Liebe zum Fußball hervorbringen kann, zeigt ebenfalls eindrucksvoll das Stadion in der Stadt Macapá in dem zu 90 Prozent mit Urwald bedeckten Bundesstaat Amapá. Das 1990 eingeweihte Stadion wird „Zerão“ genannt, die „große Null“. Der Grund: Die Mittellinie verläuft genau über dem Äquator. Nach dem Münzwurf vor einem Spiel werden die Kapitäne vom Schiedsrichter gefragt, auf welcher Erdhalbkugel sie beginnen wollen. Eine Mannschaft beginnt auf der südlichen, die andere auf der nördlichen Hemisphäre.

Vor so viel Entschlossenheit zum Fußballwahnsinn erscheinen die nach dem Bau des Stadions zutage getretenen Mängel als Randerscheinungen. Den Bauherren war es bei der Errichtung ihres Prestigeobjekts weniger um solide Planung zu tun als um rasche Fertigstellung. So riss der erstbeste tropische Sturm, beileibe keine Seltenheit in diesen Breitengraden, das Dach des Stadions fort.

 

Heute ragen die acht Stützpfeiler aus Beton als nackte Säulen in den Himmel. Mit einer grundsätzlichen Sichtbehinderung im Stadion müssen die Besucher ohnehin leben: Die Flutlichtmasten stehen im Innenraum des Stadions direkt um das Spielfeld. Dass es für die ausführende Firma der erste Stadionbau war, erübrigt sich zu erwähnen.

Zwischen Sprecher- und Trainerkabine

Was den Dilettantismus authentisch macht, ist die dahinterstehende Motivation, die in der Sache selbst liegt. Frei von derartigen Hemmschuhen wie einer soliden Grundlage für das eigene Handeln lassen sich auch Selbstzweifel leichter beiseite wischen. Und wo Populismus auf ein empfängliches Publikum trifft, können die merkwürdigsten Wege eingeschlagen werden. Aus dieser Gemengelage lassen sich die Karrieren so mancher Rundfunkreporter Brasiliens erklären.

Das Radio hatte seit den 1950er-Jahren nicht unwesentlich zur Entwicklung des Fußballs zum unbezweifelbaren Nationalsport beigetragen. Für die nicht geringe Zahl an Analphabeten im Brasilien jener Zeit war die Radioübertragung die einzige Möglichkeit, über das Fußballgeschehen im riesigen Land auf dem Laufenden zu bleiben. Der journalistische Umgang mit dem Sport war von Anfang an eher auf leidenschaftliche Dramatisierung gepolt als auf nüchterne Berichterstattung.

Der Fußball in Brasilien sprach eine eigene Sprache. Noch heute klingen südamerikanische Fußballkommentatoren in europäischen Ohren wie Schamanen oder Derwische, wie enttäuschte Liebhaber oder ekstatische Enthusiasten. Das weltberühmte, opernhaft intonierte „Gol“, angemessen ausgeschrieben mit mindestens zehn „o“, wurde 1942 vom Reporter Rebelo Júnior erfunden und trat einen Siegeszug durch die südamerikanische Fußballwelt an. Júniors Kollege Raul Longas heulte bei jedem Tor Ewigkeiten wie eine Sirene ins Mikrofon. Dies hatte den einfachen Grund darin, dass der kurzsichtige Sportbeobachter von seinem Platz aus nie erkennen konnte, welcher Spieler den Treffer erzielt hatte. Aus der Not ein Markenzeichen machend heulte er solange infernalisch herum, bis ihm ein Mitarbeiter den Namen des Torschützen schriftlich anreichte. Den Rundfunkreportern lagen die Massen zu Füßen. Und die Journalisten, die sich als Sprachrohr der Fans verstanden, lebten ihre Leidenschaft frei von jeglicher Zurückhaltung aus.

Der beliebteste Sportreporter der 1940er-und 1950er-Jahre, Ary Barroso, komponierte nebenher äußerst erfolgreich Songs, u. a. für die populäre Sambasängerin Carmen Miranda, war Schriftsteller, Politiker und Fernsehstar. Als Komponist war er Anfang der 1940er-Jahre derart erfolgreich, dass Walt Disney ihm die musikalische Leitung einer Filmproduktion anbot. Mit der Begründung, „Was soll ich in Kalifornien, wo Flamengo nicht ist?“, lehnte er das lukrative Angebot ohne zu zögern ab. Die Liebe zu seinem Verein war das Einzige, das zählte. Diese Leidenschaft erkannte man auch daran, dass der musikalische Barroso Tore Flamengos, statt diese schnöde anzusagen, mit einer triumphalen Fanfare auf der Mundharmonika begleitete. Gegnerische Treffer hatten ein tonloses ausgenudeltes Gekrächze des Instruments zur Folge. Doch bemerkenswerter als seine originelle Performanz war, wie Barroso den Einflusskreis seines Berufszweigs vergrößerte: Nicht nur, dass er eine Übertragung eines Flamengo-Spiels nach einem Treffer für mehrere Minuten unterbrach, um aus seiner Kabine auf den Platz zu stürmen und mit den Spielern zu jubeln; Barroso erstritt eigenmächtig das Privileg des brasilianischen Reporters, jederzeit am Spielfeld Interviews führen zu dürfen.

An die Traditionen der extrovertierten und unberechenbaren Radioreporter anknüpfend etablierte sich bald die Radialista, eine Mischung aus Show und Sportübertragung, die dem Wunsch nach Spektakel perfekt entsprach und vielen ihrer Macher eine Karriere auch jenseits des Sports einbrachte. Der Populärste der Radialistas war gewiss Washington Rodrigues. Dass er kein Problem mit ungewöhnlichen Herausforderungen hatte, erkannte man daran, dass er vor wichtigen Spielen schon mal den Ball interviewte. Die Quadratur des Kreises gelang ihm schließlich, als er von der Radiotribüne, traditionell ein Ort der fußballerischen Besserwisserei, direkt auf die Trainerbank des Traditionsvereins Flamengo wechselte.

1995 ging es mit Flamengo sportlich bergab. Dessen Präsident, übrigens selbst ein ehemaliger Radialista, kam in seiner Not auf die populistische Idee, dem Flamengo-Fan und Radiokritiker Washington Rodrigues den Trainerposten anzubieten. Dieser sagte ohne zu zögern zu. Im Gespräch mit Alex Bellos bekundete er, zwar kein ausgewiesener Fachmann zu sein, aber mit der nötigen Chuzpe ausgestattet fügte er hinzu, dass jeder Brasilianer wisse, wie Fußball funktioniere.

Nach kurzer Zeit musste er jedoch feststellen, dass seine Kompetenzen wohl nicht ausreichten, um den Zampano zu geben, und so entschied er sich, im Herzen doch Journalist, seine Spieler zu interviewen. Rodrigues befragte seinen Kader nach den Gründen für den sportlichen Niedergang und stellte nach der Auswertung dieser Interviews einige Vorschläge vor, aus denen die Spieler die beste taktische Marschroute auswählen durften. „Fußballtaktik ist wie ein Büffet. Wenn da vierzig Gerichte vor dir stehen, probierst du vielleicht vier oder fünf. Du isst nicht alle vierzig.“

In den deutschen Profiligen schreibt der DFB verbindlich die Fußballlehrer-Lizenz für die Trainer vor. Man mag sich fragen, wozu diese Humorlosigkeit gut ist, wo es doch so einfach sein kann. Nörgelt im Fernsehen ein sogenannter Experte zu viel herum, setze man diesen einfach auf die Trainerbank. Soll er es doch besser machen. Nach diesem Prinzip der ungefragten Wortmeldung bewirbt sich unverdrossen Lothar Matthäus, der in Brasilien bekanntlich anderthalb Monate trainiert hat (wovon er freilich 30 Tage wegen Schiedsrichterbeleidigung gesperrt war), auf die meisten freien Trainerstühle.

Ein weiteres Problem in der Wahrnehmung des Radialistas stellte sich bald heraus: An seine Vogel-Perspektive von der Pressetribüne aus gewohnt, war Rodrigues nicht in der Lage, das Spiel seiner Mannschaft von der Seite aus zu lesen. Kurzerhand bat er den brasilianischen Verband, einen Fernseher neben seine Trainerbank stellen zu dürfen, um auf diesem die Live-Übertragung der Flamengo-Spiele, die drei Meter von ihm entfernt stattfanden, sehen zu können. Der Brasilianische Verband wand sich mit diesem Anliegen an die FIFA, die jedoch zu diesem merkwürdigem Antrag schlechterdings den eigenen Statuten keine rechtsverbindliche Anweisung entnehmen konnte. Achselzuckend bekam Rodrigues seinen Wunsch genehmigt und schaute fortan auf der Trainerbank die Spiele seiner Mannschaft auf einem kleinen Fernseher.

In den vier Monaten seiner Amtszeit stabilisierte sich Flamengo immerhin so sehr, dass Rodrigues 1998 erneut für vier Monate als Aushilfstrainer einspringen durfte. Die professionelle Trainergilde dürfte die Episoden mit dem Radiofritzen, als Coach aus dem hohlen Bauch heraus, skeptisch betrachten. Washington Rodrigues wurde durch diese persönliche Erfahrung eine gewisse Demut vor dem Beruf des Trainers zuteil: „In vierzig Jahren lernte ich nicht so viel wie in jenen acht Monaten. Ich sah die Spieler zum ersten Mal in einem anderen Licht, was sie die Woche über machen, wie sie leben. Ich musste einsehen, dass vieles, was ich früher gesagt oder geschrieben hatte, falsch war. Es tut mir wirklich leid, und heute bin ich mit Kritik an Trainern viel vorsichtiger.“ Immerhin, möchte man sagen, wenn auch der Trainerberuf leichten Schaden genommen haben mag, so wurde zumindest ein wilder Sportreporter gezügelt.