Verflixt und ausgesperrt!

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Verflixt und ausgesperrt!
Font:Smaller АаLarger Aa

Verflixt und ausgesperrt!





Mira Bergen







Impressum:





Verflixt und ausgesperrt!



Mira Bergen



c/o AutorenServices.de



König-Konrad-Straße 22



36039 Fulda



Copyright: © 2018 Mira Bergen



Copyright Coverdesign: © 2018 Mira Bergen



Published by: epubli GmbH, Berlin,

www.epubli.de



ISBN:







Prolog





Die Einsamkeit war unerträglich. Nicht mal Nachbarn, denen das Mehl ausgegangen war, oder Vertreter verirrten sich zu ihm.



Viel zu spät erkannte er seinen Irrtum.



Den größten Teil seines Lebens hatte er danach gestrebt, frei zu sein. Nichts erschien ihm wichtiger.



Nun war er es endlich – frei. Frei von Zwängen, Vorschriften und Aufgaben. Er konnte tun, was immer er wollte, und gehen, wohin es ihn trieb.



Es war schrecklich.



Denn er war auch frei von jeglicher Gesellschaft, und er musste erkennen, dass er sein Leben lang den falschen Zielen nachgejagt hatte. Jetzt war es zu spät.



Verzweifelt starrte er die kahle Wand an – eine von insgesamt vier kahlen Wänden in einem geschmacklosen Zimmer. Sollte er sich wirklich die Mühe machen aufzustehen? Und wenn ja: wozu?



Irgendwann würde er einfach aufhören zu leben. Wenn undurchsichtige biologische Prozesse, Insekten und vielleicht auch ein paar Mäuse ihre Arbeit verrichtet hatten, würde nichts mehr von ihm übrig bleiben. Nicht einmal eine Erinnerung.



Überwunden geglaubte Paranoia übernahm die Kontrolle und löste bereits bekannte Anzeichen aus – Schwitzen, Herzrasen und ein unangenehmes Zucken des linken Augenlids. Doch seine depressiven Gedanken ließen sich davon nicht aufhalten. Im Gegenteil. In allen Einzelheiten verweilten sie bei der Aussicht auf sein einsames Ableben.



Falls ihn ein verirrter Postbote noch vor seiner völligen Auflösung fand, stand dem eine unappetitliche Überraschung bevor. Mitleid regte sich. Vielleicht sollte er ein Warnschild an der Tür anbringen.



Oder auch nicht. Im Grunde war es egal. Er selbst existierte dann nicht mehr. Also musste ihm auch nichts mehr peinlich sein. Sich schon jetzt im Voraus zu schämen, erschien wenig sinnvoll. Wo auch immer er sich dann befinden würde – schlimmer als hier konnte es nicht sein.



Die Option zu sterben gewann an Reiz.



Er dachte an die gestrige Entdeckung. Was für ein entsetzlicher Tag. Gestern war er wider besseres Wissen doch aufgestanden und auf den Berg hinter seinem Haus gestiegen.



Er wusste nicht genau, was Menschen dazu trieb, auf Berge zu klettern. Man konnte dort nichts weiter tun, als herunterzuschauen und sich Sorgen zu machen, wie man wieder nach unten kam. Auf diesem Berg traf man noch nicht mal andere Menschen, da sie ihn aus unerklärlichen Gründen mieden.

*



Aus einer seltsamen Laune heraus war er dennoch hinaufgestiegen. Er war nicht mehr der Jüngste, trotzdem hatte er sich unzählige Stufen, die vor längst vergessenen Zeiten mühsam in die Felsen geschlagen worden waren, hinaufgequält.



 Als er endlich oben angelangt war, bot sich ihm nicht die erhoffte schöne Aussicht. Dicke Wolken wussten dies zu verhindern. Statt dessen fand er einen toten Zwerg. Einen echten Zwerg, ganz offensichtlich erschlagen – wie es aussah, mit seiner eigenen Axt.



Er fragte sich nicht, was dieser Zwerg ausgerechnet hier zu suchen hatte. Dafür waren seine deprimierten Sinne bereits zu abgestumpft. Aber die Tatsache, dass der Zwerg erschlagen wurde, bevor er ihn getroffen hatte, erschütterte ihn zutiefst.



Dabei sehnte er sich doch verzweifelt nach Gesellschaft.



Welcher Art auch immer.




***





Eine Tafel Schokolade wechselte den Besitzer. Frodewin und Lauritz machten es sich hinter dem Fernrohr bequem und nahmen zielstrebig das Haus der Wunderlichs ins Visier.



Nach der Rückkehr aus Glücksstädt erfreute sich dieses Objekt bei den Zwergen allergrößter Beliebtheit und es gab Wartelisten für den Wachdienst am Fernrohr. Geschickt ausgewählte Geschenke konnten zu spontanen Veränderungen der Reihenfolge der Anwärter führen, weshalb Lauritz jetzt schon den zweiten Tag nacheinander hier saß und Frodewin als Herr über die Listen (und das Fernrohr) über ein breiteres Sitzkissen nachdachte. Vielleicht war Schokolade doch keine so gute Idee. Erstaunlich, wie Lauritz es anstellte, immer an die beste Schokolade heranzukommen. Die von der Sorte, bei der man nicht aufhören konnte.

*



»Und? Ist jemand zu Hause?«, fragte Frodewin mit vollem Mund. Sein gelangweilter Blick streifte einen großen, mit Tüchern verhangenen Gegenstand.



SUSI.



Nach den Ereignissen im Juli war die Benutzung der Transportmaschine strengstens verboten und ein großes Schloss angebracht worden. Doch das schien überflüssig. Es hätte sich kein Zwerg gefunden, der sich freiwillig diesem Risiko ausgesetzt hätte. Nicht nachdem alle mitansehen konnten, was SUSI aus Ken gemacht hatte.



»Hmm«, murmelte Lauritz und sah gebannt in das Fernrohr. »Alle beide.«



Letzteres bezog sich auf Herrn Wunderlich und Emily, denen in letzter Zeit ganz besonderes Interesse galt.



Anfangs war es auch noch recht spannend gewesen, Frau Wunderlich zu beobachten. Das Eheleben der Wunderlichs war ziemlich unterhaltsam. Doch dann zog Emily probeweise ein und stellte das beschauliche Leben ihres neuen Versuchspapas auf den Kopf.



Herr Wunderlich war eindeutig überfordert. Vater zu werden hatte er sich irgendwie anders vorgestellt. Vor allem nicht so abrupt. Ein werdender Vater sollte während der üblichen Schwangerschaftsmonate zunächst einmal Gelegenheit erhalten, sich grundsätzlich mit der Tatsache der baldigen Vaterschaft anzufreunden. Ein erster Schritt. Der unvermeidlichen Geburt folgte dann normalerweise eine Phase, in welcher das Kind ausschließlich in den Zuständigkeitsbereich der Mutter fiel und der Vater das Ganze aus sicherer Entfernung beobachten konnte. Herrn Wunderlich war zwar zu Ohren gekommen, dass die Väter von heute zunehmend Anspruch auf Einbeziehung erhoben, aber er bevorzugte die jahrtausendelang bewährte altmodische Methode, nach welcher der Vater gelegentlich ein frisch gebadetes und gefüttertes – vorzugsweise schlafendes – Kind in den Arm gelegt bekam, welches beim geringsten Anzeichen von Aktivität von der fürsorglichen Mutter wieder entfernt wurde.



Später ließ es sich zwar nicht vermeiden, dass Kinder zu sprechen begannen, doch auch das war eine längerfristige Entwicklung. Zumindest sollte es so sein.



Niemals, unter gar keinen Umständen, hatte er damit gerechnet, sofort mit einem halbwüchsigen Kind konfrontiert zu werden, das nicht nur fließend sprach, sondern dabei auch noch überraschend schlüssig und überzeugend argumentierte und bei jeder Gelegenheit widersprach.



Zu alledem musste er erkennen, dass er während seines schönen früheren Lebens auf männlichen Nachwuchs programmiert gewesen war, der, wenn er sprechen und laufen konnte, mit ihm Fußball schaute und ihm als Verbündeter gegen seine Frau zur Seite stand.



Die Realität hatte ihn überrannt und zu Boden geworfen, und Herr Wunderlich fühlte sich noch immer zu schwach, sich zu erheben.



Emily hingegen hatte jene Kindheitsphasen, in welchen man seine Eltern vorbehaltlos liebte und ihnen alles fraglos abkaufte, ausgelassen und war in etwa an dem Punkt eingestiegen, an welchem einem Eltern peinlich waren. Das bedeutete selbst für jahrelang gewachsene Eltern-Kind-Beziehungen eine harte Belastungsprobe und für die heimlichen Zuschauer jede Menge Spaß und Unterhaltung.



Lauritz grinste in sich hinein, als Herr Wunderlich den Fehler beging, Emily hoffnungsvoll zu fragen: »Möchtest du nicht lieber wieder hochgehen und mit deiner Puppe spielen?«



Schon wieder. Manche lernten es echt nie.





***





Hinter einem Berg aus Büchern raschelte Papier und Manfred glaubte, ein Schniefen hören zu können. Constantins Kopf kam zum Vorschein.



»Bist du schon lange hier?« fragte der misstrauisch.



»Wieso?« erwiderte der Kobold und musterte Constantin. Es war nicht zu übersehen, dass es diesem gut ging. Die gesunde Gesichtsfarbe war vermutlich auf die frische Luft hier zurückzuführen, die dafür sorgte, dass sämtliche vorstehenden, unbehaarten Gesichtsteile die Farbe von Weihnachtsäpfeln annahmen. Doch es war nicht nur das. Constantins Ruhelosigkeit war verschwunden. Wie es aussah, hatte er mit seiner Situation Frieden geschlossen und zudem begonnen, sich mit seiner eigentlichen Bestimmung zu beschäftigen und zu lernen, der Weihnachtsmann zu sein. Er schien sogar Spaß daran zu finden. Wenngleich er das niemals zugegeben hätte.



Constantin wischte sich hastig über die Augen und hoffte, dass der Kobold die feuchten Stellen nicht bemerkte. Verwirrt fragte er sich, was in letzter Zeit mit ihm los war. So was passierte ihm neuerdings häufiger, obwohl es keinen Grund dafür gab. Vielleicht sollte er mal seine Augen untersuchen lassen.



Noch immer machte ihm das letzte Dreivierteljahr zu schaffen. Kein Wunder. Er war der Weihnachtsmann. Das konnte nicht jeder von sich behaupten.



Darüber hinaus hatte er so etwas Ähnliches wie Untertanen, auch wenn er sich niemals trauen würde, das laut zu sagen. Viele, äh, Wesen kümmerten sich um ihn und waren um sein Wohl besorgt. Etwas vollkommen Neues für ihn, und er genoss es. Fleißige Zwerge kochten und putzten, und irgendjemand legte ihm jeden Morgen frische Sachen raus.

 



Er hatte sogar Freunde, wenngleich diese mit seinen Knien sprachen, wenn sie vor ihm standen. Selbst in der richtigen Welt hatte er jetzt mehr Freunde als jemals zuvor. Und sie alle schrieben ihm Briefe.



Constantin hatte vorher nie Briefe bekommen. Jedenfalls keine freundlichen. Im Gegenteil. Post hatte früher immer etwas Bedrohliches an sich gehabt.



Erwin, Willi, Emily – selbst Frau Wunderlich hatte ihm einmal in der typischen Schönschreibschrift einer Grundschullehrerin eine förmliche Mitteilung übersandt und um Berücksichtigung der neuen Anschrift von Emily zum nächsten Weihnachtsfest gebeten. Außerdem enthielt der Brief ein dickes, rotes P.S.: Wenn ich herausfinde, dass ich von Zwergen beobachtet werde, ziehe ich den kleinen Rüpeln die Ohren so lang, dass keine Mütze mehr drüberpasst.



Noch etwas war neu für Constantin. Er hatte jetzt eine Aufgabe. Dazu eine, die Kinder glücklich machte. Jedenfalls die braven. Zumindest hoffte er das. Genau würde er es wohl erst nach dem nächsten Weihnachtsfest wissen.



Gerade eben hatte er den letzten Brief von Erwin zum dritten Mal gelesen und nachgedacht.



Er hegte den dringenden Verdacht, glücklich zu sein. Doch er war sich nicht sicher. Mit positiven Gefühlen kannte er sich nicht sonderlich gut aus.



Wenn er an die Dauer seiner unfreiwilligen Aufgabe dachte, befiel ihn noch immer Panik. Solange er diesen Gedanken verdrängte, fühlte er sich jedoch ganz wohl. Und gesünder, als er sich jemals zuvor gefühlt hatte.



Irgendein Zwerg hatte ihm das mal erklärt. Der Weihnachtsmann konnte nicht krank werden. Egal wieviel er aß und wie ungesund er lebte – um Dinge wie Cholesterin, Bluthochdruck oder Magengeschwüre musste er sich keine Gedanken machen. Gutes Essen und ein gewisser Körperumfang bei gleichzeitigem Wohlbefinden gehörten sozusagen zum Job.



Der Kobold hatte eine Weile lang interessiert zugeschaut, wie sich Constantin bemühte, gefasst auszusehen. Schließlich gab er sich einen Ruck. »Die neue Post ist da.«



Constantins Augen leuchteten auf, doch Manfred schüttelte den Kopf. »Diesmal leider nichts für dich persönlich. Nur allgemeine Wunschpost.«



Mist.



Constantin war verblüfft gewesen, wie viele Wunschzettel jetzt schon eintrafen. Welche Ausmaße würde das erst im Advent annehmen?



Normale Standard-Wunschzettel wanderten sofort in die Wunschpostsortierabteilung. Davon abweichende Briefe wurden jedoch dem Weihnachtsmann zur Durchsicht übergeben – also die mit außergewöhnlichen Schicksalen, Drohungen, Erpressungen – und die von penetranten Nörglern.



Constantin fragte sich, was aus solchen Kindern werden sollte, wenn sie erwachsen waren. Wer schon als Kind am Weihnachtsmann herummeckerte, hatte später entweder eine großartige Karriere als Politiker oder Filmkritiker vor sich, oder aber er besetzte Häuser und wurde zum Albtraum aller Therapeuten.



»Denkst du noch an die Versammlung?« erinnerte der Kobold, der gleichzeitig die Aufgaben des Postzwerges, Constantins persönlichem Assistenten und eines Kuriers für heimliche Geschäfte wahrnahm. Letzteres verdankte er seiner Fähigkeit, von jetzt auf gleich überallhin verschwinden zu können, was ihm einen dankbaren Kundenkreis bescherte.



»Welche Versammlung?« fragte Constantin zerstreut, während er argwöhnisch auf einen roten Umschlag starrte, auf dem in großen Buchstaben »AN DEN TYPEN IM ROTEN MANTEL – LETZTE WARNUNG« stand.



Offensichtlich gab es auch unter kleinen Kindern Terroristen.



Der Kobold verdrehte die Augen. »Die große Versammlung. Heute.«



»Bist du dir sicher? Gab es nicht erst eine Versammlung?«



»Sogar zwei. Und du warst jedes Mal dabei.«



»Äh, ja. Richtig. Allmählich verliere ich den Überblick«, seufzte Constantin. Aus irgendeinem geheimnisvollen Grund nahm das mit den Versammlungen in letzter Zeit überhand.



Zuerst gab es eine nach ihrer Rückkehr aus Glücksstädt. Constantin musste zugeben, dass die notwendig war, da weder Zwerg noch Mensch wusste, was jetzt eigentlich los war und wie es weiterging. Neben der Klärung derartiger grundlegender Angelegenheiten war Svante zum Zwerg des Monats gewählt worden. Das hatte zu interessanten Reaktionen geführt, insbesondere bei Wilbert.



Dieser nahm daraufhin den Kampf auf und berief eine weitere Versammlung ein, bei welcher er den verblüfften Zwergen eröffnete, Lehrgänge für Mitarbeitermotivation und -führung für unerlässlich zu erachten. Die jüngsten Ereignisse hätten das deutlich bewiesen. Darüber hinaus verpflichtete er sich, sofort die entsprechenden Themen auszuarbeiten und kurzfristig Lehrgangstermine bekannt zu geben, was bei den anderen Zwergen für einige Unruhe sorgte.



Und damit nicht genug.



Der Himmel wusste wie, aber Wilbert hatte irgendwo eine Broschüre über eine Lachtherapie in die Finger bekommen.



Sah man einmal von rätselhaften Ausnahmen wie Lauritz ab, lachten Zwerge ausgesprochen selten. Allenfalls lächelten sie, wenn es sich nicht verhindern ließ, was bei den meisten Zwergen einer Grimasse gleichkam.



Wilbert führte die kürzlichen Probleme auf das mürrische Grundwesen der Zwerge zurück und vertrat nun die Auffassung, dass häufigeres Lachen zu positiven Änderungen des Arbeitsklimas, Stressabbau und einer Verbesserung der Grundstimmung führen würde. Zumindest las er das aus seiner Broschüre heraus, die er so fest umklammert hielt, dass man meinen könnte, sie enthielt die Antwort auf die letzten großen Rätsel der Welt.



Wilbert kündigte an, mit den lachunfähigsten Zwergen zuerst anzufangen, was zu gequält grinsenden Gesichtern überall dort führte, wo Wilbert zufällig auftauchte.



Der Kobold musterte Constantin. »Diesmal hat Humbert die Versammlung einberufen, also scheint es um etwas Wichtiges zu gehen.«



Schon meldete sich wieder ein altvertrautes, flaues Gefühl in Constantins Magen. Wenn es etwas Wichtiges war, konnte es eigentlich nichts Gutes sein. Das hatte ihn seine jahrelange Erfahrung gelehrt.



Er hätte es kommen sehen müssen. In den letzten Tagen war es ihm viel zu gut gegangen, als dass dieser Zustand von Dauer sein könnte.



Er warf einen Blick aus dem Fenster und sah zu, wie sich dichter Nebel durch die tief verschneiten Häuser und Straßen wälzte. Sein Haus war aus anatomischen Gründen bedeutend größer als die der Zwerge und stand überdies auf dem höchsten Punkt der Stadt. Damit hatte er einen wunderbaren Ausblick. Außerdem war es so für die Zwerge einfacher, ihn im Auge zu behalten, argwöhnte er.



Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er eine schöne Aussicht. Wenn nur der ewige Schnee nicht wäre. Aber wenigstens war dieser hier weiß. Der traurige Schnee, den er von zu Hause aus früheren Wintern kannte, nahm zumeist in kürzester Zeit recht unappetitliche Farben an – dank wechselnden Temperaturen, Autos und der Tatsache, dass auch Hunde einen Stoffwechsel besaßen. Hier hingegen glänzte, glitzerte und knirschte der Schnee genauso, wie man es von ihm erwartete.



Constantin gab sich einen Ruck, griff nach den Briefen und begann zu lesen. Verwirrt hielt er inne und suchte den Umschlag nach einem Absender ab.



»Wie alt ist die noch mal?«



»Wieso?«



»Na…, die wünscht sich eine neue Gefriertruhe, ein Bügeleisen, das nicht pfeift, einen Haartrockner, aus dem keine Flammen schlagen, eine Matratze, die nicht piekst, und, äh…«, mit rotem Kopf zeigte Constantin auf ein kleines Bild.



Der Kobold musterte mit gerunzelter Stirn das Bild. »Was steht denn daneben?«



»Wo? Ach, hier. Warte..., etwas, das eine Frau mit Bedürfnissen braucht, wenn sich ihr Typ nur zu Weihnachten blicken lässt.« Ratlos starrte Constantin auf das Bild.



»Da unten steht noch was«, meinte Manfred und zeigte ans Ende des ungewöhnlichen Wunschzettels.



Constantin hielt den Brief näher ans Gesicht, um die winzige Schrift erkennen zu können. »Diese Dinge sind ja wohl das Mindeste, das du tun kannst. Schließlich zahlst du seit elf Jahren keinen Unterhalt und kümmerst dich nie um die Kleine (die paar Weihnachtsgeschenke gleichen das ja wohl kaum aus).«



»Oh.«



Constantin begann zu grinsen. »Nun…, damit wäre Erwins Frage wohl beantwortet. Er ist offensichtlich nicht der Einzige.«





***





Erwin schrieb schon wieder an Constantin, den ersten richtigen Freund, den er in seinem Leben gefunden hatte. Dass dieser auch noch der einzige echte Weihnachtsmann und deshalb immer weit weg war, spielte nur eine Nebenrolle.



Endlich gab es jemanden, dem er sein Herz ausschütten konnte. Und derzeit gab es sehr viel auszuschütten.



Erwins Briefe schwankten zwischen Euphorie und Verzweiflung, mitunter in ein und demselben Satz.



Seinen priesterlichen Beruf hatte er aufgegeben, was angesichts seiner wirren und etwas beängstigenden Begründung von seinem Arbeitgeber überraschend schnell und unbürokratisch akzeptiert wurde. Vielleicht hatte auch seine letzte Predigt zu der zügigen Entscheidung beigetragen. Erwin hatte es zum ersten Mal während seines priesterlichen Daseins geschafft, das Publikum zu fesseln. Eigentlich hatte er nur vorgehabt, über Dinge zu sprechen, die von Menschen nicht gesehen werden können und dennoch existieren. Als er etwas konkreter wurde und die Gesichter ihn gebannt anstarrten, ging es mit ihm durch. Euphorisch erzählte er, was ihm passiert war, und machte dabei auch vor Zwergen, Kobolden, dem Weihnachtsmann und seiner eigenen Herkunft nicht Halt.



Danach ging alles sehr schnell. Vermutlich war man froh, ihn so schnell und unproblematisch loszuwerden, ohne für einen teuren Therapieplatz aufkommen zu müssen.



Dafür gab es jetzt etwas Neues in seinem Leben – die Liebe. Und zwar in Person der Hippieladenverkäuferin, die den Namen Phoebe trug und drei Tage nach ihrem ungewöhnlichen Aufeinandertreffen bei ihm einzog. Nicht dass er dabei etwas mitzureden gehabt hätte. Frauen ließen Männern wie Erwin in solchen Dingen nur selten eine Wahl.



Verwirrt hatte sie feststellen müssen, dass Erwin nicht allein, sondern bei seiner Mutter wohnte. Nach nicht ganz zwei Tagen hatte sie sich mit Erwins Mutter völlig überworfen – mit dem Ergebnis, dass sie Hals über Kopf nicht nur ihre, sondern auch Erwins Koffer packte und alles samt dem sprachlosen Erwin in ihre noch ungekündigte Einraumwohnung transportierte. Und dort saß er nun.



Er hatte bereits den Rat eines ausgebildeten Diplompsychologen eingeholt, dessen Telefonnummer in der Frauenzeitschrift seiner Mutter abgedruckt war, zusammen mit dem Versprechen, dass er in allen Lebenslagen kompetente und garantiert kostenlosen Hilfe anbieten konnte. Das Telefonat kostete Erwin dreiundzwanzig Euro und half ihm nicht im Geringsten weiter. Es bescherte ihm höchstens zusätzlichen Ärger, sobald Phoebe die nächste Telefonrechnung erhielt.



Er hatte es daraufhin mit der altbewährten Methode der Gegenüberstellung sämtlicher Für-und-Wider-Argumente versucht – mit dem Ergebnis, dass er auf beiden Seiten genau einunddreißig Punkte stehen hatte. Und ihm wollte einfach kein weiteres Argument einfallen.



So hatte er sich das nicht vorgestellt. Sicher, das Kribbeln im Bauch war ganz aufregend, und es gab durchaus sehr schöne – und für seine unerfahrene Männlichkeit überraschende – Momente. Doch manchmal fragte er sich, ob es wirklich den ganzen Ärger drumherum wert war.



Phoebe ihrerseits hatte eine eigene Theorie entwickelt.



Die Wohnung war zu klein. In einer Einraumwohnung begegnete man sich einfach zu oft.



In letzter Zeit hatte sie deshalb die kundenfreien Zeiten ihres Ladens genutzt, um in Zeitungen und Internet nach einer neuen, großen Wohnung zu suchen. Hatte sie etwas Vielversprechendes gefunden, schloss sie kurzerhand den Laden und holte Erwin zur Wohnungsbesichtigung ab. Das war bislang schon viermal passiert und Erwin hoffte inständig, dass er dieser Tortur nicht noch einmal ausgesetzt sein würde.



Die letzte Wohnung hatte gute Chancen, sein neues Zuhause zu werden. Immerhin plante Phoebe schon die Inneneinrichtung.



Frauen bei der Nestsuche waren unberechenbar und es schien praktisch unmöglich, sie zufrieden zu stellen. Diese Steckdose war zu weit links, die Tür zu weit rechts (da passt das weiße Schränkchen nicht hin, du weißt schon, dass mit der klappernden Schublade, die du schon längst reparieren solltest). Der eine Raum war nicht sonnig genug, im nächsten blendete die Sonne und das war nicht gut für die Pflanzen. Die Fliesen im Bad waren zu bunt, die weißen in der Toilette dafür zu einfallslos, und Sprossenfenster putzen zu müssen ging schon mal überhaupt nicht.

 



Erwin hatte probiert, ob die Toilettenspülung funktioniert, und war anschließend bereit gewesen, den Mietvertrag zu unterschreiben.



In der dritten Wohnung war dann ein Wort gefallen, das ihn erstarren ließ und irrationale Ängste hervorrief. Phoebe fragte den potentiellen Vermieter erwartungsvoll nach dem Kinderzimmer.



Kinder! Dieses Wort ließ Erwin die Haare zu Berge stehen. Der Gedanke, selbst welche in die Welt zu setzen, war ihm bislang überhaupt noch nicht gekommen, da dieses Thema bis vor kurzem auf der großen roten Strengstens-Verboten-Liste ganz oben stand. Außerdem war er nach seinen bisherigen Begegnungen mit Kindern zu der Erkenntnis gelangt, dass er diese nicht besonders gut leiden konnte.



Die Kontakte zu Kindern beschränkten sich in seinem früheren Leben auf die Kirche, wo sich Kinder während der Gottesdienste die Seele aus dem Leib brüllten und ihre Eltern von seinen aufwendig ausgearbeiteten Predigten ablenkten. Oder kicherten, wenn sie ihn sahen.



Täuflinge waren noch schlimmer. Bestenfalls schrien sie nur, wenn sie ihn erblickten. Besonders kritisch wurde es, wenn er das zu taufende Kind in den Arm gelegt bekam. Erwin fragte sich, was Eltern ihren Kindern vor einer Taufe zu essen gaben, dass es auf seiner Kleidung regelmäßig Kotzflecken verursachte, die nie wieder rausgingen.



Waren die Täuflinge größer und konnten schon sprechen und laufen, wurde es noch unberechenbarer, da die Kinder entweder peinliche Fragen stellten (Wieso hat der komische Onkel ein Kleid an?) oder ausrissen. Nicht selten hatte er mit wehenden Röcken und rotem Kopf hinterherrennen oder Antworten finden müssen, während die entzückten Eltern aufgeregt dafür sorgten, dass die Videokamera auch alles richtig aufzeichnete.



Eine Dreijährige hatte mal zu ihm gesagt: »Mein Kleid ist ja viel schöner als deins!«, und dabei stolz auf den Alptraum in rosa gezeigt, in den sie gehüllt war. Dafür hatte er sie dann mit dem Wasser besonders großzügig bedacht, sodass der rosa Alptraum tropfend mit wütenden Eltern hinausstapfte und heulte: »Mama, der hässliche Mann hat mich nass gemacht!«



Nein. Erwin konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, selbst ein Kind zu haben. Das gehörte in seiner Welt ganz klar zu den Plagen, die nur andere Leute befielen.



Zu schade, dass er nicht mehr Herr seiner eigenen Welt war.





***





Frau Wunderlich kam gerade rechtzeitig von ihrem Besuch bei der Kosmetikerin zurück, um die Eskalation des Streits um die Fernbedienung zwischen ihrem Mann und ihrer neuen Tochter zu verhindern.



Sie ging neuerdings regelmäßig zur Kosmetik und kränkte damit ihren Mann. Vor reichlich zwei Jahren hatte der ihr nämlich nach einem Tipp von jemandem, den er bis dahin für einen guten Freund gehalten hatte, einen Kosmetikgutschein geschenkt. Sein Stolz auf diese außergewöhnlich kreative Geschenkidee verflog nach Überreichen des Gutscheins recht schnell. Stattdessen musste er die folgenden drei Nächte auf dem unbequemen Sofa im Arbeitszimmer verbringen.



Herr Wunderlich rätselte noch heute, was an diesem Geschenk falsch gewesen sein sollte. Jeder hätte bei halbwegs objektiver Betrachtung zugestimmt, dass Frau Wunderlich eine solche Behandlung gut tun würde.



Jetzt kamen diese Zweifel erneut auf, zumal seine Frau nun gutes Geld dafür ausgab, den ebenfalls nicht billigen Gutschein jedoch achtlos verfallen ließ.

*



Frau Wunderlich selbst wäre noch bis vor wenigen Wochen nicht im Traum darauf gekommen, sie könne eine kosmetische Behandlung benötigen. Aber zum einen musste sie erkennen, dass ihr die durch Ken verabreichte Verschönerungsaktion gut getan hatte (wenn man mal von der vielen Farbe absah), und zum anderen hatte sie jetzt eine Tochter. Das veränderte alles.



Es würde nicht lange dauern, bis diese alt genug war, dass sich junge, attraktive Männer nach ihr umdrehten. Wenn dieser Zeitpunkt gekommen war, wollte Frau Wunderlich auf keinen Fall für Emilys Mutter, sondern allenfalls für ihre Schwester gehalten werden.



Als Frau Wunderlich das Haus betrat und durch lautes Rufen deutlich machte, dass sie jemanden zum Tragen der Einkaufstüten brauchte, warf Herr Wunderlich die bis dahin tapfer verteidigte Fernbedienung hastig auf den Tisch und eilte seiner Frau entgegen.



In letzter Zeit waren ihre Launen noch unberechenbarer geworden und er sollte sich nicht schon wieder ihren Unmut zuziehen. Außerdem hielt er es für ratsam, den Inhalt der Einkaufstüten überprüfen, um gegebenenfalls Vorsorgemaßnahmen er