Verflixt und ausgesperrt!

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Herr Wunderlich war überrascht, nach seiner Meinung gefragt worden zu sein.

»Äh …, braucht man dafür nicht einen Baum?«

»Nicht unbedingt!«

Herr Wunderlich fragte sich besorgt, was im Kopf seiner Frau vorging. Da er sie schon eine Weile kannte, ahnte er, dass es darauf hinauslief, dass er sich etwas einfallen lassen musste. Typisch Lehrerin. Sie gab das Ergebnis vor und er musste den Lösungsweg finden. Auch wenn dieser durch einen Irrgarten führte.

»Meinst du nicht, dass sie dafür schon etwas zu alt ist?« wagte er einen Vorstoß. Seine Laune sank rapide. Da waren sie nun endlich einmal allein, weil Emily sich unwohl fühlte. Und was tat seine Frau? Na? Sie plante Dinge, die er für Emily erledigen musste.

Eigentlich hatte er gehofft, diese kurze Zeit anders nutzen zu können. Für Zweisamkeit. Ihm war gar nicht bewusst gewesen, wie sehr er diese brauchte.

Da lebte man jahrelang zu zweit nebeneinander her und wusste das nicht zu schätzen. Und jetzt war es zu spät. Sie waren zu dritt und es würde vermutlich zehn und mehr Jahre dauern, bis sich das wieder änderte. Wenn es ganz schlimm kam, wären sie nie wieder zu zweit, da Emily vermutlich irgendwann damit beginnen würde, Enkel in die Welt zu setzen.

Meine Güte. Dann wäre er Opa.

Aus der Zweisamkeit schien jedenfalls nichts zu werden. Erst recht nicht aus romantischer Zweisamkeit. Emily schien immer präsent zu sein, auch wenn man sie nicht sah oder hörte.

Frau Wunderlich sah ihn überrascht an. »Aber sie ist doch noch ein Kind!«

»Ja. Aber wie lange noch?«

»Na und? Dann spielt eben das Nächste damit«, sagte Frau Wunderlich unbekümmert.

Im selben Augenblick fiel ihr ein, dass sie es versäumt hatte, ihren Mann über ihre diesbezüglichen Absichten zu unterrichten.

Herr Wunderlichs Augen traten aus ihren Höhlen, was ihn nicht vorteilhafter aussehen ließ.

»W-welches Nächste?« keuchte er. »Hast du etwa …«

»Nein, natürlich nicht«, beeilte sich Frau Wunderlich zu sagen.

Herr Wunderlich war sich da nicht so sicher. Familienzuwachs sollte zwar ein Thema sein, bei welchem beide Partner etwas mitzureden hatten. Aber wenn man berücksichtigte, wie er zu Emily gekommen war, war seine Skepsis verständlich.

Verwirrt floh er zurück ins Haus, bevor Frau Wunderlich ihm noch weitere erschreckende Neuigkeiten mitteilen konnte. Er musste nachdenken.

Gleich am Montag würde er in die Bibliothek gehen. Nicht wegen Gartenbüchern, sondern um etwas zu finden mit dem Titel Wie baue ich ein Baumhaus ohne Baum. Oder so. Und vielleicht auch einen Ratgeber für kinderreiche Familien.

Ach nein. Am Dienstag würde er dorthin gehen. Am Montag musste er ein Bett kaufen.

***

Eltern betrachten gern ihre schlafenden Kinder.

Das lag daran, dass selbst die schlimmsten Rüpel im Schlaf wie kleine Engel aussahen. Verzweifelten Eltern gab dieser Anblick Hoffnung. Vielleicht wachte der oder die Kleine dieses Mal auf, ohne unmittelbar danach die schreckliche Metamorphose zum Monster zu durchlaufen. Vielleicht benahm sich das Kind endlich einmal so, wie es nachts aussah.

Wenn sich das Früchtchen dann tatsächlich so benahm, wurden besorgte Eltern noch besorgter.

Entweder führte ihr Kind etwas ganz besonders Hinterhältiges im Schilde oder es hatte bereits etwas Schreckliches angestellt oder es wurde krank. Die Optionen bei plötzlich auftretendem Sanftmut waren auf diese drei Möglichkeiten beschränkt. Alles andere wäre zu realitätsfern.

Auch Humbert betrachtete seinen schlafenden Sohn gerne und oft. Auch wenn das in diesem Kindesalter etwas seltsam anmutete. Doch er hatte vorher nie die Gelegenheit dazu gehabt, weil er nichts von der Existenz seines Sohnes wusste. Und jetzt gab es Gelegenheiten in Hülle und Fülle, weil Nagut tagsüber schlief. Auch wenn ihm das zunehmend schwer fiel.

Hier in Zipfelbergen musste Nagut seine Arbeiten nicht heimlich verrichten. Warum also, fragte er sich, sollte er das nicht tagsüber tun, wenn er nicht ständig Gefahr lief, über Dinge zu stolpern oder gegen irgendetwas zu stoßen?

Dieser Rhythmus hatte zwar sein ganzes bisheriges Leben bestimmt, aber er lag ihm nicht im Blut. Er spürte deutlich, dass er sich als Tagzwerg wohler fühlen würde. Doch die anderen Heinzelmännchen konnten sehr frostig reagieren, wenn einer gegen die Regeln verstieß.

Humbert spürte die stärker werdenden Zweifel seines Sohnes ebenfalls. Und er hoffte.

***

»Bist du dir sicher, dass du die heiraten willst?«

Diese Frage brannte schon die ganze Zeit auf Constantins Seele, aber es wäre taktlos gewesen, sie in Phoebes Gegenwart auszusprechen. Jetzt saßen sie wieder in Phoebes alter Klapperkiste, die bei Tageslicht noch gefährlicher aussah als gestern Abend, und waren auf dem Weg zu Leonore.

Constantin war im Moment dankbar für Erwins Probleme, weil er so nicht über die immer näher kommende Begegnung mit seiner Schwester nachdenken musste. Ihm war schon ganz schlecht deswegen. Doch das konnte auch an Phoebes Essen liegen.

»Meinst du, ich hatte dabei etwas mitzureden?« gab Erwin unglücklich zurück.

»Äh. Na ja. Also … sie sprach davon, dass du ihr einen Heiratsantrag gemacht hast«, erwiderte Constantin verwirrt.

Er hatte sich fast an einem der harten, zusammengeklebten Spaghettiklumpen verschluckt, als Phoebe beim Essen euphorisch fragte: »Und? Hat Erwin dir schon die freudige Nachricht mitgeteilt?«

Während des Essens hatte sie immer wieder verstörte Blicke auf die Stelle geworfen, an der Manfred saß und mit den Spaghetti kämpfte. Irgendetwas Unsichtbares ließ dort Essen durch die Luft schweben und anschließend verschwinden.

Auch wenn Phoebe sich immer für jemanden gehalten hatte, der den übernatürlichen Mächten näher stand als die meisten anderen Menschen – das überstieg eindeutig ihre Schmerzgrenze. Überdies ärgerte es sie, dass sie als Einzige am Tisch das Wesen nicht sehen konnte.

»Ja. Das behauptet sie«, sagte Erwin anklagend. »Ich habe einfach nur geredet, ohne nachzudenken. Und dabei ist mir offensichtlich versehentlich die falsche Formulierung herausgerutscht, und sie …«

»Wie formuliert man denn aus Versehen eine Heiratsantrag?« fragte Constantin beeindruckt.

»Hast du eine Ahnung. Das geht schneller, als man denkt. Ich habe nur gesagt meine Frau, und schon war ich verlobt.«

»Unsinn.«

»Nein, wirklich! So war es.«

»Und wieso hast du das nicht sofort richtig gestellt, bevor sie das Aufgebot bestellt?«

»Ha!«

»Was?«

»Das sagst du so einfach.«

»Ja. Und? Egal wie sie reagiert – es wird doch wohl kaum schlimmer sein als eine Ehe, die du gar nicht willst!«

»Na ja. Eigentlich weiß ich gerade nicht so genau, was ich will.« Constantin sah seinen Freund ungläubig an. Doch der sprach weiter. »Sie geht mir ja schon ganz schön oft auf die Nerven, und sie kommandiert mich herum, wie …, äh, wie meine Mutter. Aber dann …, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll – nun, sie ist eben eine Frau. Meine Frau«, fügte er trotzig hinzu.

»Weiber«, brummte Constantin. »Die können einen ganz schön verrückt machen.«

»Du sagst es«, erwiderte Erwin erleichtert.

Lauritz meldete sich zu Wort. »Ich weiß, was dir helfen könnte.«

»Ach ja? Und was wäre das?«

»Werde wieder Priester. Dann darfst du nicht heiraten.«

»Das wäre eine Möglichkeit«, räumte Constantin ein.

»Nein«, sagte Erwin mit fester Stimme. Er wusste genau, dass er außerstande wäre, all den schönen Dingen mit Phoebe zu entsagen. Auch wenn ihm dann die ganzen anderen Dinge erspart blieben.

Außerdem bezweifelte er, dass ihn die Kirche zurücknehmen würde. Die Botschaft der letzten Unterhaltung mit dem Bischof war deutlich gewesen. Die Kirche hatte schon genug Ärger mit den Priestern, die nicht unter Halluzinationen litten.

»Dann such dir wenigstens eine andere. Eine, die kochen kann zum Beispiel«, schlug Manfred vor. Sein Magen kämpfte noch immer mit dem Mittagessen und hatte schon mehrere Versuche unternommen, es zurückzuschicken.

»So einfach ist das nicht«, erwiderte Erwin aufgebracht. »Außerdem glaube ich, dass ich Phoebe liebe.«

»Echt jetzt?« fragte Lauritz verblüfft.

»Oh Mann«, murmelte Constantin. So war das mit der Liebe. Ständig kam sie einem in die Quere. Er hatte da schon Sachen gehört …

»Und ich glaube, sie erwartet jetzt, dass ich ihr einen Ring schenke«, redete Erwin weiter.

»Nun, wenn du sie wirklich heiraten willst, dann solltest du das, denke ich, tun«, erwiderte Constantin schwach. »Wundert mich eigentlich, dass sie nicht schon einen ausgesucht hat.«

»Oh, das hat sie. Aber den kann ich nicht bezahlen.«

»Ah. Und … du bist dir wirklich sicher, dass du das möchtest?«

»Nein. Aber ich werde da nicht mehr rauskommen. Und ich glaube auch nicht, dass ich eine Bessere finde.«

»Nun gut. Wir werden in dieser Woche sowieso bei Willi und dem alten Lehmann vorbeischauen. Ich rede mal mit ihnen. Vielleicht können die was mit dem Preis machen.«

»Oh. Würdest du das für mich tun?«

»Ich kann es zumindest versuchen. Vielleicht ist Phoebe dann nicht mehr so sauer wegen der Reise.«

»Vielleicht«, bestätigte Erwin vage. Er glaubte eher nicht an diese optimistische Theorie. »Constantin, hör mal, da ist noch etwas.«

»Ich wusste es. Sie ist schwanger«, stöhnte Constantin.

»Nein, nein«, beeilte sich Erwin zu versichern. »Aber, äh …, also es läuft in etwa auf dasselbe hinaus. Sie hat es noch nicht so direkt gesagt, aber sie plant schon das Kinderzimmer und so.«

 

»Und?«

»Na – ich weiß nicht, ob ich Kinder mag. Und ob ich selber eins will.« Noch dazu, wenn Phoebe die Mutter war und die realistische Chance bestand, dass das Kind grundlegende Wesenszüge seiner Mutter erbte. Erwin war sich beinahe sicher, diesbezüglich auch eine gewisse Verantwortung gegenüber der Gesellschaft zu tragen. Aber das sprach er nicht laut aus.

»Ich glaube, da fragst du den Falschen«, sagte Constantin. »Ich konnte Kinder nicht mal leiden, als ich selbst noch eins war.«

»Ach. Meinst du nicht, dass du dann den falschen Job hast?« ertönte Lauritz’ Stimme.

»Hab ich mir den etwa ausgesucht?« fragte Constantin gereizt. »Außerdem ist das sehr wohl der richtige Job dafür. Schließlich muss ich Kinder so nur an einem einzigen Tag im Jahr ertragen. Und die Kinder, denen ich da begegne, sind daran interessiert, mich nicht zu verärgern. Ich lasse sie was aufsagen, drohe ihnen ein bisschen und drücke ihnen Geschenke in die Hand. Dann verschwinde ich wieder. Also alles bestens.« Hoffte Constantin. Er war sich seiner Sache nicht sicher, aber er glaubte mit jeder Faser seiner ungeübten Weihnachtsmannseele daran.

Lauritz verzichtete auf einen Kommentar. Constantin würde die Wahrheit noch früh genug herausfinden. Zum Beispiel darüber, dass sich dieser eine Tag dank magischer Unterstützung so in die Länge zog, dass beinahe ein ganzes Jahr hineinpasste. Und dass Constantin das anschließende Jahr in Zipfelbergen vollständig für die Regeneration benötigen würde. Selbst wenn er Kinder mochte.

»Oh mein Gott«, hauchte Constantin.

»Was ist?« fragte Erwin alarmiert.

»Da ist sie.«

»Wer denn?« Erwin sah sich um und erblickte eine junge Frau mit Einkaufstüten, die auf ein Haus zusteuerte.

»Leonore. Kannst du hier irgendwo parken?«

»Äh, ja. Siehst du eine Stelle, wo man vorwärts rein- und rausfahren kann?« fragte Erwin nervös und begann, hektische Aktivitäten einzuleiten.

»Wieso? Kannst du nicht rückwärts fahren?«

»Doch, doch, schon. Aber das Auto kann’s nicht. Der Rückwärtsgang ist kaputt.«

»Was? Wie…« Constantin fiel auf, dass sie tatsächlich nie rückwärts gefahren waren. Wenn Erwin wenden musste, hatte er stets großzügige Runden gedreht, und zwar vorwärts.

»Gibt es für so was nicht Werkstätten?« erkundigte sich Lauritz.

»Sicher. Sag das mal Phoebe.«

Constantin sah ihn schräg von der Seite an. »Du solltest wirklich mal mit ihr reden.«

»Reden?« fragte Erwin entsetzt.

»Ja, reden. Wie denken, nur lauter. Das Gegenteil von Schweigen. Wenigstens versuchen könntest du es mal. Ich meine … bei den ganzen Problemen müsstet ihr doch eine ganze Menge zu sagen haben. Der ganze andere Kram ist ja eure Sache, aber das hier geht zu weit. Es ist lebensgefährlich, mit so einem Auto herumzufahren!«

»Das bringt sowieso nichts«, behauptete Erwin und bekam es mit der Angst zu tun.

»Klar tut es das«, mischte sich Manfred ein. »Frauen lieben es zu reden.«

Oder zu schreien, dachte Erwin und fuhr eine Runde um den Häuserblock in der Hoffnung, eine passende Parkgelegenheit zu finden.

»Du solltest es natürlich geschickt anstellen und nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen. Die richtigen Worte, darauf kommt es an«, riet Constantin.

»Ach. Und was sind die richtigen Worte?«

»Woher soll denn ich das wissen? Meinst du, ich wäre allein und der Weihnachtsmann, wenn mir immer die richtigen Worte eingefallen wären? Oh, Mist. Halt! Fahr mal dort rein«, befahl Constantin eilig und zeigte in eine Nebenstraße. »Da scheint Platz zu sein.«

Erwin bog geistesgegenwärtig ab und hielt glücklich am Straßenrand an.

»Verdammt. Ich glaube, wir dürfen hier gar nicht parken«, stellte Constantin mit einem Blick auf den Schilderwald fest. »Nur als Anlieger.«

»Na dann ist doch alles gut. Wir haben schließlich ein Anliegen, oder?«

»Also ich glaube nicht, dass das …, ach, was soll’s. Wird schon gut gehen.«

Constantin ließ Lauritz in seinen Rucksack hopsen und setzte Manfred auf seine Schulter. Er hatte arge Bedenken, wie Leonore auf seine seltsamen Begleiter reagierte, aber er sah keine andere Möglichkeit, sie davon zu überzeugen, dass seine Geschichte stimmte.

Unsicher schaute er um die Ecke, hinter der er vorhin Leonore gesehen hatte.

Und da war sie.

Leonore stand noch immer vor ihrem Wohnhaus und sprach mit einer Frau, die ihm den Rücken zukehrte.

Constantin sank das Herz in die Kniekehlen und er überlegte, ob er nicht besser umkehren sollte. Was wollte er hier?

Aber Erwin gab ihm einen Schubs und Constantin stolperte in Leonores Sichtfeld. »Spinnst du?« fauchte er, doch es war zu spät. Sie hatte ihn entdeckt.

Überrascht blinzelte sie, dann riss sie die Augen auf. Und dann, ja, dann runzelte sie die Stirn und stemmte die Hände in die Hüften.

Constantin holte tief Luft und bemühte sich um ein gewinnendes Lächeln, doch seine Gesichtszüge verweigerten den Gehorsam. Ausgerechnet jetzt. Langsam ging er auf sie zu.

Die andere Frau drehte sich neugierig um und Constantin erstarrte. Ungläubig sah er sie an.

Fräulein Müßig! Und sie hatte mit Leonore geredet, was vermutlich bedeutete, dass Fräulein Müßig redete und Leonore zuhörte. Constantin konnte sich lebhaft vorstellen, was sie da zu hören bekommen hatte.

***

Fräulein Müßig schien es bei Constantins Anblick die Sprache verschlagen zu haben, aber leider nur kurz.

»Oh. Auch mal wieder hier. Und? Heute schon alte Damen bedroht?« fragte sie giftig, während Leonore die Stirn in Falten zog.

»Noch nicht«, erwiderte Constantin aufgebracht. »Und? Heute schon gezecht?«

»Constantin!« sagte Leonore geschockt.

»Siehst du?« wandte sich Fräulein Müßig empört an Leonore. »Hab ich es dir nicht gesagt?«

In Constantin stieg Zorn auf und brodelte genau da, wo er sich mühsam Worte für Leonore zurechtgelegt hatte. Das konnte nicht wahr sein. Was musste diese Schachtel ausgerechnet jetzt und hier auftauchen!

Leonore musterte misstrauisch Erwin, der hinter Constantin stand und Fräulein Müßig angstvolle Blicke zuwarf. »Sie kenne ich doch. Sie sind der verrückte Priester, der durchgedreht ist.«

»Äh, also…«

»Genau«, ereiferte sich Fräulein Müßig, rückte ihre Brille zurecht und fixierte Erwins zivile Kleidung. »Der war da auch dabei. Sind wohl rausgeflogen, wie? Na, ist ja auch kein Wunder!«

»Sie halten jetzt Ihre verdammte Klappe und verschwinden«, presste Constantin zwischen seinen Zähnen hervor.

»Er bedroht mich schon wieder«, kreischte Fräulein Müßig. »Und das nach allem, was ich für ihn getan habe!«

Constantin warf seiner Schwester verzweifelte Blicke zu. Er hatte geahnt, dass das Zusammentreffen unangenehm verlaufen könnte. Aber so…, damit konnte selbst er nicht rechnen.

Leonore sah ihn unschlüssig an. Doch dann gab sie sich einen Ruck und wandte sich an Fräulein Müßig. »Hören Sie, es tut mir leid, aber ich glaube, er hat recht. Ich sollte jetzt allein mit ihm reden. Wir werden uns bestimmt mal wieder sehen und dann…«

»Ich verstehe schon«, wurde sie von Fräulein Müßig unterbrochen. »Dann gehe ich eben. Als ob ich das nötig hätte!«

Sie drehte sich abrupt in die andere Richtung und ging, aber nicht ohne Constantin vorher noch einen vernichtenden Blick zuzuwerfen.

Constantin atmete tief aus.

»So. Und jetzt zu dir.« Leonores Worte ließen ihn zusammenzucken. In diesem Tonfall hatte sie auch früher schon mit ihm gesprochen, wenn er etwas angestellt hatte und sie nicht mitmachen durfte. »Wo hast du verdammt noch mal gesteckt?«

»Äh…, also das ist eine etwas … ungewöhnliche Geschichte. Vielleicht sollten wir uns lieber irgendwo setzen. Könnten wir das nicht bei dir zu Hause besprechen?«

Leonore seufzte. »Sicher. Kommt der auch mit?« fragte sie und sah Erwin skeptisch an. Sie besuchte nur selten die Kirche. Normalerweise passierte das höchstens mal zu Weihnachten. Aber sie hatte vor ein paar Wochen Constantins Freund und Neu-Juwelier Willi getroffen, der ihr eine derart verrückte Geschichte auftischte, dass sie vor Sorge um Constantin außer sich war. In ihrer Verzweiflung hatte sie sogar die Sonntagsmesse besucht. In der Not griff man auch nach klerikalen Strohhalmen.

Die Messe war überraschend unterhaltsam gewesen, und zwar für alle Beteiligten. Erwins ungewöhnliche Predigt hatte zu den verschiedensten Reaktionen im Publikum geführt und mittlerweile galt es unter den weniger eifrigen Gläubigen als Privileg, dabei gewesen zu sein.

Leonore jedoch war nach dieser Predigt noch besorgter, da gewisse Züge der Predigt verdächtige Ähnlichkeit mit Willis Geschichte aufwiesen. Der Priester hatte keine Namen genannt, weshalb sie später versuchte, ihn für ein persönliches Gespräch zu erreichen. Dabei erfuhr sie, dass dies nicht mehr möglich sei, da er überraschend aus dem aktiven Kirchendienst ausgeschieden war. Und hier stand er nun auf einmal – zusammen mit ihrem verschollenen Bruder.

»J-ja. Also … das ist mein Freund. Erwin.« Constantin sah Leonore eindringlich an und Erwin hielt ihr schüchtern die Hand hin. »Er ist einer der wenigen, die meine Geschichte bezeugen können. Und deshalb ist es vielleicht besser, wenn du ihn mitkommen lässt. Ich – ich verspreche, dass er nichts Verrücktes anstellt.«

Erwins Augenbrauen schossen verdutzt nach oben.

»Schon gut. Ich fürchte, bei dir müsste ich mir da größere Sorgen machen«, meinte Leonore resigniert und drückte kurz Erwins ausgestreckte Hand. Unvermittelt ging sie zwei Schritte auf Constantin zu und umarmte ihn heftig. »Du glaubst nicht, welche Angst ich um dich hatte. Mach so was nie wieder, klar?«

Genauso plötzlich ließ sie ihn wieder los, zwinkerte ein paar mal und sagte: »Na dann los. Kommt mit ins Haus.«

Erwin lief brav hinterher, doch Constantin stand wie erstarrt. Manfred zog ihm am Ohr, aber Constantin musste erstmal seine Gedanken sammeln und sortieren. Schließlich rief er seiner Schwester hinterher: »Sag mal, habe ich das gerade richtig … äh, gefühlt?« Dabei zeigte er auf ihren Bauch unter der weiten Jacke.

Ein Lächeln huschte über Leonores Gesicht. »Ja, hast du. Du wirst Onkel. Rate mal, warum ich dich so verzweifelt gesucht habe. Ich wollte es dir als Erstes sagen. Aber du bist seit über zehn Monaten verschwunden, und jetzt ist es schon bald …«

»Wann?« fragte Constantin atemlos.

»Voraussichtlich Ende Dezember. Vielleicht wird es ja ein Christkind«, erwiderte Leonore glücklich. »Kommst du jetzt endlich mit rein?«

»Ah. Sie glaubt an die Konkurrenz«, nuschelte Manfred leise.

Constantin stand noch immer wie angewurzelt und beobachtete, wie Leonore sich abwandte und ins Haus ging.

»Was meinst du damit?«

»Na, du hast es doch gehört. Christkind.«

»Das gibt’s auch? «

»Klar. Solange die Leute dran glauben … Allerdings hat das Christkind einen bedeutend entspannteren Job als du.«

»Wieso?«

»Na, das muss sich nicht den Menschen zeigen. Es wird einfach nur erwartet, dass plötzlich viele Geschenke unter dem Baum liegen, nachdem man das Zimmer verlassen hat. Und da viele der Sache nicht trauen, legen sie selbst die Geschenke hin. Was aber auch egal wäre. Das Christkind hat genügend Helfer, um nicht selbst die Arbeit machen zu müssen. Im Prinzip hat es nichts anderes zu tun, als seinen Heiligenschein zu polieren und sich neue Locken einzudrehen.« Mit verächtlichem Tonfall fügte er hinzu: »Und den ganzen Tag lang im weißen Kleid herumzufliegen und sich nicht dreckig zu machen.«

»Das ist ja gar keine richtige Strafe«, beschwerte sich Constantin.

»Soll es auch gar nicht. Das Christkind ist im Gegensatz zu dir ein rein magisches Geschöpf.«

»Und warum dann nicht der Weihnachtsmann?«

»Kennst du die Geschichte des Weihnachtsmanns nicht? Habt ihr euch doch selber ausgedacht! Der war ursprünglich nun mal ein echter Mensch, der den Kindern Gutes getan hat.«

»Ach.«

»Kommst du jetzt endlich?« rief Leonore ungehalten aus dem Hausflur.

»Wie es aussieht, wirst du ab jetzt öfter hierher kommen. Mindestens einmal im Jahr«, kommentierte eine dumpfe Stimme aus Constantins Rucksack.

***

Humbert saß in der Bibliothek und suchte nach geeigneten Zwergenbeschäftigungen und Maßnahmen gegen die große grüne Langeweile, die sich so rasant ausbreitete wie Windpocken.

 

Zwerge konnten damit einfach nicht umgehen. Menschen schon, deshalb sah er vorwiegend in Menschenbüchern nach.

Manche Menschen langweilten sich offensichtlich gerne und oft. Geübte Gelangweilte starrten stundenlang in den Fernseher oder auch einfach in die Luft. Die Intellektuellen unter ihnen starrten in ein Buch.

Jedenfalls stellten sie keine Gefahr für andere dar, solange sie sich nicht vor Langeweile von Gebäuden stürzten. Manche Menschen hatten die Langeweile praktisch zur Kunstform erhoben und beherrschten sie meisterlich.

Zwergen hingegen fehlte darin jede Erfahrung, da sie von Geburt an bis zum Lebensende hart und unermüdlich arbeiteten. Es gab immer etwas zu tun, und zwar meist mehr, als sie schaffen konnten. Überall musste gegraben werden und es gab schier endlos viele Berge, die noch nicht von Tunneln durchzogen waren.

Auch in Zipfelbergen war die Arbeit seit Jahrhunderten nicht ausgegangen. Jedenfalls nicht in dem Ausmaß, dass Langeweile aufkam.

Glücklicherweise war die momentane Situation kein Dauerzustand. Die Weihnachtssaison stand unmittelbar bevor. Und dann war da auch noch die Sache mit der Rundmail, die zu unberechenbarem Arbeitsanfall führen konnte.

Irgendwann gab Humbert auf und stellte sich den versammelten Zwergen. Neugierige Gesichter musterten ihn und erwarteten Großartiges. Er hatte das kommen sehen. Immer war er derjenige, der sich etwas einfallen lassen musste. Es gab ein Problem? Fragen wir Humbert. Der wird sich schon drum kümmern.

Es war zum Davonlaufen. Dabei hatte er sich das nicht mal ausgesucht. Es hatte sich mangels Alternativen einfach ergeben.

Zwerge glaubten nicht an die Monarchie und hatten schon früh demokratische Strukturen eingeführt. So konnte man inkompetente Führungspersönlichkeiten entfernen, indem man abstimmte. Blutvergießen und das Herumrollen von Köpfen waren nicht mehr nötig.

Hier in Zipfelbergen verschwammen jedoch auch die demokratischen Hierarchien. Alle waren irgendwie gleich. Manche vielleicht etwas mehr als die anderen.

Trotzdem war man nicht unvernünftig, und so galt die Meinung desjenigen, der Kompetenz ausstrahlte, weit mehr als beispielsweise die von Lauritz. Außerdem hatten Zwerge großen Respekt vorm Alter, und Lebensjahre galten gewissermaßen als Maßeinheit für Kompetenz. Es blieb abzuwarten, was aus dieser ungeschriebenen Regel wurde, wenn Lauritz einmal ein hohes Alter erreichte. Aber vielleicht rauchte er sich auch vorher schon k. o..

Jedenfalls führten sowohl seine Erfahrung als auch sein Alter dazu, dass Humbert von allen als der Oberverantwortliche betrachtet wurde. Ob er das wollte oder nicht.

Nun, er hatte sich bemüht. Er hatte herausgefunden, dass ein Hobby eine Beschäftigung war, der man nicht aus der Notwendigkeit heraus, sondern einzig aus Interesse und Leidenschaft nachging. Und es sollte Vergnügen und Spaß mit sich bringen. Soweit so gut, aber das galt bei den meisten Zwergen auch für die Arbeit. Wohingegen er sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, dass die beispielhaft aufgeführten Freizeitbeschäftigungen für Vergnügen sorgten. Jedenfalls nicht bei einem selbst. Allenfalls bei heimlichen Beobachtern.

Wilbert meldete sich und lächelte schrecklich. Er schien geübt zu haben.

»Ich habe eine ganze Liste von Möglichkeiten erarbeitet. Soll ich vielleicht …«

»Oh ja«, erwiderte Humbert erleichtert und ignorierte die bestürzten Blicke der anderen Zwerge. Wenigstens einer, der sich Gedanken machte.

Wilbert erhob sich stolz. »Am besten lese ich erst einmal die Liste der verschiedenen Kategorien vor. Danach können wir sie noch im Einzelnen besprechen. Also. Mögliche Freizeitbeschäftigungen sind: Wandern, tanzen…«

»Tanzen?« wiederholte Svante entsetzt.

»Ja. Tanzen. Außerdem noch Sport, Musik, Literatur, Kunst, äh, die Jagd …«

»Was sollen wir denn jagen?« fragte Giselbert verwirrt und kratzte sich am Kopf.

»Schneeflocken vermutlich«, meinte Oben.

»Jagd kommt nicht infrage«, stellte Humbert klar, bevor jemand intensiver darüber nachdenken und auf gefährliche Gedanken kommen konnte. »Bitte fahre fort.«

»Äh, ja. Klar. Gärtnern, Handarbeiten, dichten, Esoterik, Dinge sammeln und basteln.«

»Basteln? Das ist ja Arbeit! Das machen wir doch andauernd, wenn nicht die Heinzelmännchen alles schon vorher fertigbasteln würden«, stellte Svante fest.

Wilbert ging jedoch nicht darauf ein. »Ach ja. Und man könnte einen Verein gründen. Zum Beispiel einen Theater- oder Schützenverein, einen Leseclub, Turnverein, Selbsthilfeverein oder einen Rassegeflügelverein …«

»Was?«

»Äh, also das trifft hier vielleicht nicht so zu.«

»Das mit dem Schützenverein können wir auch streichen«, ordnete Humbert an. »Aber der Rest klang doch teilweise ganz interessant, oder?«

»Was ist ein Selbsthilfeverein?« erkundigte sich Svante. Seiner Meinung nach lief es immer darauf hinaus, dass man sich selbst helfen musste. Dafür brauchte man nicht extra einen Verein zu gründen.

»Nun, da treffen sich mehrere Personen mit ähnlichen Problemen und sprechen darüber.«

»Wozu?«

»Damit sollen sie sich gegenseitig dabei helfen, die Probleme zu überwinden.«

Die Zwerge waren skeptisch. »Du meinst, wenn man einen Haufen Leute zusammensteckt, die alle mit demselben Problem nicht klarkommen, finden sie gemeinsam auf einmal eine Lösung, die ihnen allein nicht eingefallen wäre?«

»So ähnlich jedenfalls. Genau genommen tun wir das sogar gerade. Ich meine, alle langweilen sich, und deshalb treffen wir uns hier und sprechen darüber. Und am Ende findet hoffentlich jeder etwas, womit er sich beschäftigen kann.«

Widerstrebend mussten die Zwerge einsehen, dass das vernünftig klang. Aber sie weigerten sich, in der Gruppe echte Probleme zu diskutieren. Erst recht nicht eigene.

»Hast du irgendwas Genaueres auf deiner Liste zu Sport stehen?« erkundigte sich Svante.

»Selbstverständlich. Das Meiste ist zwar für sommerlichere Gegenden gedacht, und die Wurfsportarten…, hm, sollten wir vielleicht auch außer Acht lassen. Doch ich bin bei meinen Recherchen auf Rodeln, Schlittschuhlaufen und Eisbaden gestoßen. Und auf Hundeschlittenfahren.«

»Was meinst du mit Eisbaden?« fragte Giselbert misstrauisch.

»Moment…, ja, hier steht es. Also. Du hackst ein Loch ins Eis eines zugefrorenen Gewässers und dann springst du hinein.«

»Wie bitte? Wozu denn um Himmels Willen?« Entsetzen machte die Runde und Wilbert ruderte zurück. »Äh, vielleicht ist das doch nicht das Richtige. Und das mit dem Hundeschlitten? Also…, eigentlich fährt man damit um die Wette, aber wir haben leider nur einen Hund.«

»Aber der schläft tagsüber doch immer.«

»Fragen kann man ihn ja. Außerdem gibt es noch Sportarten für drinnen, wie Turnen oder Kraftübungen. Falls das jemanden interessiert, hätte ich hier ein paar Bilder und Beschreibungen.«

»Ich könnte vielleicht dichten«, bemerkte Giselbert schüchtern.

Humbert sah ihn erstaunt an. »Kannst du das denn? Ich meine…«

»Mein Papa war Dichter.«

»Echt jetzt? Was hat er denn gedichtet?«

»Verse für Begräbnisse. Über die… Verstorbenen. Ja. Er… also, er war ziemlich gut. Hat sich alles gereimt und so. Bis er selber gestorben ist. Da musste ich dann etwas für ihn dichten, und das… das hat irgendwie Spaß gemacht. Obwohl ich natürlich schrecklich traurig wegen Papa war«, fügte Giselbert der Ordnung halber hinzu.

Humbert zuckte mit den Schultern. »Wenn du Spaß dran hast, dann mache es ruhig.«

»Darf ich dann vorlesen, was ich gedichtet habe?« fragte Giselbert aufgeregt.

»Warum nicht?« Alles, solange die Zwerge abgelenkt wurden. Und sei es durch schlechte Dichtkunst.

»Hast du noch was anderes auf deinem Zettel stehen?« wandte sich Svante missmutig an Wilbert. Bislang war nichts dabei gewesen, das wirklich nach Spaß klang.

Tanzen und Handarbeiten. Meine Güte.

»Äh… warte mal…« Wilbert studierte seine Liste.

»Woher hast du eigentlich das ganze Zeug?« fragte Humbert. Er hatte nicht annähernd so viele Ideen gefunden. Allerdings hatte er bei seiner Suche auch immer den Aspekt im Hinterkopf behalten, dass seine Zwerge Gefallen daran finden sollten und kein Unheil anrichten konnten. Hätte Wilbert das ebenfalls berücksichtigt, wäre seine Liste erheblich kürzer ausgefallen.

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