Schwarze Jahreszeiten

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Der Keller

Was ich jetzt erzählen werde, geschah bereits in der Zeit jener Kulmination, als diese beiden Wörter auf den Lippen aller lagen, die hinter den Mauern eingeschlossen waren. Es war erst der Beginn der Liquidierungsaktion; an diesem Tag waren wir an der Reihe, wir sollten zum Umschlagplatz gejagt – und direkt ins Gas gebracht werden. Meine Familie versteckte sich so wie ein guter Teil der Nachbarn (vielleicht alle?) in einem der am weitesten vom Eingang entfernt gelegenen, wenngleich mit Sicherheit nicht allzu gut getarnten Kellerräume. Soweit ich mich erinnere, wurde er vom Hauswart von außen verschlossen. Ich habe seine Figur vor Augen: Es war ein junger, großer und breitschultriger Mann. Er selbst versteckte sich noch nicht mit uns zusammen, sicher dachte er, dass ihn die ausgeübte Funktion vor der Deportation schützen würde, doch seine Frau war wohl bei uns. Und tatsächlich, diesmal wurde er nicht mitgenommen.

Es fällt mir heute schwer, viel über unsere Zeit im Versteck zu sagen, die Einzelheiten sind zu Nebel verschwommen. Es herrschte Enge, und das Deckengewölbe war so niedrig, dass man nicht zu stehen vermochte. Ich wusste bereits gut, worum es hier ging, was wir vermeiden wollten, indem wir uns an einem Ort versteckten, der sich nicht zum Leben eignet. Jeder von außen kommende Ton rief Entsetzen hervor. Und auch ich war, verständlicherweise, von Angst erfüllt. Ich schmiegte mich an meine Eltern, aber in dieser Lage waren selbst sie keine Sicherheitsgarantie, ich war mir darüber im Klaren, dass sie genauso in Gefahr waren wie ich und alle anderen. Es war dunkel, es herrschte absolutes Schweigen, denn keinerlei Lebenszeichen durfte aus diesen Mauern herausdringen.

An diese Episode erinnere ich mich am besten: Auf einmal wurde die Stille radikal gestört. Eine der sich versteckenden Frauen hielt einen Säugling auf dem Arm, der wohl gerade einmal wenige Monate alt war (vielleicht war es die Frau des Hauswarts?). Er begann krampfhaft zu weinen und ließ sich nicht beruhigen. Die Mutter wiegte ihn, hielt ihm den Mund zu, schließlich gab man ihm ein Beruhigungsmittel. Man flüsterte sich zu, dass wir durch dieses Kind entdeckt und umkommen werden. Einige Stimmen verlangten, es zu ersticken, ansonsten würden es und mit ihm wir alle sterben, die wir uns in dem Keller verbargen. Eine Diskussion entstand, doch die junge Frau willigte nicht in die Ermordung ihres Kindes ein. Dazu kam es auch nicht; vielleicht beruhigte sich der Säugling, vielleicht aber löste auch ein Mann die Spannung, der sagte: „Dieses Kind wird unser Maskottchen sein, es bringt uns Glück.” Die Regeln der Erinnerung sind merkwürdig, von dieser ganzen Geschichte erinnere ich mich augenscheinlich gerade an diese Worte – vielleicht, weil aus ihnen Hoffnung hervorlugte. Tatsächlich kam bald darauf der Hauswart und öffnete den Keller. Die Mannschaft, bei der den Deutschen die sogenannten „Šaulis” und „Czubaryks” halfen, hatte sich getrollt. Diesmal war es gelungen, den Weg zum Umschlagplatz zu vermeiden.

Ich weiß nicht, wie lange wir uns in dem Keller aufhielten, sicherlich einige Stunden. Aber selbst wenn ich es wüsste, hätte das keine größere Bedeutung, denn eine solche Zeit lässt sich nicht mit einfachen Maßstäben messen, in derlei Momenten sind dies wenig hilfreiche Werkzeuge. Ich denke auch deshalb so darüber, weil der Aufenthalt in dem Keller in mir bis heute andauert und nicht mit dem Öffnen der Tür beendet war – und das nicht nur, weil mit dem Augenblick, in dem diese konkrete Bedrohung endete, die Gefahr nicht vorüber war. In einer Welt, in der der einzige Gesetzgeber und Regelsetzer ein systematisch nach einem vorab beschlossenen Plan vollzogenes Verbrechen ist, haben Bedrohungen und Gefahren kein Ende, ihre finale Phase kann eigentlich erst seine Erfüllung sein, die vollständige Durchführung, nach der nichts mehr übrig ist. Natürlich war ich mir dessen im Sommer 1942 nicht bewusst, ich war noch nicht einmal acht Jahre alt. Aber ich denke, dass die meisten Erwachsenen schon davon wussten. Ganz sicher waren sich diejenigen dieses Sachverhalts bewusst, die meinten, der Grundsatz contra spem spero, die Hoffnung stirbt zuletzt, fände hier keine Anwendung – denn wenn es um alles oder nichts geht, zeigt sich, wie nutzlos er ist.

Das war meine erste Konfrontation mit einem derartigen Eingeschlossensein. Ich hatte schon früher erfahren, was es damit auf sich hat, als man uns aus dem kurzlebigen Ghetto in Pruszków ins Warschauer Ghetto gebracht hatte; diese Fahrt in einem Zug, den man nicht verlassen konnte, dauerte zwei Tage, obwohl mein Heimatstädtchen nur etwa 15 Kilometer von der Hauptstadt entfernt liegt. Dennoch war das etwas anderes.

Der Weg zum Umschlagplatz

Ich erinnere mich erst ab einem bestimmten Augenblick an ihn, als wir uns in der Menschenmenge befanden, die sich auf der Fahrbahn dahinschleppte und nicht nur von Deutschen und ihren ukrainischen und litauisch-lettischen Helfern, sondern auch von jüdischen Polizisten getrieben wurde. Ich vermag nicht zu berichten, wie man uns aus dem Haus gejagt hatte, diese Episode ist aus meinem Gedächtnis gelöscht – sicherlich deshalb, weil ich so erschrocken war, dass ich nicht bewusst wahrnahm, was geschah. Ich bin aber sicher, dass man uns aus der Wohnung jagte und nicht aus dem Keller; vielleicht waren meine Eltern der Meinung gewesen, dass es keinen Sinn mehr machte, sich zu verstecken, vielleicht wurden sie überrascht, weil sie nicht erwartet hatten, gerade an diesem Tag herausgeholt zu werden. Ich bedauere, dass ich sie zu ihren Lebzeiten nicht danach gefragt habe. Vielleicht hätten sie auf meine Frage antworten können, obwohl sie über ihre Erfahrung einen Mantel des Schweigens hatten fallen lassen und nicht gerne darauf zurückkamen, als wäre das Erinnern gleichbedeutend mit einer Erneuerung des Leidens, das man zwar nicht vergessen kann und darf, über das man aber auch schwer sprechen kann.

Ich erinnere mich, dass wir Gepäck trugen, Vater einen Rucksack, Mutter eine Tasche. Darin hatten sie sicherlich die grundlegendsten Dinge untergebracht, vielleicht hatten sie etwas zu Essen hineingepackt. Ich weiß nicht, ob sie diese kleinen Gepäckstücke im letzten Moment gepackt hatten oder ob sie schon fertig waren, um in dem Augenblick mitgenommen zu werden, in dem das eintreten würde? Ich weiß nicht, ob sie glaubten, dass wir sie brauchen würden, oder ob sie sie mitnahmen, weil man nicht ohne Gepäck auf eine Reise geht, weil man sie für alle Fälle mitnimmt, selbst wenn man direkt ins Gas fährt. Ob sie schon damals wussten, dass der Weg dorthin führt? Oder machten sie sich noch etwas vor? Diese Frage betrifft natürlich nicht nur sie: An diesem Tag hatten die meisten – oder vielleicht alle – irgendwelche Bündel dabei, irgendwelche Sachen, selbst wenn sie ganz bescheiden waren, doch ich weiß nicht, ob diese Sachen ein Zeichen dafür waren, dass trotz allem irgendwo tief im Bewusstsein der Glaube an die Rettung glomm. Natürlich weiß ich nicht, was ich selbst damals fühlte – außer Angst und Entsetzen. In vielen Situationen, vor allem dieser Art, hat das Kind den Status eines Gegenstands, was umso offensichtlicher ist, als der Status willenloser Wesen allen zu eigen war, die in dem Marsch zum Umschlagplatz getrieben wurden. Meine Eltern sorgten zweifellos dafür, dass ich nicht alle Hoffnung verlor.

Ich erinnere mich nicht an den Anfang dieses Tages, doch denke ich, dass er so war wie die anderen Tage in der Zeit der Liquidierung und Deportationen. Und darüber kann ich etwas sagen: Wir wohnten unmittelbar an der Mauer, aus den Fenstern unseres Zimmers konnte man die arische Seite sehen und hören. Wir hörten und sahen Abteilungen im Gleichschritt zum Ghetto marschieren und Nazi-Lieder brüllen, von fern erreichte uns auch das Klappern der Schuhe. Es bestand kein Zweifel, zu welchem Zweck sich diese Abteilungen auf die andere Seite der Mauer begaben. Die Aktion war in vollem Gange. Auch dieser Tag begann sicherlich auf diese Weise. Aber wussten wir, dass wir genau jetzt auf den Umschlagplatz kommen würden?

Wie gesagt, ich erinnere mich an diesen Menschenzug erst ab einem bestimmten Augenblick. Als wir uns dem Ziel näherten, wurde eine Selektion durchgeführt. So hieß das – das Wort „Selektion” hat sich so stark damit verbunden, dass ich es bis heute nicht ruhig verwenden kann, obwohl ich mir bewusst bin, dass es in unterschiedlichen Zusammenhängen vorkommen und sich auf verschiedene Bereiche der Wirklichkeit beziehen kann. Die Selektion beruhte darauf, dass aus dem Menschenstrom einige wenige abgesondert wurden, die an diesem Tag nicht zur Deportation vorgesehen waren, sie sollten dableiben. Als wir an der Reihe waren, schien es mir, als seien wir zum Bleiben bestimmt worden. Ich war mir nicht darüber im Klaren, dass es die letzte Reise war, aber dennoch zog ich es vor, sie zu vermeiden, ich wollte nach Hause zurückkehren. Ich begann vor Freude zu hüpfen – einen Augenblick lang war ich glücklich. Erst nach zwei, drei Minuten dämmerte es mir, dass wir uns nicht unter den Auserwählten befanden, sondern in der Hauptgruppe, unterwegs zum Umschlagplatz. Die Begeisterung verwandelte sich in Verzweiflung. Von dem ganzen Tag erinnere ich mich an diese Episode am besten.

Als wir zum Umschlagplatz kamen, standen schon Güterwaggons bereit, der Zug schickte sich offenbar zur Abfahrt an. Es herrschte Gedränge; die Deutschen hatten an diesem Tag mehr Menschen zusammengetrieben, als sie fortbringen konnten, ein Teil musste bleiben. Ich erinnere mich daran, dass einige mit großen Buchstaben ihre Namen auf die Rucksäcke geschrieben hatten. Es war heiß, die Sonne schien, die Hochsaison des großen Sterbens fiel auf den Höhepunkt des Sommers. Das widerspricht dem, was ich geschrieben habe, dass über dem Ghetto die Sonne nicht schien. Doch wenn sie sich zeigte, so war auch sie unmenschlich, grausam und brachte, wie alles innerhalb der Mauer, Leiden. Sie brachte keine Hoffnung und peinigte die Todgeweihten noch stärker. Ein Gespräch zwischen meinen Eltern ist mir in Erinnerung geblieben. Mutter schlug vor, schneller mit allem fertig zu werden und sich zum Zug vorzudrängen, um mit dem Transport mitzukommen, der bald abfahren sollte. War sie sich voll darüber im Klaren, dass dies die Deportation in den Tod war? Vater war anderer Meinung. Er glaubte, dass wir uns so weit wie möglich von den Gleisen entfernt halten sollten, denn vielleicht würde es uns doch gelingen, vom Umschlagplatz fortzukommen. Es zeigte sich, dass er recht hatte.

 

Auch wenn ich dabei war, weiß ich nicht genau, wie es dazu kam. Ich kann es nicht in aller Ordnung erzählen. Als der Zug nach Treblinka fortgefahren war, wurde es auf dem Umschlagplatz leerer. Eine Gruppe von Menschen war übrig geblieben, die – wie wir – am spätesten herbeigetrieben, aus den entferntesten Gegenden des Ghettos geholt worden waren. Wir kauerten – und jeder überlegte wahrscheinlich, wie er von hier fortkommen könnte. Auch meine Eltern dachten nach. Der Zufall kam uns zu Hilfe: Vater traf einen seit vielen Jahren nicht gesehenen Bekannten aus seiner Jugendzeit, der jüdischer Polizist war. Er bat ihn, uns das Entkommen zu ermöglichen. Der Bekannte führte uns in ein Gebäude am Rand und brachte uns in einem dunklen Raum unter, eine Art Abstellkammer oder ein enger Verschlag, in dem früher Haushaltsgeräte gestanden hatten. Wir sollten hier bleiben, bis die deutschen Abteilungen nach der Erledigung der für diesen Tag vorgesehenen Aufgaben das Ghetto verlassen würden. Und so kam es auch. Dieser Bekannte aus alten Jahren ließ uns durch einen Seitenausgang vom Umschlagplatz heraus, vielleicht war es auch ein Loch im Zaun.

Wir waren gerettet, meine Eltern wurden gerettet, ich wurde gerettet. Eigentlich verstehe ich nicht, wie das geschehen ist, ich begreife nicht, wie das Schicksal gerade uns hold war. Ich wundere mich, ich wundere mich über alles. Ich wundere mich, dass ich lebe … Aber ich lebe, ich bin, ich existiere … Und ich erinnere mich!

Das Törtchen


Es fällt mir außerordentlich schwer, diese Erzählung zu beginnen. Nicht nur deshalb, weil in ihr Schrecken zu neuem Leben erweckt werden, zu denen man nicht zurückkehren möchte – obwohl es unmöglich ist, zu ihnen nicht zurückzukehren. Vor allem deshalb, weil die Zeit des Ghettos für mich einen Block darstellt, zumindest bis zu dem Augenblick, in dem die Deportationen begannen, als sich das, was noch kurz zuvor das Schlimmste gewesen zu sein schien, in etwas noch Schlimmeres verwandelte, in etwas so extrem Schlimmes, dass es keine Worte gibt, um darüber zu sprechen. Ich vermag es nicht, hier Differenzierungen vorzunehmen, ich kann diesen Block nicht kontrolliert überblicken. Vor allem aber bin ich in den meisten Fällen nicht in der Lage, das, an was ich mich als kleines Kind aus dem Ghetto erinnere, von dem zu trennen, was ich später gehört und gelesen habe. Ich bin mir also darüber im Klaren, dass ich ohne zu wiederholen, was schon gesagt worden ist, ohne Bedenken lediglich über eigene Erfahrungen erzählen kann, darüber, was ausschließlich mir gehört. Die Geschichte, die ich hier erzähle, erfüllt diese Bedingungen.

Sie begab sich zu Beginn unseres Aufenthalts im Warschauer Ghetto, bald nachdem wir aus dem kurz bestehenden (man möchte fast sagen: ephemeren) Ghetto in Pruszków umgesiedelt worden waren. Wir wohnten zunächst in der Nähe der Holzbrücke, welche die beiden Seiten der ulica Chłodna miteinander verband, die Landschaft dieses Stadtteils mitbestimmte und sich so gut meinem Gedächtnis eingeprägt hat, dass ich sie bis heute vor Augen habe. In unserer Familie waren die grundlegenden Bedürfnisse gestillt, Hunger erlebte ich in dieser Zeit nicht. Alles aber, was diese Grundlagen überschritt, konnte nur Gegenstand kindlicher Sehnsüchte sein und hatte natürlich eine gewaltige, fantasieanregende Anziehungskraft. So geschah es auch, als mir ein Törtchen als Belohnung versprochen wurde. Zur Belohnung, denn ich war krank: Ich hatte – wenn ich mich nicht irre – eine langwierige Grippe mit irgendwelchen Komplikationen, vielleicht hatte mich auch der Keuchhusten erwischt; ich war insgesamt ein Kind, das keine besonderen Schwierigkeiten machte, doch ein lästiger, geradezu schrecklicher Patient, ich ließ mich nicht anrühren, blieb nicht still, quengelte. Das Törtchen sollte eine Prämie für gutes Verhalten in dieser Rolle sein. Meine Sehnsüchte konzentrierten sich auf das Törtchen, ich lebte nur dafür und konnte die Zeit nicht abwarten, in der ich wieder gesund sein und mit Mutter in einen nahen Laden gehen würde, wo wir diesen großartigen, so lange erwarteten Einkauf tätigen würden. Wir waren oft an diesem Laden vorbeigegangen, doch war ich nie darin gewesen. Die Auslage, in der meist zwei oder drei Törtchen zu sehen waren, war für mich eine ungewöhnliche, unzugängliche und zauberhafte Welt.

Endlich kam der ersehnte Moment. Ich wählte ein Törtchen aus, das mir am besten gefiel und das, wie ich mir ausmalte, am leckersten sein würde. Doch ich aß es nicht an Ort und Stelle. Mutter erklärte mir, dass ich es zu Hause essen sollte, in Ruhe, denn es sollte eine richtige Feierlichkeit sein, eine Art Ritual. Ich erinnere mich, wie es aussah: Außen hatte es eine Schicht aus rotem Gelee. Die Verkäuferin packte es elegant ein und band ein dünnes, farbiges Band herum. An diesem Band hielt ich das ersehnte Stück, das mir wohl seit einer Woche versprochen worden war. Ich war glücklich und sah überhaupt nicht vorher, was gleich geschehen sollte. Wir waren kaum einige Meter gegangen, als ein abgerissener Bengel auf mich zusprang (solche Kinder nannte man im Ghetto oc-rachmunes), mit Sicherheit etwas älter als ich, aber nicht viel – und mir dieses so wertvolle und so heiß ersehnte Päckchen aus der Hand riss. Er lief nur ein paar Schritte fort und machte sich schon im Laufen ans Essen. Alles geschah wirklich im Handumdrehen. War er so schrecklich hungrig, dass er es nicht aushalten und keinen Augenblick warten konnte? Oder hatte er Angst, dass ihm die Beute fortgenommen werden würde? Es ist ein halbes Jahrhundert und noch viel mehr vergangen, doch bis heute sehe ich diese Szene mit solcher Deutlichkeit vor mir, als hätte sie sich gerade eben erst zugetragen, erst gestern, höchstens vor einer Woche. Ich sehe, wie dieser abgerissene Bengel, ein lebendiges und ausgehungertes Skelett, das Törtchen verschlingt, als wollte er es zusammen mit dem Papier herunterschlucken.

Dieses Ereignis war ein Schlag für mich, gewissermaßen brach eine Welt für mich zusammen. Ich zählte knapp sieben Jahre und wusste schon, dass ich mit allen anderen in einer schrecklichen Wirklichkeit lebe. Doch natürlich verstand ich sie noch nicht ganz, und das Schlimmste hatte ich – dank den Eltern, die mich schützten, wie sie nur konnten – noch nicht kennengelernt; Leiden infolge von Hunger war mir damals noch nicht bekannt. Ich reagierte mit krampfhaftem Weinen, das ich überhaupt nicht in den Griff kriegen konnte, es wurde immer stärker, wandelte sich zu einem Heulen und Zähneknirschen. Ich glaube, dass es schon damals um etwas mehr ging als nur um dieses unglückliche Törtchen. Ich erkannte, wie furchtbar die Welt ist, ich begriff, dass nichts mehr nach meinem Wunsch geschehen wird, dass ich Aggression ausgesetzt bin und mir das genommen wird, was ich gerne für mich hätte und woran mir lag. Ich hatte schon früher ungeheuerliche Dinge gesehen, ich hatte auf den Straßen des Ghettos liegende Leichen gesehen, bedeckt mit einem merkwürdigen Papier, dessen erdige Farbe schwer zu beschreiben ist, und sie hatten Eindruck auf mich gemacht. Doch diese Geschichte mit dem Kuchen war die erste grausame Lektion, die mir so direkt und so persönlich erteilt wurde.

Wenn ich heute daran denke, stellt sich mir eine Frage: Wie hat man versucht, mich zu trösten und mir zu erklären, was geschehen war? Ich bin sicher, dass mein Großvater, der die Mentalität eines Besitzers hatte und für den Eigentum unabhängig von den Umständen stets Eigentum war, den Angreifer bedingungslos verurteilte. Aber was haben mir die Eltern gesagt? Was habe ich von ihnen gehört? Haben sie mir erklärt: Es ist etwas Schlimmes geschehen, etwas sehr Unangenehmes, doch du musst eines verstehen – dieser unglückliche, zerlumpte Junge war hungrig, und du warst nicht hungrig, dir ging es nur um die Annehmlichkeit? Ich gestehe, dass ich – heute – froh wäre, wenn man mir damals solche Worte gesagt hätte. Doch wie es wirklich gewesen ist, das weiß ich nicht. Und ich werde es nie mehr erfahren.

Emil


In dieser Zeit besuchte ich den Unterricht bei Fräulein Julia und Frau Bronisława, zwei Schwestern, die vor dem Krieg Lehrerinnen gewesen waren und für eine geringe Gebühr eine Gruppe von mehreren Kindern unterrichteten. Es war nicht mein erster Unterricht, denn zuvor hatten mich die Eltern in eine winzige, private Schule geschickt, die von Frau Anna geleitet wurde. Wir wohnten zuerst in den Randgebieten des Ghettos. Als diese von den Deutschen dann ausgegliedert wurden, mussten wir umziehen. Auch Frau Anna wechselte ihre Adresse und es war nun zu weit, um bei ihr in die Schule zu gehen, zumal die Straßen des geschlossenen Wohnbezirks immer gefährlicher wurden und man nie wissen konnte, was geschehen würde. Das Zimmer, in dem Fräulein Julia und Frau Bronisława wohnten, befand sich unweit des Lochs, in dem wir untergekommen waren, ebenfalls am Rand des Ghettos, nur an einem anderen Rand, gleich hinter der Mauer. Es trennten uns nur wenige Häuser, ich erinnere mich jedoch an die Strecke, die ich zurücklegen musste. Oft lagen dort die Leichen von Menschen, die vor Hunger gestorben waren, bedeckt mit Bahnen aus grauem Papier. Ich erinnere mich auch an die Nähe der Mauer, die jenen Raum markierte, in dem alles, was lebte, unweigerlich zum Tode verurteilt war. Ich erinnere mich an viel … Aber mit Sicherheit kann ich mich an noch viel mehr nicht erinnern.

Ich erinnere mich also an das Zimmer, in dem unser Unterricht stattfand: Es war lang, mit einem großen Fenster; für die Zeit unseres Hierseins wurden drei kleine Tischchen aufgestellt, um es zumindest ein wenig einem Klassenzimmer ähnlich werden zu lassen. In einer Ecke war ein provisorischer Herd eingerichtet, und in einer anderen saß meist Herr Mieczysław, der Mann von Frau Bronisława. Er war vor dem Krieg Journalist in einer der auf Polnisch erscheinenden jüdischen Zeitungen gewesen, war also ein Mensch, der im Ghetto nicht in seinem Beruf arbeiten konnte, keinerlei Arbeit fand … und viel Zeit hatte. Während unseres Unterrichts las er in der Regel etwas, manchmal hörte er gelangweilt den Stunden zu, die uns seine Frau und seine Schwägerin erteilten. Ich erinnere mich nicht, wie er aussah, habe aber immer noch die gute und zerbrechliche Frau Bronisława und Fräulein Julia vor Augen, die einer besonderen Beschreibung wert ist. Sie war groß und entsetzlich dürr, es war jene pathologische Dünnheit, wie sie Krankheit und Unterernährung verursachen, so typisch für die Menschen im Ghetto. Im Sommer trug sie ein dunkles kurzärmliges Kleid, man sah also ihre gelblichen und ausgemergelten Arme, nur Haut und Knochen. Ihr längliches Gesicht mit eingefallenen Wangen konnte furchterregend aussehen, ihre Züge hatten eine Schärfe angenommen, die sie in besseren Zeiten gewiss nicht besaßen. Sie war eine sympathische Person, auch wenn manch einer denken mochte, sie erinnere an eine Hexe oder sehe aus wie der Tod. Wenn ich mich an diese Frauen erinnere, so denke ich noch an etwas anderes: Es ist nicht ausgeschlossen, dass ich der Einzige bin, der sich an sie erinnert, der einzige, dem bewusst ist, dass sie einmal gelebt, gearbeitet, gelehrt haben – und dass sie mit der Welt, deren Teil sie waren, untergegangen sind.

Und ich bin gewiss der Einzige, der die Klassenkameraden, die Schüler von Fräulein Julia und Frau Bronisława, noch im Gedächtnis hat. Ich kenne ihre Nachnamen nicht, ich erinnere mich an die Vornamen, und auch hier nur an einige. Vor Augen steht mir Susi, hochgeschossen und etwas älter, die merkwürdig Polnisch sprach, weil sie in Hamburg geboren war; sie gehörte zu einer Familie, die von den Deutschen kurz vor dem Krieg zur polnischen Grenze gebracht worden war. Vor Augen steht mir die hellhaarige und lächelnde Mela, die einmal ergriffen von einem ungewöhnlichen und freudigen Ereignis des Vortags erzählte, als es zum Mittagessen Nudelsuppe gegeben hatte. Vor Augen steht mir ein Mädchen mit schwarzem Haar, das anonym bleibt, weil ich nicht in der Lage bin, mir ihren Vornamen ins Gedächtnis zu rufen; sie sammelte Briefmarken. Vor Augen steht mir schließlich Tadzio (obwohl ich nicht sicher bin, ob er wirklich diesen Namen trug), stets lebhaft und unbändig, der sich gerne mit seinem Vater brüstete, einem, wie er sagte, hervorragenden Rechtsanwalt. Ich wurde von ihm Giraffe genannt, weil er fand, ich habe einen komisch langen Hals. Außer ihnen habe ich niemanden aus unserem Unterricht vor Augen, obwohl wir mehr waren. In meiner Erinnerung aus dieser ermordeten Welt sind mir nur Fragmente, Fetzen, Reste geblieben.

 

Doch ein Junge ist geblieben, mit dem ich nie direkt zu tun hatte, auch wenn ich ihn mehrmals sah. Er hieß Emil und war eine lebende Legende unserer Gruppe. Als ich dazustieß, war er nicht mehr bei uns, doch beide Lehrerinnen erinnerten sich mit Sympathie, Zärtlichkeit und Bewunderung an ihn, auch die Mitschüler erwähnten ihn mit Zuneigung. Er war gewiss ein netter, angeblich sogar ein genialer Junge (er war nicht älter als neun). Über Emil sprach man wie über jemand Außerordentlichen, jemanden, der über uns alle herauswächst, der unglaublich begabt ist. Der eine erzählte, dass er Emil auf einer Straße des Ghettos zusammen mit seiner Mutter getroffen habe, ein anderer, dass er etwas über sein Schicksal gehört habe. Er war abwesend und doch unter uns anwesend. Im Ghetto war er mit seiner Mutter, doch auch über seinen Vater sprach man mit Bewunderung und Neugier: Er war als Offizier der polnischen Streitkräfte Kriegsgefangener, hielt sich in einem fernen Lager auf – und konnte natürlich nicht für seine Frau und seinen Sohn sorgen. Einmal in einer Pause zwischen den Stunden (die Kurse von Fräulein Julia und Frau Bronisława waren einer Schule immer ähnlicher geworden) blickte jemand aus dem Fenster im ersten Stock und sah Emil. Aufregung machte sich breit: Emil ist da, Emil ist da. Wir riefen: Emil, komm zu uns! Doch Emil kam nicht, ging weiter mit seiner Mutter über die mit Menschen überfüllte Ghettostraße in der Nähe der Mauer. Sie hatte darauf verzichtet, ihn zum Unterricht zu schicken, weil sie in ein noch größeres Elend als zuvor geraten war und die geringe Summe nicht mehr zusammenkratzen konnte, um ihn zu bezahlen. Wir wussten, dass Fräulein Julia und Frau Bronisława auf alle Gebühren verzichten wollten, um Emil umsonst weiter unterrichten zu können, der die Zierde der Gruppe und aller Liebling war. Es war bekannt, dass sie seine Mutter um ihr Einverständnis gebeten hatten, sie baten sie mehrfach, bedrängten sie geradezu, doch sie war konsequent und wollte darauf nicht eingehen. Vielleicht lehnte sie deshalb ab, weil ihr Ehrgeiz ihr nichts anderes erlaubte; vielleicht befürchtete sie, ihr Sohn, der als Einziger von den Gebühren befreit sein würde, könnte sich in einer erniedrigenden Lage befinden, seine Kameraden könnten ihm seine privilegierte Lage vorhalten. Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass es zum Teil auch um etwas anderes ging: Seine Mutter glaubte vielleicht, Emil sei so begabt, dass er den Unterricht nicht brauche, denn er wisse sowieso schon viel und würde, sofern nötig, nach dem Krieg rasch alle Lücken aufholen. Und so wurde er zu unserem Vorbild und zu unserem Mythos, vielleicht auch deshalb, weil er am Unterricht nicht teilnahm. Darüber, wie viel über ihn geredet wurde, zeugt auch, dass ich mich an seine Geschichte so gut erinnere, obwohl seit diesen Ereignissen schon mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen ist.

Ich weiß nicht, was mit ihm geschehen ist, ich weiß also nicht, ob er eine Chance hatte, seine Bildungslücken nach dem Krieg zu schließen, vermute aber, dass ihm dies nicht gegeben war, dass er wie die Mehrheit umgekommen ist. Die Sommerpause im Unterricht begann wie in normalen Schulen in den letzten Junitagen und sollte nie mehr aufhören. Es kam der 22. Juli 1942, es begann die letzte Phase der „Endlösung”. Als die Deportationen vom Umschlagplatz einsetzten, konnte nicht mehr davon die Rede sein, irgendetwas fortzusetzen. Ich weiß mit großer Sicherheit, dass Fräulein Julia und Frau Bronisława zusammen mit Herrn Mieczysław den Krieg nicht überlebten, sie kamen in Treblinka ums Leben. Ich weiß aber nicht, welches Schicksal meine Altersgenossen hatten. Ich weiß nicht nur nichts über Emil, den ich nie getroffen hatte, ich weiß auch nichts über Susi, die Polnisch mit deutschem Akzent sprach, ich weiß nichts über die heitere Mela, nichts über die kleine Brünette mit den traurigen schwarzen Augen, die Briefmarken sammelte (ich sammelte auch Marken, weshalb mir dieses Detail in Erinnerung geblieben ist), ich weiß nichts über den unbändigen Tadzio. Und umso mehr habe ich keine Ahnung, was mit denen geschehen ist, an die ich mich nicht erinnere. Ich kenne ihr Schicksal nicht, kann aber nicht umhin zu denken, dass alle umgekommen sind und dass das, was ich geschrieben habe, ein kollektives Epitaph ist. Ich schließe nicht aus, dass nur ich lebe und der einzige dieser Unterrichtsgruppe bin – deren ältester Teilnehmer nicht mehr als zehn Jahre alt war –, der sich an ihre Existenz erinnert und etwas über sie sagen kann. Es ist schwer, von sich selbst als den einzigen Zeugen zu denken, und noch schwerer, mit dem Bewusstsein zu leben, dass man dieser einzige Zeuge ist. Ich kann schließlich nicht fragen, warum gerade ich unter den Lebenden weile und nicht der großartige und außergewöhnliche Emil, die so merkwürdig Polnisch sprechende Susi oder der unbändige Tadzio. Warum, warum? … Antworten auf derlei Fragen gibt es nicht, man kann sich nur überlegen, ob zum Beispiel Emil dieses besondere Geschenk des Lebens nicht besser, klüger, schöpferischer genutzt hätte. Das Leben eines Menschen, der schon in der Kindheit zur Vernichtung verurteilt war.