Didaktik und Neurowissenschaften

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Didaktik und Neurowissenschaften
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Petra Arndt / Michaela Sambanis

Didaktik und Neurowissenschaften

Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis

A. Francke Verlag Tübingen

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© 2018 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.francke.de • info@francke.de

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E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

ePub-ISBN 978-3-8233-0066-3

Inhalt

  0. Prolog

 1. Verortung und Zielsetzung1.1 Rezeption von Gehirnforschung1.1.1 Distanzierung1.1.2 Direkte Aufnahme1.1.3 Kritische Übersetzung und Begründung der angestrebten Verbindung zwischen Neurowissenschaften und Didaktik

 2. Gehirn und Hirnentwicklung2.1 Ein Gehirn entsteht: Von einer dünnen Zellschicht zur komplexen Struktur2.2 Verbindung ist alles: Ein gigantisches neuronales Netzwerk wächst zusammen2.3 Ein Schritt nach dem anderen: Hirngebiete entwickeln sich nacheinander2.4 Vom Feldweg zur Schnellstraße: Myelinisierung von Nervenfasern2.5 Die Verschränkung neuronaler und kognitiver Entwicklung2.5.1 Stabilität und Störanfälligkeit: Beispiel Wahrnehmung2.5.2 Nutzung alternativer Hirnstrukturen und Strategien2.5.3 Was lange währt… : Der präfrontale Cortex2.6 Adoleszenz: Eine ganz besondere Zeit2.7 Umgebungseinflüsse und Förderung der EntwicklungAusgewählte Literaturhinweise

 3. Aufmerksamkeit und Konzentration als Leistungen des Gehirns3.1 Aufmerksamkeit in Pädagogik und Hirnforschung3.2 Wachheit, Kapazität und Grenzen von Aufmerksamkeit3.3 Aufmerksamkeit als Auswahlprozess3.3.1 Sensorische Auswahl und Orientierung3.3.2 Aufmerksamkeits- und Handlungskontrolle3.4 Aufmerksamkeit und Entwicklung3.4.1 Aufmerksamkeit und Hirnreifung3.4.2 Zusammenspiel der verschiedenen Aufmerksamkeitssysteme3.5 Aufmerksamkeit und Verhaltenssteuerung3.5.1 Verankerung von exekutiver Aufmerksamkeit und exekutiver Kontrolle im Gehirn3.5.2 Exekutive Funktionen3.6 Förderung von Aufmerksamkeit, Konzentration und exekutiven Funktionen3.6.1 Förderung der Entwicklung von Aufmerksamkeit, Konzentration und exekutiven Funktionen3.6.2 Gestaltung aufmerksamkeitsförderlicher Rahmenbedingungen3.7 Aufmerksamkeit oder Langeweile: Was passiert im Unterricht?3.7.1 Ist Langeweile positiv oder negativ?3.7.2 Tritt Langeweile in allen Schulfächern auf?3.7.3 Welche Charakteristika von Unterricht könnten Langeweile begünstigen?3.7.4 Was machen Schülerinnen und Schüler, wenn sie sich langweilen?3.7.5 Was tun? – Maßnahmen gegen Langeweile

 4. Emotionen und Motivation4.1 Emotionsstudien im Kindergarten- und Grundschulalter4.1.1 Erkenntnisse aus der Bildungshaus-Studie4.2 Akzeptanz von Schule: die Willingham-These4.3 Sprachverwendungsangst in der Fremdsprache4.3.1 Diskursfähigkeit und Sprachverwendung4.3.2 Foreign Language Anxiety als situationsspezifische Angst4.4 Mathematikphobie4.5 Selbstbestimmungstheorie der Motivation4.5.1 Motivationsstufen4.5.2 Grundbedürfnisse4.5.3 Selbstwirksamkeit und Selbstbestimmung im Unterricht4.6 Emotionen im GehirnAusgewählte Literaturhinweise

 5. Bewegung und Lernen5.1 Welche Erkenntnisse liegen zu Bewegungen als Ausgleich vor?5.2 Welche Erkenntnisse liegen für Bewegungen zu Inhalten vor?5.2.1 Szenisches Lernen5.2.2 Effekte beim Fremdsprachenlernen im Kindergartenalter5.2.3 Effekte beim Erwerb von numerischen Kompetenzen auf der Elementar- und Primarstufe5.2.4 Wie lassen sich die Effekte erklären?

 6. Gedächtnis: Was haben wir im Kopf und wie kommt es da hin?6.1 Wie ist Wissen eigentlich im Gehirn gespeichert?6.2 Wo genau steckt jetzt das Wissen?6.3 Nicht-deklaratives Gedächtnis: Wahrnehmen, Zusammenhänge kennen, Handeln6.3.1 Habituation: Anpassung an das, was ist6.3.2 Perzeptuelles Gedächtnis: Abbildung von Wiederkehrendem6.3.3 Lernen durch Assoziationsbildung: schnell zugreifen können6.3.4 Prozedurales Gedächtnis: etwas können6.4 Deklaratives Gedächtnis: Ich weiß, was ich weiß6.5 Denken und Gedächtnis: Strukturierung von Repräsentationen6.6 Enkodierung: Aufnahme von Information ins Gehirn6.6.1 Sensorische Aufnahme und Mustererkennung als Basis der Enkodierung6.6.2 Einfluss von Weiterverarbeitung und Vertiefung enkodierter Information auf die Gedächtnisbildung6.7 Konsolidierung: Festigen von Gedächtnisinhalten6.7.1 Stärkung neuronaler Gedächtnisspuren als Basis der Langzeitspeicherung6.7.2 Lernen im Schlaf6.8 Abruf, Erinnern und VergessenAusgewählte Literaturhinweise

  Epilog im Praxisfenster

  Abbildungsverzeichnis

  Sachregister

  Literatur

  Sachregister

0. Prolog

Über das Gehirn gibt es zahlreiche wissenschaftliche Abhandlungen, außerdem auch weniger um Wissenschaftlichkeit bemühte Publikationen, die aber zumindest in der Öffentlichkeit oftmals größere Beachtung finden als die eigentliche „wissenschaftliche Kost“. Das ist einerseits irgendwie verständlich, andererseits kann es mitunter auf Irrwege führen. Nicht alles, was sich leicht lesen lässt und interessant daherkommt, was vom Gehirn, unserer Steuer- und Lernzentrale, berichtet, die all das repräsentiert, was wir tun, denken und erleben, trifft auch zu. Umgekehrt muss allerdings auch eingeräumt werden, dass vieles von dem, was die Forschung an Wissen hervorbringt, gar nicht nach außen kommt und somit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern anderer Disziplinen sowie Praktikerinnen und Praktikern nicht bzw. nicht immer auf geeignete Weise zugänglich gemacht wird.

Mit Didaktik und Neurowissenschaften möchten wir Ihnen von Befunden berichten, die im Kontext des Themas Lernen (einschließlich der Gestaltung von Lehr- und LernprozessenLernprozesse) bedeutsam erscheinen. Außerdem möchten wir zum Dialog, insbesondere zwischen Wissenschaft und Praxis, aber auch zwischen verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, anregen und einen Beitrag dazu leisten. Bei einigen Leserinnen und Lesern rufen diese Anmerkungen zur Zielsetzung des Buchs wahrscheinlich die Assoziation „NeurodidaktikNeurodidaktik“ hervor, was nicht falsch ist und doch auch nicht ganz zutreffend. Inwiefern der vorliegende Band sich von bisherigen Transferversuchen unterscheidet, welchen Weg er wählt und aus welchen Gründen, das wird in Kapitel 1, der Einleitung, dargelegt.

An die methodischen Überlegungen und eine Orientierung der Leserinnen und Leser schließen sich ab Kapitel 2 inhaltliche Darstellungen an: Hier erschien es folgerichtig, bei dem anzusetzen, mit dem alles beginnt, nämlich bei StammzellenStammzellen und NeuroblastenNeuroblasten, kurzum bei der Hirnentwicklung. Kapitel 3 befasst sich mit AufmerksamkeitAufmerksamkeit und LangeweileLangeweile. Kapitel 4 geht dann nicht kognitiven Aspekten von Lernen, nämlich EmotionenEmotion und MotivationMotivation, nach, während Kapitel 5 Befunde verschiedener Disziplinen zu Bewegung beim Lernen selbst sowie zwischen einzelnen Lernphasen darstellt. Kapitel 6 schließlich ergänzt Kapitel 4 und knüpft zugleich an Kapitel 5 an, indem es sich mit dem Gedächtnis befasst. Die genannten Themen werden nicht nur aus Sicht der Hirnforschung, sondern ebenso mit dem Blick aus der Didaktik und in die Didaktik bearbeitet.

 

„Benutzen Sie Ihr Gehirn nicht nur, verstehen Sie es auch!“, lautet eine Empfehlung Manfred Spitzers (2013).1 Auch wir möchten zum Benutzen des Gehirns einladen, denn es wird durch Gebrauch immer leistungsfähiger, aber dazu später mehr. Darüber hinaus möchten wir mit dem vorliegenden Band etwas zur Verfügung stellen, das das Verstehen des Gehirns unterstützen soll und zwar nicht nur um des Verstehens willen, sondern um im Dialog Anwendungsmöglichkeiten und Möglichkeiten der gegenseitigen Bereicherung zu entdecken und auszuloten. Didaktik und Neurowissenschaften richtet sich an Studierende – an Lehramtsstudierende verschiedener Fächer für alle Schularten, an Studierende der Erziehungswissenschaft, der Frühen Kindheit, Frühpädagogik, Sozialen Arbeit, der pädagogischen und biologischen Psychologie –, an Referendare, Lehrkräfte, Bildungsverantwortliche, Lehrwerkskonzipierende sowie Aus- und Fortbildende.

Als Autorinnen blicken wir auf die spannende, erhellende und arbeitsreiche Phase der Recherche, des Austauschs und des Schreibens am Manuskript zu diesem Buch zurück und wir hoffen, dass dessen Publikation Anstöße geben kann. Wir möchten es an dieser Stelle auf keinen Fall versäumen, uns bei jenen zu bedanken, die uns unterstützt haben: Ein herzliches Dankeschön an Laura Wendland für die kritische Lektüre des Manuskripts und die Unterstützung bei der Formatierung, an Annika Jäkel für die Erstellung von Graphiken zur Neurobiologie und an Anastasia Sambanis für die Übersetzung unserer teilweise kryptischen Bildbeschreibungen in stimmige Zeichnungen. Bedanken möchten wir uns außerdem bei unseren Kolleginnen und Kollegen in der Didaktik des Englischen an der FU Berlin und am ZNL TransferZentrum für Neurowissenschaften und Lernen Ulm sowie bei den vielen Studierenden, Lehrkräften, Erzieherinnen etc., die uns mit ihren Fragen und ihren Berichten aus der Praxis bestätigen, dass es ein lohnendes und wichtiges Unterfangen ist, Didaktik und Neurowissenschaften zusammen in den Blick zu nehmen.

Ulm/Berlin, im Sommer 2017

Petra Arndt

Michaela Sambanis

1. Verortung und Zielsetzung

Der vorliegende Band ist das Ergebnis intensiver Recherche und Auseinandersetzung mit Forschungsbeständen verschiedener Disziplinen, darunter im Besonderen die Neurowissenschaften sowie die Didaktik, die Psychologie und die Erziehungswissenschaft. Durch das Zusammenführen von Wissensbeständen soll, Schlaglichter setzend auf Fragen, die für die Gestaltung von Lehr- und LernprozessenLernprozesse relevant erscheinen, der Versuch unternommen werden, Erkenntnisse zugänglich zu machen und zusammen zu bringen. Das Referieren in verständlicher Sprache, jedoch ohne unzulässige Vereinfachungen, bildet eine der Zielsetzungen des vorliegenden Bandes.1

Verschiedene Aspekte dessen, was unter Lernen subsumiert wird, sind in den zurückliegenden Jahren erforscht worden, und unterschiedliche Disziplinen, darunter die Neurowissenschaften, haben mit ihren jeweiligen Herangehensweisen und Methoden der Erkenntnisgewinnung dazu beigetragen, dass das Verständnis wachsen kann. Aber es ist nicht immer der Versuch unternommen worden, relevante Wissensbestände auch aufzuschlüsseln, sodass z.B. Studierende, Lehrkräfte etc. in geeigneter Form davon erfahren konnten. Ebenso ist es nicht immer gelungen, Knotenpunkte herzustellen, bei denen Evidenzen2 unterschiedlicher Disziplinen zusammengeführt wurden. Ein wesentlicher Grund dafür ist die Komplexität des Unterfangens. Bereits angesichts der Fülle an neurowissenschaftlichen Publikationen jährlich – die Zahlen variieren zwischen 40.000 und etwa dem Doppeltem (vgl. Sambanis 2015: 155) – wird erkennbar, dass eine Orientierung in diesem Feld und die Kenntnisnahme von Evidenzen und Gegenevidenzen eine immense Herausforderung darstellt. Hinzu kommt die Frage, wie Befunde angemessen aufgeschlüsselt werden können, damit sie auch für die Praxis des Lehrens und Lernens nutzbar werden, ohne unzulässige Verzerrungen oder Verkürzungen zu erfahren.

Die Neurowissenschaften zeichnen sich als eine forschungsaktive Disziplin mit mehreren Teildisziplinen und Ebenen dadurch aus, dass sie, einfach formuliert, zumeist anders forschen als […] [z.B.] die Fremdsprachendidaktik, in einer anderen Forschungstradition stehen und eine beachtliche Menge an Publikationen und spezifischen Erkenntnissen hervorbringen, die oftmals nur nachvollziehbar sind, wenn der Rezipient zumindest mit üblichen Vorgehensweisen, Arten der Datengenerierung und typischen Studiendesigns in dieser Disziplin vertraut ist. (ebd.)

„The time for evidence-based education has arrived“, konstatieren Sigman et al. (2014: 497), denn nach wie vor stellt Schule „the largest learning experiment ever attempted“ (ebd.) dar, d.h. es wird vieles gemacht, wie es schon immer gemacht wurde oder Neues beherzt implementiert. Vor Innovationsentscheidungen liegt es eigentlich nahe und erscheint vernünftig, die Frage nach verfügbarem Wissen zu stellen, allerdings wird dieser Schritt mitunter übergangen oder bestenfalls hastig genommen. Der vorliegende Band möchte dazu anregen, rechtzeitig und konsequent die Frage zu stellen: Was wissen wir eigentlich schon?

Die Neurowissenschaften können einen spezifischen Beitrag zur „Aufklärung über die Natur des Lernens selbst“ leisten (Blakemore & Frith 2006: 197) und zwar durch „kontra-intuitive Erkenntnisse über das Lernen“ (ebd.: 21). „[…] neuroscience provides important insights for psychological and educational research by describing the general neurophysiological preconditions of successful learning“ (Stern et al. 2007: 32). Diese Einsichten sind für die Didaktik von zentraler Bedeutung, denn: „Education is about enhancing learning, and neuroscience is about understanding the mental processes involved in learning“ (The Royal Society 2011: V). Dennoch darf bei dem Versuch, eine Verbindung zwischen Neurowissenschaften und Didaktik herzustellen, nicht in Vergessenheit geraten, dass die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse zwar dazu beitragen, die beim Lernen ablaufenden Vorgänge und damit die neurophysiologischen Voraussetzungen von Lernen zu erfassen. Die Didaktik muss dann aber als „die Wissenschaft vom pädagogisch angeleiteten Lehren und Lernen“ (Friedrich 2009: 272) Antworten auf die Frage finden, wie das angestrebte learning enhancement unter Berücksichtigung der identifizierten neurophysiologischen Vorgänge sowie der Anforderungen an Unterricht und der gegebenen Kontextfaktoren erreicht werden kann. Aus unserer Sicht besteht die vordringliche Aufgabe darin, die Fragen nach dem Was wissen wir? und dem Was kann daraus auch unter Einbezug weiterer Wissensstände und Sichtweisen für das Lehren und Lernen geschlossen werden? aufzugreifen und in einer wechselseitigen Transferdiskussion zu verankern.

Bei dem Versuch, mögliche Antworten auf die Frage nach Konsequenzen für die Praxis zu finden, werden sich neue Fragen ergeben und mit ihnen der Wunsch, diese so beantworten zu können, dass auch sie zu einer „evidence-informed practice“ (Nevo & Slonim-Nevo 2011) beitragen können. Dies verweist auf die Prozessualität des gesamten Unterfangens: Evidenzbasierte Didaktik kann nicht statisch sein. Sie speist sich aus Forschungsfeldern, die sich durch Dynamik auszeichnen. Sie kann daher nicht beanspruchen, eine Art unerschütterlicher Heilslehre zu vermitteln.

Ein zeitgemäßes Verständnis von einer sich auch auf Erkenntisse der Neurowissenschaften stützenden Didaktik bedarf eines Weiterdenkens und teilweise auch Ablegens dessen, was gemeinhin mit dem Begriff NeurodidaktikNeurodidaktik assoziiert wird, nämlich, auf eine einfache Formel gebracht, das Ziehen von Schlussfolgerungen aus Befunden der Neurowissenschaften, oftmals ohne vorherige Auseinandersetzung mit möglichen Vorgehensweisen und ohne bewusste Entscheidung für ein Prozedere. Das eher intuitive und vor allem rein lineare Übertragen neurowissenschaftlicher Erkenntnisse, z.B. in die „Pädagogik als Anwendungsfeld“ (Müller 2009: 56), scheint zu kurz zu greifen und wird schon Ende der 1990er-Jahre in dem vielzitierten Artikel von Bruer (1997: 5) als „a bridge too far“ bezeichnet.

Seit einiger Zeit wird zum Umdenken aufgefordert: „knowledge needs to go in both directions“ (The Royal Society 2011: 18, kursiv im Original). Daraus ergibt sich beim Verbinden von Neurowissenschaften und Didaktik die Aufgabe, sich von dem linearen Modell zu lösen, den Blick zu erweitern, d.h., wie oben erwähnt, den Versuch zu unternehmen, Knotenpunkte im Wissensstand herzustellen. Anstelle einer einspurigen Kommunikationsführung, bei der die Gehirnforschung ihre Befunde anderen Disziplinen vermittelt, sollte es die NeurodidaktikNeurodidaktik als ihre Aufgabe verstehen, den Dialog zwischen den Neurowissenschaften, der Didaktik, Psychologie und Erziehungswissenschaft sowie zwischen Wissenschaft und Praxis anzuregen, weiter zu befördern und zu moderieren:3

[…] when asking how neuroscience can be useful to education it is insufficient to focus solely on our current understanding of brain function. Efforts to make change may be wasted if they are not accompanied by a reflection on how the translational process can be efficiently organized. (Sigman et al. 2014: 500)

Um darstellen zu können, wo sich der vorliegende Band verortet und wie versucht wird, den translationalen, reflektierenden und vermittelnden Auftrag zu erfüllen, werden im Folgenden zunächst kurz bisherige Entwicklungsströmungen und mögliche Positionen im Feld der bisherigen NeurodidaktikNeurodidaktik umrissen und vor diesem Hintergrund eine Positionierung vorgenommen.

1.1 RezeptionRezeption von Gehirnforschung

In seinem Beitrag zu pädagogischen Implikationen der Hirnforschung stellt Müller (2005) systematisch dar, wer zu den Rezipienten der Neurowissenschaften zählt, warum und wie die Befunde der Hirnforschung jeweils rezipiert wurden bzw. werden. Im Folgenden sollen einige wichtige Entwicklungen nachgezeichnet und in Orientierung an der von Müller vorgelegten Unterscheidung dreier Rezeptionsmuster dargestellt werden.

Die Analyse der Art und Weise, wie die Schulpädagogik, die Didaktik – streng genommen müsste man von Allgemeiner Didaktik und den einzelnen Fachdidaktiken sprechen (vgl. Arnold & Roßa 2012: 11ff.) – und die Allgemeine Erziehungswissenschaft, ursprünglich vor allem zum Zwecke der „empirische[n] Abstützung radikal-konstruktivistischer Konzeptionen“ (Müller 2005: 71), neurowissenschaftliche Befunde rezipiert haben, erlaubt die Identifikation dreier möglicher Rezeptionsmuster: die kritische Begrenzung und DistanzierungDistanzierung, die direkte Aufnahme und die kritische Übersetzung (vgl. Müller 2005: 73). Während Letztere noch weitgehend als Entwicklungsaufgabe zu betrachten ist, sind die beiden erstgenannten Rezeptionsmuster seit einigen Jahren existent und gut voneinander abgrenzbar.

1.1.1 DistanzierungDistanzierung

In den o.g. Disziplinen sowie in weiteren finden sich Vertreterinnen und Vertreter, die den Neurowissenschaften skeptisch bis verschlossen gegenüber stehen.1 Der Wert, teils auch die Aussagekraft und Finalität (vgl. Schirp 2003: 304) oder Genauigkeit neurowissenschaftlicher Studien wird von ihnen infrage gestellt. Oftmals wird die Relevanz der eigenen Disziplin für die Erkenntnisgewinnung hervorgehoben und argumentiert, dass die Hirnforschung keine Erkenntnisse erbrächte, die nicht durch Studien innerhalb der eigenen Domäne mit mindestens ebenso hoher Genauigkeit und Aussagekraft zu erreichen seien. Ein Vertreter dieser Argumentationslinie ist der Psychologe Bowers (2015), der im Zuge seiner die Meriten der experimentellen Psychologie unterstreichenden Argumentation feststellt, dass „understanding the brain […] irrelevant to designing and assessing teaching strategies“ (Bowers 2015: 601) sei. Er begründet seine Distanznahme u.a. dadurch, dass aus seiner Sicht die Hirnforschung zum Feld der education nichts beizutragen habe, „above and beyond what psychology has already established“ (Bowers 2015: 602) oder jenseits dessen, was die Erziehungswissenschaft und Pädagogik2 sowie jede erfahrene Praktikerin und jeder erfahrene Praktiker ohnehin schon längst wisse (vgl. Schirp 2003: 304).

Oft bestätigen neurowissenschaftliche Erkenntnisse die von anderen Disziplinen generierten Befunde bzw. von Praktikerinnen und Praktikern gewonnene Erfahrungen. Von Neuro-SkeptikerNeuro-Skeptikern wird die Bestätigung auf neurowissenschaftlichem Weg als obsolet betrachtet und nicht als eine Verdichtung des Kenntnisstandes beurteilt (vgl. z.B. Bowers 2015: 603). Der „Tendenz nach betrachtet man Hirnforschung als eine Gefahr“ (Müller 2005: 91) für das eigene wissenschaftliche Fachgebiet, dessen Eigenständigkeit und Relevanz. Aus manchen neuro-skeptischen Argumentationen spricht die Sorge, mit der eigenen Disziplin in den Schatten einer populären und zudem noch sehr medientauglichen Wissenschaft zu geraten.3

 

Die große Popularität der Neurowissenschaften (vgl. u.a. Becker 2006, Heinemann 2012) seit der durch den Senat der USA ausgerufenen Decade of the Brain (1990–2000), gefolgt von der Decade of the Mind (vgl. Sambanis 2015: 153), bricht zwar trotz neuro-skeptischer Stimmen nicht ein, aber in letzter Zeit kann ein gewisser Rückgang des Interesses bzw. der Akzeptanz beobachtet werden. Dafür scheinen zwei Gründe maßgeblich zu sein: zum einen die (Omni-)Präsenz der Neurowissenschaften bis hinein in die Alltagswelt, die nach der anfänglichen, durch die Entdeckung der bildgebenden Verfahren ausgelösten Faszination zu einer Sättigung oder gar Übersättigung geführt hat und zum anderen die Kritik an der bisweilen zweifelhaften Art der Übertragung von Erkenntnissen bzw. an den Neurowissenschaften selbst.4

Die Neurowissenschaften entwickelten sich seit den 1990ern zu einer „populäre(n) Wissenschaft“ (Heinemann 2012: 42), die in viele Forschungs- und auch Lebensbereiche hineindrängte bzw. hinzugezogen wurde: Hirnforschung und Rechtsprechung (Haben wir einen freien Willen und wo zeigt er sich?), Hirnforschung und Religion (Warum sind gläubige Menschen resilienter?), Hirnforschung und Partnersuche (Partnerwahl mit Hirnscan?), Neurogastronomie (Können durch Aromen biochemische Prozesse ausgelöst und z.B. Stimmungen beeinflusst werden?) und natürlich gehirngerechtes Lernen – was wie ein Widerspruch in sich klingt, denn womit, außer mit dem Gehirn, sollte man denn lernen? In der Tat kann man sich fragen: Wo wird die Hirnforschung eigentlich noch nicht bemüht und was kommt noch alles? (Sambanis 2015: 154)

Die DistanzierungDistanzierung von den Neurowissenschaften wird u.a. durch die Vorläufigkeit mancher Befunde begründet (vgl. Müller 2005: 91), durch die Frage nach deren Geltungsbereich, der Relevanz ihres Beitrags sowie teilweise durch eine Problematisierung im Hinblick auf die Kompatibilität neurowissenschaftlicher Befunde mit denen anderer Disziplinen bzw. mit der Praxis. Häufig werden von Skeptikern Beispiele aufgegriffen, bei denen sehr beherzt oder vorschnell (teilweise von Befunden, ohne Berücksichtigung von bereits vorliegenden Gegenbefunden) auf andere Bereiche, z.B. die Gestaltung von Unterricht, geschlossen wurde.

Auch die mitunter ungenügende Bewusstmachung der Tatsache, dass das „Wissen der Hirnforschung über Entwicklung und Lernen […] oftmals ein „negatives“ Wissen ist“ (Müller 2009: 59), d.h. dass es sich um Wissensbestände handelt, die nicht am gesunden Gehirn gewonnen wurden, sondern an Gehirnen mit Beeinträchtigungen, wird als Argument gegen eine Berücksichtigung neurowissenschaftlicher Befunde ins Feld geführt.

Die von Skeptikern vorgebrachten Argumente können keineswegs generell als trivial betrachtet werden, aber sie müssen nicht zwangsläufig zu einer Ablehnung der Neurowissenschaften und zu einem Sich-Verschließen ihren Befunden gegenüber veranlassen. Bowers (2015: 601) bemängelt, educational neuroscience sei unwarrented, misleading und trivial. Im Zuge der Konzeption eines Neuansatzes zur Aufschlüsselung neurowissenschaftlicher Evidenz für die Didaktik kann dieses Urteil, selbst wenn es auf den ersten Blick tendenziell recht pauschal abwertend anmutet, nicht leichtfertig übergangen werden, zumal es vom Autor minutiös untermauert wird.5 Vielmehr sollte es zur kritischen Auseinandersetzung anregen und zu der Frage veranlassen, wie es gelingen könnte, Fehlinterpretationen, mangelnde wissenschaftliche Absicherung und Trivialität als mögliche Störfaktoren ernst zu nehmen und im Bemühen um Qualität nach Kontrollmaßnahmen zu suchen (vgl. 1.1.3).