Elisabeth Petznek

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

„Akte X“ auf Schloss Schönau

Im Schloss Schönau hatte Erzsi ein Zimmer, das in einem sonst unbewohnten Trakt des weitläufigen Gebäudes lag. Grundsätzlich war das Schloss auf Gäste ausgerichtet, es verfügte über viele Schlafzimmer, eine große Küche mit den besten Köchen, repräsentative Speiseräume und vor allem über einen wunderbaren Garten, der von Erzsis ausgesuchten Gärtnern nach ihren Wünschen gestaltet worden war. Er gehörte zu den schönsten in Österreich. Erzsi ließ es sich nicht nehmen, Postkarten mit Ansichten ihres üppig blühenden Parks drucken zu lassen. Man kann diese heute im Heimatmuseum in Schönau besichtigen.

Doch in ihr Boudoir, eine Art Privatheiligtum, das mit Dutzenden Erinnerungsstücken aus der Monarchie vollgestellt war, durfte außer ihren Kindern niemand eintreten. Und auch diese nur einzeln und nach Voranmeldung. Gerahmte Fotos ihrer Vorfahren standen sogar an die Stuhlbeine gelehnt, hauptsächlich Fotos von Kaiserin Elisabeth und Kronprinz Rudolf. Sitzbezüge und Überwürfe waren mit Vögeln bedruckt, Tiere, die Erzsi sehr liebte. Ihr Vater Rudolf war ein sogar in Biologenkreisen anerkannter Ornithologe gewesen und er hatte mit Erzsi in den wenigen Jahren, in denen er seine Tochter aufwachsen sah, viel über das Leben der Vögel gesprochen. Noch im hohen Alter konnte Erzsi die Vögel im Park ihrer Penzinger Villa anhand deren Rufe identifizieren. In Schönau besaß sie einen Papagei, der „Erzsi!“ rief, was sie ihm selbst beigebracht hatte. Ansonsten war der Raum erfüllt vom Duft der unzähligen Blumen, die an genau definierten Plätzen stehen mussten: Azaleen, Rhododendron und je nach Blütezeit Flieder, Jasmin, Begonien, Veilchen. Auch einige Aquarelle ihrer Mutter Stephanie hingen hier und Darstellungen des blühenden Schönauer Gartens, die ein von ihr beauftragter Künstler geschaffen hatte. Szenen von ihren Reisen an die Adria und die Nordsee konnte man ebenso sehen wie Kriegsschiffe, die an ihre leidenschaftliche Beziehung zu einem U-Boot-Kapitän erinnerten. Die Liaison hatte mitten im Ersten Weltkrieg in einer Katastrophe geendet und für Erzsi versank – wie für viele andere – die Welt nach 1918 im Chaos. Halt und Hoffnung mussten neu erworben werden und in dieser unsicheren Zeit waren Metaphysik und Magie gefragter denn je. Der schrecklichste Krieg, den die Menschheit bis dahin erlebt hatte, die Krise nach einer erschütterten Weltordnung: All das nahmen viele als etwas Unvorstellbares wahr, etwas, das man davor nicht für möglich gehalten hätte, das die schlimmsten Befürchtungen übertroffen hatte. Kartenleger und Hellseher hatten bei manchen Bevölkerungsgruppen Hochsaison. Der hypnotische Sog des Okkulten eroberte bürgerliche Salons und Hinterzimmer, faszinierte Künstler und Avantgardisten.

Die Toten lebten noch in den Köpfen, sie waren noch nicht richtig „begraben“. Auch in Erzsis Kopf lebten solche „Tote“, ihr Vater und ihr im Krieg gebliebener Freund. Auch sonst wurde viel gestorben in Erzsis Familie, ihr Großonkel war in Mexiko erschossen worden, ihre Großmutter und ihr Großcousin fielen politisch motivierten Attentaten zum Opfer. Zuspruch und Trost gehörten zu den Dingen, die Erzsi in ihrem Leben oft schmerzlich vermisst hatte. Sie hätte Freunde zum Reden gebraucht, Unterstützung und Verständnis in ihrer Trauer. Nach dem Ersten Weltkrieg waren es gerade die einsamen Frauen, die spiritistische Zirkel gründeten, um mit „der anderen Welt“ in Kontakt zu treten. Sie klammerten sich an die Vorstellung, die geliebten Toten seien in einer anderen Daseinsform oder auf einer anderen Ebene noch lebendig. Erzsi suchte unter anderem Beruhigung in der Astrallehre, wonach astrale Ebenbilder mithilfe von magnetischen Strichen, die das Fluidum aus dem Körper drängen sollten, sich materialisieren könnten. Diese „Doppelgänger“, Kopien der Versuchsperson, seien in Spiegeln sichtbar und könnten fotografiert werden. Derartige Inhalte wurden damals in Broschüren verbreitet, die sich mit der „praktischen Anwendung des Okkultismus im täglichen Leben“ und mit der „Entfaltung des eigenen Willens“ – so ein Werk – befassten.

Erzsi war als Person mit einem extrem stark ausgebildeten Willen bekannt und es erscheint verständlich, dass ihr theosophische Schulen (etwa Rudolf Steiner, Helena Blavatsky), die die Astrallehre und ähnliche alternative Wahrnehmungen propagierten, nahestanden. Frau Elisabeth Windisch-Graetz gehörte zu den Stammkunden der „Zentralbuchhandlung für Okkultismus“ in der Linken Wienzeile, die von Andreas Pichl geführt wurde. Pichl war in Wien eine Integrationsfigur für alle, die sich dem Okkulten und Mystischen verschrieben hatten. Er veranstaltete auch Konzerte und Vorträge zu einschlägigen Themen, außerdem engagierte er sich als Präsident der Carl-du-Prel-Gemeinde. Du Prel gehörte ähnlich wie Schrenck-Notzing zu den führenden Gelehrten auf dem Gebiet der Grenzwissenschaften, auch wenn die beiden Forscher gelegentlich Differenzen ausfochten. Du Prel hatte sich viel mit den Vorläufern des Okkultismus befasst, also mit dem Mesmerismus und der „Mondsucht“. Wie Schrenck-Notzing setzte er sich für die Integration des Spiritismus und der Hypnoseforschung in den Kanon der Naturwissenschaften ein. Den Menschen beschrieb du Prel als „Bürger zweier Welten“, wobei das irdische Leben einen „Spezialfall“ des eigentlichen, jenseitigen und transzendentalen Daseins darstelle.

Bei Pichl erwarb Erzsi das dreibändige Werk „Die Geschichte des Spiritismus“, das ihr Sohn Franzi später in den persönlichen Hinterlassenschaften seiner Mutter wiederfand. Erzsi lernte, dass Medien Phänomene bewirken könnten, die auf deren besondere psychische Disposition zurückzuführen seien. Innere Kräfte könnten als Emanationen von Fluiden sichtbar werden. Bei Sitzungen sei es möglich, dass Erscheinungen, Stimmen und andere Manifestationen des Übernatürlichen auftreten könnten. Immer gehe es darum, diese „Visionen“ durch den eigenen Willen beherrschbar und lenkbar zu machen. Sie las vom sehr berühmten Medium Eva C. (Marthe Béraud), deren Vorstellungen pornografischen und – wie später publik wurde – betrügerischen Charakter hatten. Den größten Celebrity-Status in der Welt der Parapsychologie konnte damals Eusapia Palladino für sich in Anspruch nehmen, eine süditalienische Waise, die mit Illusionisten auf Tour gegangen war und auf diese Weise wohl einige optische Tricks erlernt hatte, die sie später zum Besten gab. Ihre Bekanntheit ging auf Levitationsphänomene zurück. Sie konnte angeblich schwere Gegenstände wie Tische von 22 Kilogramm Gewicht durch die Luft segeln lassen. Ebenso konnte sie Gegenstände verrücken, ohne diese anzufassen, man hörte Musik spielen, ohne dass dafür eine Quelle zu erkennen gewesen wäre. Sie soll weiters tastbare Materialisationen hervorgerufen haben, die unsichtbar gewesen seien; sie hinterließen aber Abdrücke in Paraffin. Es gab menschliche und tierische Erscheinungen, alle begleitet von elektrischen und thermischen Phänomenen.

Die vielen Experimente mit den Medien sollten zu einer empirischen, tendenziell evidenzbasierten Metaphysik beitragen. Manchmal gelang es, zumindest die Möglichkeit von „mind over matter“ zu demonstrieren; doch letztlich blieben Schrenck-Notzing und seine Mitstreiter in einer Reihe endlos wiederholter Kunststückchen stecken. Man kam über das rein Deskriptive und/oder Spekulative nicht hinaus. Doch nach außen hin war Schrenck-Notzing in der damaligen Zeit ein bestens vernetzter Wissenschaftler mit einer Menge an Bewunderern und das „Vergebliche“ seiner Bemühungen war damals nicht so offensichtlich, wie es uns heute zu sein scheint. Solange die „Seriosität“ der Unternehmungen gewährleistet war, zeigte sich Erzsi für die Versprechungen und Reize des Okkulten jedenfalls sehr empfänglich.

Séancen

Erzsis Boudoir ist versiegelt, die Türen sind von innen versperrt. Im Raum herrscht Dämmerlicht, gelüftet wird hier selten. Die Tüllvorhänge bleiben geschlossen. Die Lampen werden mit roten Stoffen verhängt, da die Wellenlängen des weißen Lichts übersinnliche Phänomene verhindern können. Das behaupten zumindest zahlreiche Okkultisten, auch Schrenck-Notzing bevorzugt diese Art der Beleuchtung in Anwesenheit einiger seiner Medien. Abgesehen vom roten kann auch violettes Licht bei manchen Sitzungen förderlich sein. Die weit verbreitete Ansicht, dass parapsychologische Sitzungen nur bei Nacht durchgeführt wurden, ist unrichtig. Im Gegenteil, die meisten fanden (und finden) ganz normal tagsüber statt.

Schrenck-Notzing verlangt an Technik alles, was zu seiner Zeit möglich ist: Bis zu neun Kameras, eine auch an der Decke, kommen gleichzeitig zum Einsatz. Die Medien werden verdrahtet. Sie sollen Hände und Füße nicht ohne sichtbare Impulse bewegen können. Manchmal müssen sie in Käfigen sitzen, die nicht größer sind als ein Kubikmeter. Sie tragen ein speziell gefertigtes schwarzes Sitzungstrikot mit am Rücken vernähten, am Ende plombierten Schnüren. Tüllschleier verdecken Kopf und Hände. Jede Körperöffnung wird überprüft, Achselhöhlen und Frisuren werden auf versteckte Gegenstände inspiziert. Ein Federmesser wird herangezogen, um zwischen Finger- und Zehennägeln und Fleisch verborgene Fäden etc. ausschließen zu können. Mit minutengenauen Zeitangaben werden alle Geschehnisse einer Stenotypistin diktiert, die bei Rotlicht schreiben muss, auch wenn draußen helllichter Tag herrscht. Schrenck-Notzing besitzt außerdem einen elektrischen Parlographen, in den er wie in ein Diktiergerät direkt hineinsprechen kann. Doch Illusion und Täuschung werden immer zu den Vorwürfen gehören, die bei derartigen Séancen unausweichlich sind. Katzendärme, Fischblasen, eine Plazenta samt Nabelschnur, tierisches Gekröse, sogar ein im Mastdarm verborgener Pfropfen: Das alles kann – feuchtgehalten mithilfe eines Stärkekleisters – ein Ektoplasma echt aussehen lassen. Oder es kann aus Gänsefett, Gaze, Putzwolle und Watte fabriziert werden. Die materialisierten Hände können in Wirklichkeit aufgeblasene Gummihandschuhe sein, Phantome wurden als Teile übermalter Gips- und Gliederpuppen erkannt. Okkulte Erscheinung? Oder Textil, Tüll und Pappkarton?

 

Schrenck-Notzing sprach Erzsi in seinen ungefähr 50 Briefen mit „Liebe und verehrte Freundin“ oder „Chère amie“ an. Die Briefe stammen aus den Jahren 1921 bis 1928, doch ist aus den ersten Briefen ersichtlich, dass sich die beiden schon mehrere Jahre kannten.

Erzsi legte Wert darauf, anerkannte Medien bei sich zu Gast zu haben, aber sie entwickelte auch den Ehrgeiz, selbst welche zu entdecken – eine Herausforderung, die ihr letztlich zum Verhängnis wurde. Die Wirkmächtigkeit eines Mediums trug dazu bei, dass sich Erzsi Ende der 1920er-Jahre zum Verkauf des von ihr so geliebten Anwesens im niederösterreichischen Schönau entschließen musste.

Noch war es aber nicht so weit. In den Jahren 1922 und 1923 fanden parapsychologische Sitzungen in großer Anzahl im Schloss Schönau statt. Solange Schrenck-Notzing Zeit für einen Urlaub bei Erzsi erübrigen konnte, wurden fast jeden Tag solche Versuche gemacht. Die Schlossherrin hatte sich zu diesem Zeitpunkt bereits entschieden, fix an die Existenz der Geisterwelt zu glauben. Sie wollte diese neue Energie spüren und mithilfe von Schrenck-Notzing und der Medien weiterentwickeln. Euphorie breitete sich in ihr aus, wenn sie den Eindruck hatte, ihr toter Freund sei anwesend und beantworte Fragen, die sie ihm im Leben nicht mehr zu stellen imstande gewesen war.

Die wichtigsten Medien, die Erzsi nach Schönau kommen ließ, waren die Teenager-Brüder Schneider, der gelegentlich als Betrüger entlarvte „Magier“ Karl Krauss (auch: Krauß) und die junge burgenländische Dienstmagd Wilma (auch: Vilma) Molnar.

Psychokinese – die Brüder aus Braunau

Willy (auch: Willi) und dessen jüngerer Bruder Rudi Schneider wurden mehrere Male als Medien nach Schönau geholt. Vor allem der gelernte Zahntechniker Willy galt als großer Star der damaligen Parapsychologie. Beiden Brüdern wurde besondere Geschicklichkeit in den Bereichen Teleplastik, Telekinese und Psychografie attestiert, was bedeutet, dass sie fähig waren, Materialisationen hervorzurufen, Dinge zu bewegen, ohne sie zu berühren, sowie Fragen zu beantworten – in sogenannter automatischer Schrift. Die automatische Schrift erfreute sich großer Beliebtheit bei Leuten, die in Kontakt mit dem Übernatürlichen treten wollten. Erzsi konnte Fragen an Verstorbene richten und das Medium schrieb in einem Zustand des Halbbewussten die Antwort nieder. Die automatische Schrift unterschied sich stark von der „alltäglichen“ Schrift des betreffenden Mediums.

Willy und Rudi Schneider gehörten in den 1920er-Jahren zu jenen Medien, die in ganz Europa herumgereicht wurden. Die Brüder stammten aus Braunau und waren unter 20 Jahre alt. Sie zeigten ihre „Kunst“ in Wien, München, Zürich, Prag und in London vor der „Gesellschaft für Psychische Forschung“. Der deutsche Schriftsteller Carl Zuckmayer war überzeugt, das Herkunftsgebiet der Bauernsöhne hätte ihre „Leistungen“ beflügelt. Er sprach vom Innviertel als einem besonderen Ort, der geeignet sei, „das Wachstum zwielichigter zweitgesichtiger medialer oder auch pathologisch deformierter Halb-Genies oder Ganz-Charlatane“ hervorzubringen. Zu den Letztgenannten zählte er „auch die berühmten ‚Schneider-Büben‘“, die seiner Ansicht nach „ihre an sich vorhandenen Fähigkeiten mit Hilfe eines ‚Gang‘s von Erwachsenen geschickt ausgebaut und durch alle möglichen Tricks merkantilisiert“ hätten. Vom Physiker Hans Thirring wurden sie in seinem Institut an der Universität Wien untersucht. Willy Schneider musste ein „Sitzungskostüm“ tragen und wurde durch Thirring und eine weitere Person in seinen Bewegungen kontrolliert. Die Sitzung fand wie üblich beim Licht einer Rotlampe statt. Schrenck-Notzing schrieb in seinem Aufsatz „Neuere Untersuchungen über telekinetische Phänomene bei Willy Schneider“ (April 1926), dass sich die innere Kraft des Mediums in der Nähe einer weiblichen Vertrauten steigere. Wie Schrenck-Notzing schon früher postuliert hatte, existiere demnach ein Zusammenhang zwischen psychischen Phänomenen und Sexualität. Thirring war sehr geneigt, dieser These zuzustimmen. Die Telekinese betraf in diesem Fall Gegenstände, die sich teils auf einem Tisch bzw. einer Bank und außerhalb der Arm- oder Fußreichweite Schneiders befanden. Eine andere Sitzung gipfelte darin, dass Rudi Schneider eine Glocke, die sich hinter seinem Rücken in fast zwei Meter Entfernung befand, zu Boden warf. Stellten sich bei wiederholten Experimenten nicht die erwarteten, schon einmal erzielten Erfolge ein, gingen Kritiker dieser Versuche von Betrug aus. Schrenck-Notzing machte in seinem Text hingegen „die Ungeduld von seiten der Professoren“ (es waren oft Ärzte der „Wiener Landesirrenanstalt am Steinhof“ anwesend) für die „schwächeren Ergebnisse der Sitzungen“ verantwortlich. Thirring beobachtete beispielsweise ein periodisches Abflauen und Anwachsen der Kraft des Mediums. Der damals sehr bekannte Parapsychologe Harry Price wurde von Schrenck-Notzing folgendermaßen zitiert: „Wenn es sich wirklich um psychische Phänomene handelt, dann muß zur Erlangung eines echten, guten Phänomens das Vorhandensein eines wohlmeinenden, harmonischen, seelischen Kontakts zwischen Medium und Teilnehmern notwendig sein.“ Price sei überhaupt der Meinung, dass Musik oder gelöste Unterhaltung der Sitzungsteilnehmer das Medium positiv beeinflussen könnte. Schrenck-Notzing ergänzte: „Wenn das Ganze einer Prüfung, einem Examen gleicht, dann kann und wird sich niemals ein Phänomen ereignen.“

In Erzsis Versuchsanordnung in Schönau saß das Medium Willy Schneider auf einem Sessel. Schrenck-Notzing stand, um alles im Blick zu haben, neben ihm saß Erzsis ältester Sohn Franzi. Willy Schneider wandte Selbsthypnose an und fiel in Trance. Im Raum breitete sich kühle Luft aus. Die Hände des Mediums wurden kalt, was Schrenck-Notzing mit „Energieverlust“ erklärte. Ein Lufthauch streifte die Teilnehmer. Wenige Sekunden lang hörte man eine Melodie. Und dann soll sich ein Astralleib präsentiert haben, noch dazu ein weiblicher: „Minna“. Im nächsten Moment drehte sich der Bronzeluster an der Decke. Schrenck-Notzing ersuchte „Minna“, dies sofort einzustellen. Der Luster hing wieder still. Dafür erhoben sich nun auf einem Tisch ausgelegte Fächer in die Luft. Zu allem Überfluss drang aus der Tapete hinter Schneider ein schwarzer Schleier hervor und verformte sich zu einer Hand, deren Finger mehrere Fächer nahmen, als würden diese davongetragen. Während der Erscheinung hörte man Stöhnen, Keuchen und Seufzen, da die Materialisationen für das Medium körperlich anstrengend waren. Als sich die Phänomene dem Ende zuneigten, erklang aus der Spieldose auf dem Nebentisch eine Melodie. Der Körper Schneiders wurde von Krämpfen geschüttelt. Dies sei ein physisches Phänomen, das nachließe, sobald die Manifestation vorbei sei, erklärte Schrenck-Notzing. Alles spielte sich anderthalb Meter entfernt von Schneider ab.

Eine Telekinese-Vorstellung: Es geht um die Frage, ob Gegenstände bewegt werden können, ohne diese anzufassen. Hier das damalige Star-Medium in diesem Zusammenhang, Eusapia Palladino, beim Tischrücken, 1892.

Im Sommer 1923 erlosch das Licht in Erzsis Boudoir von selbst. Willy Schneiders Alter Ego („Spalt-Ich“) „Minna“ erteilte den Befehl: „Eine Kette bilden“. Auf diese Weise sollte die Energie der Teilnehmer mit der des Mediums verbunden werden, um angestrebte Phänomene zu verstärken. Der Tisch, an dem Willy saß, erhob sich, sodass zwei Tischbeine in Schwebe verharrten. Die Gegenstände auf dem Tisch, ein Taschentuch, die Spieldose und eine Tabatiere, blieben jedoch auf ihrem Platz. Diese halbe Levitation dauerte wenige Sekunden. Der Tisch war so schwer, dass Schrenck-Notzing ihn nicht anheben konnte. Lediglich im Moment der Levitation wurde er ganz leicht. Das Medium erschauerte, schwitzte, atmete schwer. Das rote Taschentuch erhob sich von der Lampe und eine Hand erschien, die sich auf Schrenck-Notzings Knie legte. Sie war durch einen immateriellen Faden mit Schneider verbunden. Schrenck-Notzing sagte später, die Hand sei warm und zehn Sekunden lang zu sehen gewesen.

Eine andere Versuchsanordnung führte dazu, dass ein gasförmiger Nebel aus Willy Schneiders Arm stieg. Die wie getönter Rauch aussehende Masse nahm die Form eines schwach leuchtenden Tellers an und als er verschwand, floss etwas Weißes von der Schulter des Mediums herab. Dieses weißliche Material kennt man unter dem bereits erwähnten Namen „Ektoplasma“. Es wird nach der Materialisierung in den Körper des Mediums, aus dem es stammt, zurückgesaugt. Das Ektoplasma wird meist als von dicklicher Beschaffenheit und als lichtempfindlich beschrieben. Es sei die direkte Ursache für paranormale Phänomene, eine sichtbare „Verstofflichung“ der vom Medium ausgehenden Energie, so die Parapsychologen.

Willy Schneider kehrte unter Zuckungen aus der Trance zurück. Er war erschöpft, die typischen „Medienkrankheiten“ Kopfschmerzen und Depressionen plagten ihn und er benötigte nach einer intensiven Sitzung wie der beschriebenen mehrere Tage Ruhe.

Als die Versuchsreihe fortgesetzt wurde, gestattete Schneider eine Sitzung ohne Rotlicht. Es war nun hell im Raum. Ähnlich wie beim Experiment in Thirrings Institut erhob sich eine kleine silberne Glocke von einem Tischchen, schwebte in zehn Zentimeter Höhe und klingelte. Dann setzte sie wieder auf und es wurde still. Das war aber noch lange nicht alles. Die erstaunten Sitzungsteilnehmer wurden Zeugen, wie sich eine Hand manifestierte, die einen Rosenstrauß fest umklammert hielt. Der Duft der Rosen breitete sich im gesamten Zimmer aus und alle konnten ihn wahrnehmen. Das Phänomen währte jedoch nur sehr kurz.

Levitation – der „Magier“

Im Juli 1924 schrieb Schrenck-Notzing in einem Brief an Erzsi, dass er über den Sommer gerne wieder nach Schönau kommen wolle. Als kleines Dankeschön für die Gastfreundschaft werde er einen „Magier“ mitbringen. Hier kündigt sich ein neues Forschungsinteresse Erzsis an. Offenbar reichten ihr die Ektoplasmen, klingenden Glöckchen und „Spalt-Iche“ nicht mehr. Sie wollte sich nun auf das Gebiet der Magie vorwagen, das über den Okkultismus hinausführt. Im Bereich der Magie ist Eigenverantwortlichkeit gefragt, das heißt, es reicht nicht mehr aus, an einer Sitzung teilzunehmen und einfach zuzusehen, was passiert. Bei magischen Ritualen ist man selbst eingebunden, wird über einen bestimmten Zeitraum geschult und initiiert. Es können durchaus Dinge geschehen, die unerwartet und gefährlich sind. Außerdem postuliert die Parapsychologie, dass die übernatürlichen Phänomene alle psychologischer oder physikalischer Natur seien. Sie sind den Naturwissenschaften zuzuordnen, messbar und müssen lediglich weiter untersucht werden, um ihren Ursachen auf die Spur zu kommen. Parapsychologische Erscheinungen sind nicht „verrückt“ oder „geheim“, sondern sie gehören zu den Forschungsfeldern der Medizin und der Physik.

Magische Phänomene jedoch überschreiten die rein menschliche Energie. Diese muss zwar vorhanden sein, aber sie wird durch verborgene Kräfte verstärkt. Es können daher weit stärkere und „unheimlichere“ Erscheinungen oder Gefühle damit verbunden sein.

Auch die von Erzsi bevorzugte Fachliteratur änderte sich grundlegend. Sie las „Die Magie“, ein dreibändiges, soeben (1923) erschienenes Werk. Vom Inhalt her könnte man es als eine Einführung in die Dämonologie bezeichnen, was bereits die Grenzen des Satanismus streift. Solche Bücher gehörten nicht ins Sortiment von Herrn Pichl in der Wienzeile. Erzsis Quelle für diese sehr speziellen Werke ist unklar. Vermutlich erhielt sie diese Dinge von jenem Mann, den Schrenck-Notzing ihr als „Magier“ vorgestellt hat. Der „Magier“ hatte ihr wohl gegen gutes Geld auch mehrere verbotene Broschüren überlassen: „Magische Briefe – Okkulte Praktiken“, Literatur, die nur für initiierte Mitglieder ganz bestimmter Kreise gedacht war. Auch diese Hefte waren nagelneu, publiziert Mitte der 1920er-Jahre. Indische Magier unterweisen hier in Briefform in folgenden Praktiken: Magie der Spiegel und Kristalle; Magie der Spaltung; Magie der Formen und Symbole; Astrologie und Magie; Magie des Pendels; Sympathie und Magie; Satansmagie; Sexuelle Magie. Die Broschüren wurden ebenso nach Erzsis Tod von ihrem Sohn Franzi in der Penzinger Villa aufgefunden. Es ist schwer vorstellbar, was der biedere Hauptschullehrer und sozialdemokratische Funktionär Leopold Petznek zu einer Lebensgefährtin gesagt hätte, die sich den Kopf über satanische Rituale und indische Sexualmagie zerbricht. Aber vermutlich hat er nie von den höchst außergewöhnlichen Steckenpferden seiner Zukünftigen Kenntnis erhalten.

 

Ihre sagenhafte Sammlung wertvoller Steine dürfte sie nicht vor ihm versteckt haben. Erzsi verfügte dank ihrer Herkunft über zahlreiche Edelsteine, die sie nach den Vorschriften ihrer diversen Heiler zur Verbesserung ihrer angeschlagenen Gesundheit einsetzte. Horoskope, die sie erstellen ließ, halfen ihr bei der Auswahl der Steine. So empfahl ihr ein Alternativmediziner, sie müsse eine Kupferplatte tragen, amalgamiert mit Quecksilber, mit einem Diamanten in der Mitte, am Rand drei im Dreieck angeordnete Edelsteine, und zwar zwei Hyazinthe und ein roter Jaspis. Im Verständnis des Yoga hilft der Hyazinth zum Beispiel bei Verlusten. Das Amulett sei an einer blauen Seidenschnur ständig am Körper zu tragen. Steine konnten neben ihrem Einsatz als magischer Schmuck auch zur Massage oder zur Wasseraufbereitung verwendet werden. Die heilende Wirkung von Mineralien wird bis heute debattiert, wissenschaftlich belegt ist sie nicht. Rosenquarz soll Gefühle und Vertrauen vertiefen, der „Stein der Liebe“, Jade, hilft laut esoterischen Lehren aus Fernost bei sexueller Unlust. Erzsi erfuhr aus der „Magie der Kristalle“, dass jeder Stein eine eigene Schwingung besitzt und sich mit verschiedenen Chakren (Energiepunkten) des Körpers verbindet. Überhaupt schworen „Magier“ wie Karl Krauss und andere in den 1930er-Jahren von Erzsi angeheuerte „Heiler“ auf die Heilkräfte von Rubin, Smaragd, Amethyst und Co.

Im Sommer 1924 trat der „Magier“ Karl Krauss seinen „Dienst“ in Schönau an. Er sei ein „Herr“, so Schrenck-Notzing, der „gleichstehend behandelt“ werden müsse, „was sich bei Ihren liberalen Anschauungen von selbst versteht“, schrieb er in einem Brief an Erzsi. Der Besuch sei keine reine Privatangelegenheit, sondern es würden auch Wissenschaftler aus Wien beigezogen werden, um den Charakter der zu erwartenden Phänomene zu bewerten. Für den „Magier“ seien Sherry und Schnaps stets zur Stärkung bereitzuhalten. Daran sollte es bestimmt nicht scheitern …

Alfred Kubin, der berühmte Grafiker aus dem Schloss Zwickledt bei Wernstein am Inn und einer der Kenner des Unheimlichen, dürfte auch zumindest einmal an einer Sitzung mit Karl Krauss teilgenommen haben. Kubin gehörte ebenfalls zur fächerübergreifenden Fangemeinde Schrenck-Notzings und lernte Erzsi in dieser Runde kennen.

Damals war Krauss noch ein relativ neuer Name in der Szene und sogar Schrenck-Notzing besaß nur wenige überprüfbare Informationen über ihn. Aufgrund dieser Unsicherheiten sollte Erzsi nie mit ihm allein sein, bekräftigte der Lehrmeister. Franzi war alsbald sehr begeistert von Krauss. Sein eingangs zitierter Ausruf „Es war fabelhaft!“ bezog sich auf eine der Krauss’schen Darbietungen. Die fast täglichen Sitzungen begannen im August 1924. Krauss stellte sich als großer Magier vor, der seine Fähigkeiten jahrelang perfektioniert habe und bei einem initiierten Meister in die Lehre gegangen sei, unter strikten Regeln und strenger Disziplin. Sein Metier sei die Verbindung menschlicher Energien mit denen des Kosmos. Er könne durch erlernte Rituale Kräfte zu Hilfe rufen, auch solche aus negativen Energiefeldern.

Rotlicht, UV-Licht, elektrisches Licht und andere Kinkerlitzchen spielen in der Magie keine Rolle. Der Magier kann seine Kraft auch im hellen Sonnenlicht entfalten. Ebenso ist Trance oder Hypnose nicht notwendig. Magische Rituale werden bei vollem Bewusstsein und in „normaler“ Ausdrucksweise durchgeführt. Auch benötigt der Magier kein Spalt-Ich („Doppelgänger“), um sich auszudrücken, Verwirrung und Unruhe, wie sie bei parapsychologischen Medien die Regel sind, belasten ihn genauso wenig. Mit Erschöpfung nach Beendigung des Rituals ist jedoch zu rechnen.

Vor der ersten Begegnung mit Krauss war Erzsi nervös. Schrenck-Notzing und Franzi mussten rechts und links von ihr Platz nehmen. Krauss begann mit einem magischen Schutzkreis, den er um sich zog. Franzi berichtete, er habe protestieren wollen, da sich der Magier ja nun im Inneren des Kreises befinde, alle anderen aber außerhalb. Doch er sei gar nicht dazu gekommen, denn sofort hätten die psychokinetischen Phänomene eingesetzt. Möbel und Gegenstände gerieten in Bewegung. Ein großer Schrank, der bisher seiner Bestimmung gemäß an der Wand gestanden sei, habe sich bedrohlich auf die Gruppe zubewegt. Die nicht von den Sitzungsteilnehmern belegten Sessel seien herumgehüpft. Franzi habe fasziniert die anwesenden Wissenschaftler beobachtet, doch sie hätten sich still verhalten. Der schwere Tisch habe sich erhoben und sei mit lautem Krach zu Boden gefallen. Die Deckenlampe schwang hin und her. Schrenck-Notzing fotografierte. Der zwar erschrockenen, aber dennoch konzentrierten Erzsi entging nicht, dass sich die Ärzte und Physiker zu den Vorkommnissen ausschwiegen.

Ein anderer Versuch spielte sich abends bei normaler elektrischer Beleuchtung ab. In einer Ecke befand sich eine Stehlampe, auf einem Beistelltisch eine Leuchte. Krauss kam herein und äußerte Sonderwünsche. Er wolle eine Flasche Rotwein, ein Glas und ein Jagdmesser. Die Herrin stimmte zu und die Sachen wurden auf den Tisch gestellt bzw. gelegt. Krauss trat in den Kreidekreis. Eine schwarze Hand erschien über dem Tisch, goss Rotwein ein und schwebte samt Glas durch den Raum. Bei Franzi machte sie halt und Rotwein rann über sein weißes Hemd. Er berichtete, dass es gewaschen werden musste. Zu trinken gab ihm die Hand offenbar nichts. Anschließend sei das Jagdmesser auf ihn zugeflogen, er habe bereits ein Kratzen auf der Haut gespürt, dann habe es abgedreht und sich in den Tisch gebohrt. Franzi echauffierte sich: „Wenn das Messer meinen Kopf getroffen hätte, wäre ich jetzt tot.“ Krauss wiegelte ab, das sei unmöglich: „Ich beherrsche diese Kräfte.“ Er werde extra für Franzi ein Andenken dalassen. Das Messer fiel vom Tisch. Nachdem Krauss es aufgehoben und Franzi übergeben hatte, entdeckte dieser, dass ein „K“ auf der Klinge eingraviert war.

Franzi beschrieb auch den Höhepunkt einer Krauss-Veranstaltung, nämlich die magische Praktik der Autolevitation. Krauss habe angekündigt: „Und jetzt fliege ich.“ Sein Körper habe sich vom Sessel gelöst und sei emporgeflogen, habe sich dann in eine horizontale Lage begeben und sei so in 1,70 Meter Höhe mehrere Male um das Zimmer geschwebt. Franzi habe dies nicht glauben können, sei aufgestanden und habe die Luft unter dem schwebenden Körper prüfen wollen. Doch da sei nichts gewesen. Die Überwindung der Schwerkraft wird im Allgemeinen der Schwarzen Magie zugerechnet. Sich zu fürchten ist hier also durchaus ratsam.

Ein anderes Mal schrieb Erzsi auf Krauss’ Anweisung hin ihren Namen auf Papier. Krauss meinte, sie solle das Papier auf ein Tablett legen und es verbrennen. Krauss öffnete das Fenster und warf die Asche hinaus. Dann kam er zurück, dreht das Tablett um und präsentierte Erzsi das unversehrte Papier. Krauss liebte es offenbar, sein Publikum zu verunsichern. Er pendelte unangekündigt zwischen Taschenspieler-Kunststückchen und angsterzeugenden magischen Phänomenen hin und her.

Erzsi wurde regelrecht süchtig nach den Vorstellungen von Karl Krauss. Der „Magier“ fuhr zwar Ende August zusammen mit Schrenck-Notzing nach München zurück, doch Erzsi wollte ihn schon bald für zwei Monate nach Schönau einladen. Die Erscheinungen, die in Schönau hervorgezaubert wurden, schlugen Erzsi mindestens so sehr in den Bann, wie den „Magier“ der Alltag im Schloss beeindruckte. Die aufmerksame Dienerschaft, der märchenhafte Schlosspark, die hervorragende Küche: Krauss stimmte freudig zu, sobald wie möglich wieder anzureisen, um in den Genuss der unwirklichen Annehmlichkeiten zu kommen, die ihm von der ehemaligen Erzherzogin geboten wurden.