Schöttau - Ein Heimatdrama

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Schöttau - Ein Heimatdrama
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SCHÖTTAU - Ein Heimatdrama

1  Intro

2  Vorwort

3  1. Schöttau

4  2. Ein alter Dämon kehrt zurück

5  3. Der Wildschütz

6  4. Auf Spurensuche

7  5. Im Beichtstuhl

8  6. Das alte Jagdgewehr

9  7. Der Zug

10  8. Birnenschnaps

11  9. Ein grauer Morgen

12  10. Hirschbraten

13  11. Vogelkunde

14  12. La Messa da Requiem

15  13. Der Heimkehrer

16  14. Better call Wilfried

17  15. Passionsspiele

18  16. Die Bürgerversammlung

19  17. 30 Silberlinge

20  18. Trauer, Angst und Zweifel

21  19. Vorfreude

22  20. Das Geburtstagsfest

23  21. Ein Sommernachtskonzert

24  22. Geständnisse

25  23. Katerstimmung

26  24. Die letzte Schlacht

27  25. Des König Dachsteins letzter Gruß

28  Nachwort


Schöttau

Ein Heimatdrama

Michael Schwingenschlögl

Impressum

© 2020 Michael Schwingenschlögl

ISBN Paperback: 978-3-753127-11-8


Vorwort

Interviewer: Sehr geehrter Herr Autor, ich begrüße Sie.

Michael: Ich interviewe mich doch wieder selbst.

I: Fein. Sprechen wir lieber über Ihr mittlerweile zweites Buch. Es ist ein Heimatdrama geworden, das im Jahr 1899 spielt. Bin ich da richtig informiert?

M: Ja, wir reisen dieses Mal ins Jahr 1899 und begeben uns ins steirische Dachsteingebiet. In einem verborgenen Tal liegt die fiktive Stadt Schöttau, wo sich ein dunkles Drama ereignet.

I: Klingt ja schon einmal recht spannend. Erzählen Sie uns doch einmal, wodurch sich dieses Buch von Ihrem ersten unterscheidet. Sie haben mir ja vorhin gesagt, dass Sie sich doch sehr weiterentwickelt haben.

M: Diese Geschichte lebt vor allem von ihrem schwarzen Humor und den Figuren. Bei der Märchenstunde ist ja der Erzähler sehr präsent gewesen und der Humor ist meistens von ihm und seinen Formulierungen ausgegangen. Der Erzähler schaltet sich jetzt nur noch am Anfang ein, ab der Stelle mit dem Zug zieht er sich fast gänzlich zurück. Das ist dann auch jener Punkt, an dem die Geschichte und der Humor immer dunkler werden.

I: Schön. Kann man also sagen, dass der Erzähler und sein Erzählstil dieser Geschichte für Ihre persönliche Entwicklung stehen?

M: Das kann man so sagen, so war es auch geplant. Ich kann vor mir selbst behaupten, dass ich mich gut entwickelt habe und mir der Sprung auf die nächste Ebene gelungen ist.

I: Fantastisch! Wie Sie vorhin schon erwähnt haben, spielt Ihr neues Buch in der Steiermark. Wieso gerade die Steiermark und nicht Tirol oder Salzburg?

M: Ich bin in den letzten Jahren viel in den steirischen Bergen unterwegs gewesen und habe mich in diese herrlichen Landschaften verliebt. Von daher musste ich nicht lange nach einem geeigneten Schauplatz suchen.

I: Sie haben ja schon gesagt, dass diese Geschichte sehr von den Figuren lebt. Gehen Sie doch einmal kurz auf sie und die Geschichte ein, aber verraten Sie bitte nicht zu viel.

M: Der Johann, der Bürgermeister, der Pfarrer, der Moosbacher Gustl und ein paar andere lustige Gestalten haben sich in der Stadt Schöttau eine schöne, heile Welt errichtet, die jedoch langsam zu bröckeln beginnt. Die Geheimnisse werden mehr und je mehr sie versuchen, diese zu lösen, desto unangenehmer wird es für sie. Niemand von ihnen hat eine weiße Weste und obwohl auch jeder von ihnen die Moral und das gute Gewissen beiseiteschiebt, so hat trotzdem jeder eine schrullige Seite, die man einfach gernhat.

I: Ich unterbreche Sie jetzt an dieser Stelle, denn wir wollen uns jetzt alle selbst ein Bild davon machen. Möchten Sie noch etwas sagen?

M: Gute Unterhaltung!

I: Vielen Dank! Wir sehen uns dann nachher noch einmal.

1. Schöttau

Servus! Es freut mich wahnsinnig, euch endlich persönlich begrüßen zu dürfen! Vielen Dank, dass so viele nette Gesichter meiner Einladung gefolgt sind und sich hier und heute eingefunden haben. Der Einfachheit wegen könnt ihr mich gerne Sepp nennen. Ein passender Name, der sich gleich zu Beginn den alpenländischen Klischees bedient. Da setze ich mir doch noch geschwind meinen feschen Steirerhut mit Gamsbart auf. Perfekt!

Falls jemand die hollywoodreifen Teaser auf meinen, von Follower mittlerweile übergehenden, Socialmediakanälen noch nicht gesehen hat, oder nur wegen des versprochenen Freibiers gekommen ist, dem möchte ich nur kurz den Anlass unserer feinen Abendgesellschaft erklären.

Wie bitte?

Ja, ich bin mir sicher, dass die Lieferung mit eurem Freibier in Kürze eintreffen wird.

All jene, die der unendliche Durst nach frischem Hopfenglück bereits in staubige Mumien verwandelt hat, denen kann ich derweil gerne eine kleine Flasche Mineralwasser um 5€ oder eine Bouteille DAC von meinem Haus- und Hof Winzer um 30€ verkaufen.

Sie warten lieber auf das Bier, werter Herr? Auch gut.

Um es nicht unnötigerweise noch weiter in die Länge zu ziehen: Durch einen glücklichen Zufall im Zuge einer eher unglücklicheren Erbschaft, sind mir alte Schriftstücke und Dokumente in meine gepflegten Hände gefallen, die eine höchst brisante und interessante Story erzählen.

Da ich einem netten und äußerst attraktiven Publikum, Gruß geht raus an die blonde Dame im Gucci Kleid in Reihe zwei, liebend gerne solch wunderbare Geschichten präsentiere und es auch schon einige Zeit her ist, dass ich so etwas zum letzten Mal gemacht habe, hat sich mir nun der Anlass geboten, eine kleine Zeitreise mit euch zu unternehmen und die Erlebnisse unserer Vorfahren zu erkunden.

Bevor es gleich losgeht, möchte ich noch eine Sache erwähnen. Wie ihr nun wisst, haben sich all die Geschehnisse, von denen ihr gleich hören werdet, tatsächlich so abgespielt. Böse Zungen mögen vielleicht behaupten, dass es einige geschichtliche und geografische Ungereimtheiten gibt und gar manches aus einer vor Fiktion nur so sprudelnden Quelle entspringt, und damit könnten sie aller Wahrscheinlichkeit recht haben. Aber sei‘s drum, lasst euch nun von mir in ein wunderbares Abenteuer entführen!

Der absolute Knaller ist ja, dass wir für unser heutiges Epos gar nicht weit reisen müssen. Wir bleiben einfach in unserem schönen Österreich!

Um den Einstieg noch bombastischer zu gestalten, wäre jetzt wieder Musik angebracht. „Eine Alpensinfonie“ von Richard Strauss oder die „Sinfonia di caccia“ von Leopold Mozart würden sich da wohl thematisch ganz gut anbieten, aber ich habe nur eine Rammstein CD da, also fällt die musikalische Untermalung auch dieses Mal wieder aus und wir lassen die Instrumente nur in unseren Köpfen erklingen. Einverstanden? Toll!

Zu den imaginären Tönen der Hörner, Violinen und Trompeten begeben wir uns nun auf die Reise in eine atemberaubende Alpenkulisse.

Irgendwo in den steirischen Teilen des Dachsteinlandes muss sich all das zugetragen haben.

Das 19. Jahrhundert wog sich in seinen letzten Tagen. Ach, eine herrliche Zeit!

Österreich hatte noch einen Zugang zum Meer, der gute, alte Gulden war gerade durch Krone und Heller ersetzt worden und wir mussten uns damals noch nicht mit Bundespräsidentenstichwahlwiederholungsverschiebungen, Neuwahlen, besoffenen Urlaubsgeschichten, Sondierungsgesprächen und Übergangsregierungen herumschlagen, denn Kaiser Franz Joseph aus dem Haus Habsburg-Lothringen stand an der Spitze der Macht. Traumhaft, oder?

Nur seine liebe Sissi hatte man kurz vor dem Start unserer Geschichte schon abgemurkst. Tragisch, aber wir haben ja alle die tollen Filme mit der bezaubernden Romy Schneider gesehen und wollen uns jetzt auch nicht mit den damaligen rot-weiß-roten Royals befassen.

 

Ach ja, ehe ich es vergesse: Die Leute in unserem Heimatdrama sprechen selbstverständlich alle im Dialekt. Ich werde das Gesagte jedoch aus erzählungsökonomischen Gründen in Hochdeutsch wiedergeben. Denkt euch aber bitte den Dialekt immer schön dazu, denn dann erscheinen die Worte und Sätze viel authentischer.

Genug geschwafelt, auf geht’s!

Wir nähern uns einem wildromantischen Tal, das man so heute nicht mehr findet. Bedrohliche Wände und schauderhafte Türme aus bleichen Felsen thronten erhaben und einschüchternd über dem Tal. Zu deren Füßen erstreckten sich uralte Nadelwälder und sanfte Almen, deren leuchtendes Grün man vermutlich vom Mond aus sehen konnte. Garniert wurde das Ganze mit einem Farbfeuerwerk der schönsten Wildblumen.

Noch war aber von dieser eben beschriebenen Sommersymphonie der Flora nicht wirklich etwas zu sehen. Langsam und schwermütig kam das sehnlich erwartete Frühjahr in seine Gänge. Die eisige Kralle des Winters legte ganz behutsam ihre erfrorenen Finger aus diesen pittoresken Gefilden.

Das Getier der Berge bemerkte als Erstes die Wiederankunft des Lenzes und feierte diese gebührend mit seinem Erwachen aus dem Winterschlaf.

Bald darauf spürten auch die Menschen im Tal die leicht wärmer werdenden Strahlen des feurigen Himmelskörpers. Spärlich bekam das strahlend weiße Winterkleid auf den Almen und Berghängen braune und grüne Flecken. Allmählich änderte sich auch der Aggregatszustand der mächtigen Eiswände der gefrorenen Wasserfälle und erste Tropfen plätscherten quirlig dem Frühling entgegen.

Grund genug für unsere Freunde im Tal, eine kleine Sause zu schmeißen.

Wie es sich für vornehme Gäste gehört, stoßen wir erst ein wenig später zu der illustren Feiergesellschaft hinzu.

Ich darf euch zunächst einmal den Schauplatz unseres epochalen Alpenthrillers vorstellen: Schöttau.

Schöttau war eine kleine Stadt, aber damit auch schon der größte Ort in dem prächtigen Tal, von dem ich euch eben erzählt habe.

Wie jedes Jahr war Schöttau auch im Winter 1898/99 für einige Wochen von der Außenwelt abgeschnitten. Die abenteuerliche Straße ins Ennstal war seit einiger Zeit wieder passierbar und so beehrte auch der ein oder andere auswärtige Gast die Frühlingsfete.

Fremden gegenüber war man in Schöttau immer sehr negativ gestimmt, außer sie hatten reichlich Zaster in den Taschen und am besten noch einen fetzigen Adelstitel obendrauf.

Viel war in unserer neuen Lieblingsstadt nicht los. Die meisten Einwohner waren Land- oder Forstwirte, streng katholisch und auch in allen anderen Gedanken, Taten und Worten ultrakonservativ. Sie waren dem Kaiserreich treu ergeben, am Sonntag ging jeder in die Kirche und die Frauen mussten den fleißigen Männern das wohlverdiente Mahl zubereiten. Eine heile Welt eben.

In der „Innenstadt“, wenn man den winzigen Platz in der Stadtmitte so bezeichnen will, befanden sich selbstredend die wichtigsten Gebäude: die Kirche des heiligen Pankratius, das Wirtshaus und ein sehr altes, aber schön renoviertes Rathaus. Ein Hotel gab es auch noch, aber dazu werde ich später mehr erzählen. Lediglich eine Filiale der Raiffeisenbank gab es damals noch nicht, sonst wäre die kleine, ländliche Stadt perfekt gewesen.

Nun besuchen wir aber endlich einmal das lustige Fest.

Die spaßige Party hatte sich aufgrund der kühlen Temperaturen zu fortgeschrittener Stunde schon ins Innere des Gasthauses verlagert, das den Namen „Kirchenwirt“ trug und von dem geselligen Wirtspaar Anton und Herta Sagerer betrieben wurde. Der Sagerer Anton braute auch gemeinsam mit seinem Bruder Ferdinand das Bier für die Stadt, das berühmte „Schöttauer Bräu“. Das war noch ein richtiges Bier und kein Craft Beer Unfug mit Mangogeschmack.

Ob jung oder alt, alle waren sie noch kräftig am Feiern. Außer natürlich der Maierleitner Hans, der lag nämlich immer als Erster im Koma.

Da die Kehlen schon gut geölt waren, musste selbstverständlich ein Lied her.

Während alle Gäste auf ihren Stühlen saßen, oder sich darauf in einer gefährlichen Schräglage befanden, erhob sich ein Mann mit seinem Akkordeon.

Ein Prachtkerl von einem Mann, obwohl er schon fast 50 war. Den kräftigen Körper hatte er allerdings nicht durch hippe Workouts und überteuerte Proteinshakes im coolen Gym bekommen, sondern durch die harte Arbeit auf der Alm und im Wald sowie durch seine wahnwitzigen und tollkühnen Bergtouren. Sein Gesicht wirkte kantig und vom Leben gezeichnet. Dieser Recke besaß eine Ausstrahlung, die all die riesigen und schroffen Felsgiganten vor der Haustüre erblassen ließ.

Mit seinem Erheben und dem Griff nach der Ziehharmonika, verstummten auch alle Festgäste. Er genehmigte sich noch einen großen Schluck Zirbenschnaps und legte los. Nicht einmal Gianluigi Buffon kann die italienische Nationalhymne so inbrünstig singen, wie der Kerl sein Heimatlied sang. Und jeder im Wirtshaus kannte den Song und tat es ihm gleich. Wenn jemand nicht mitsang, dann bekam es der stattliche Musikant mit und warf ihm für den Bruchteil einer Sekunde ganz unterschwellig einen derart frostigen und diabolischen Blick zu, dass derjenige sofort zu singen begann. Dieser Mann hatte irgendetwas Anziehendes, irgendetwas Faszinierendes an sich. Auch die jungen Damen in ihren schicken Dirndln himmelten ihn mit einem Glitzern in den Augen an. Diese Aufmerksamkeit und diese Begeisterung an seiner Persönlichkeit genoss er richtig und er sang mit einem breiten Grinser in der Visage immer lauter und lauter.

„…Hochdroben am Felsenkranz

Ehren wir unseren Kaiser Franz

Herrgott schütze unser Land

Die ganze Enns entlang

Holodereiduljo Holodereiduljo

Holodereiduljo Holodereiduljo

Wo unser König Dachstein thront

Und der schönste Bock dort oben wohnt

Wo der Adler einsam seine Kreise zieht

Und man bis zum großen Glockner sieht

Unsere Berge sind weltbekannt

Das ist unser stolzes Heimatland!“

„Schön hat er wieder gespielt, der Johann“, sagte die alte Rieder Bäuerin.

Ein wenig betrunken war sie schon, aber das war hier jeder.

Ja, das war der Johann, benannt nach dem berühmten Erzherzog Johann.

Der Vater von unserem Johann hatte den Erzherzog oft auf seinen Wanderungen und Jagden begleitet. Unser Johann hatte den allseits bekannten Adeligen ebenfalls einmal kennengelernt, da war er aber noch ein kleiner Lausbub gewesen. Die Erinnerungen an damals verblichen aber nie.

Der gute Johann genoss in der Gesellschaft ebenfalls einen hohen Rang, denn er war der größte und einflussreichste Bauer der gesamten Umgebung. Nichts im Tal passierte ohne seine Zustimmung. Er beschloss, wer heiraten durfte. Er beschloss, wer sich ein Haus bauen durfte. Er beschloss, wer sich neues Vieh zulegen durfte. Zynische Stimmen aus dem dunklen Hintergrund zischten, dass auch er bestimmte, wer sterben durfte.

Kaiser Franz Joseph regierte zwar das Habsburgerreich, aber der Johann Schöttau und sein Umland. Und niemand wagte es, ihm zu widersprechen, sein Wort war Gesetz. Sektenhaft folgten und vertrauten sie ihm alle.

Aber er war noch viel mehr. Er war, wie könnte es anders sein, der oberste Jäger in der Region und schoss immer den prächtigsten Bock. Im Wilden Westen hätten sie ihn sicher „One shot John“ genannt, denn er erlegte jedes Tier mit dem ersten Schuss. Zwischen Dachstein und Schneeberg gab es einfach keinen besseren Schützen. Vermutlich auch keinen besseren Alpinisten, Johanns nächstes Talent. Egal ob in den schauderhaften Wänden der Schöttauer Berge, am Dachstein, im Gesäuse oder am Hochschwab, er erklomm alles ohne Seil und Sicherung. Als tollkühn, todesmutig, verrückt und nicht wiederholbar, bezeichnete man seine Touren. Keine Wand war ihm zu steil, keine Platte zu abschüssig und kein Turm zu hoch. Meistens ging er allein, denn da war er schneller und konnte sich dabei komplett dem Berg hingeben. Außerdem hatte er schon zu viele Tragödien in den Bergen erlebt. Neben etlichen tapferen Bergkameraden hatte er auch seine beiden Brüder und den Vater seiner Frau bei seinen Unternehmungen verloren. Der Johann wusste, dass der Tod sein ständiger Begleiter war, aber es erschien ihm, als wäre er unantastbar, unbesiegbar gewesen.

Nun gut, wo sind wir stehengeblieben? Ach ja, beim Fest.

Nach seinem musikalischen Liebesgeständnis zu seiner Heimat, kippte er einen Viertelliter Zirbenschnaps mit einem Schluck hinunter und rief: „Wollt ihr noch ein Lied?“

„Ja!“, hallte es im Chor durch die stickige Wirtsstube.

„Vom Grimming weht der Schneewind rüber

Heut‘ zum aller letzten Mal im Winter

Jodeleidio Jodeleidio…“

Da wir nun den Johann kennen, darf ich euch auch noch weitere wichtige Persönlichkeiten in Schöttau vorstellen. Beginnen wir mit dem heiligen Triumvirat: Dem Bürgermeister, dem Pfarrer und dem Lehrer.

Ludwig, der Bürgermeister, war ein gieriger, verfressener und dem Alkohol schon komplett verfallener Mann. So etwas wie Anstand oder Moral kannte er nicht wirklich. Für eine Hand voll Heller und drei Flaschen Wein hätte er seine Großmutter, Gott hab sie selig, verklopft und sich dabei noch grinsend die Hände gerieben. Auch wenn die persönliche Bereicherung immer im Vordergrund stand, so war er tatsächlich der Überzeugung: „Was gut für mich ist, ist auch gut für alle anderen.“

Aber der Ludwig war im Grunde ein gemästeter Stier, der es nicht mehr aus dem Stall schaffte und ab und zu seinen Kopf beim Fenster rausstreckte und kräftig schnaufte. Denn wie wir alle schon wissen, hatte der Johann in Wahrheit das Sagen im Tal. Der Ludwig war da nur der etwas ungustiöse und griesgrämige Grüßaugust, der mehr zu sein glaubte, als er in Wirklichkeit war. Ihr seht, die Regionalpolitiker haben sich bis heute kaum verändert.

Weil wir uns gerade mit heiteren Persönlichkeiten befassen, wandern wir am wolkenlosen Himmel über Schöttau weiter der Sonne entgegen und treffen auf die nächste strahlende Gestalt: Pfarrer Pius.

Der gute Pius war nicht nur ein großer Verehrer unseres Herren, sondern ein noch viel größerer Verehrer des belebenden Rebensaftes und des gebrannten Blutes der Zirbenfrucht. Eines musste man ihm aber lassen: Obwohl in seinem Leben der Weingeist einen höheren Stellenwert als der Heilige Geist einnahm, er wie ein Schlot rauchte und er immerhin schon 68 Winter auf dem Buckel hatte, machte er einen erstaunlich fitten und kraftvollen Eindruck.

„Der Herrgott schaut auf mich und belohnt mich für mein sündenfreies Leben.“, meinte er immer.

Eine tiefe, rauchige Stimme, ein strenger Blick und der stets erhobene Zeigefinger, waren seine Markenzeichen. Nach außen hin und in seinen Worten war er die Reinkarnation Jesus Christi, aber in Wahrheit leuchtete kein Heiligenschein von seinem Haupt, sondern nur Scheinheiligkeit. Als moralischer Scharfrichter, oberster Inquisitor und Teufelsaustreiber, war er immer der Erste, der mit dem Kreuz in der Hand an die Türen der armen Sünder pochte, doch vermochte er im stillen Kämmerchen, jedes der 10 Gebote mehrfach zu brechen, wenn sich irgendwo wieder die Chance auftat, am großen, goldenen Honigtopf mitnaschen zu können.

Ja, waren denn alle in Schöttau so falsche Fünfziger, fragt ihr euch?

Nein, so war Schöttau nicht, es gab schließlich noch die halbwegs unschuldigen Kinder, die vom Lehrer Xaver unterrichtet wurden.

Welch ein Wunder, auch der alte Xaver war nicht unbescholten, denn er galt als Rebell! Ein brandgefährlicher Revolutionär, der auf seinen vielen Reisen den Theorien von Karl Marx gelauscht und an ihnen Gefallen gefunden hatte. Dies wiederrum gefiel dem Johann nicht und er unterrichtete seine Kinder lieber selbst.

„Der Xaver will die Bengel im Schulhaus zu Feinden des Kaiserreichs und des Patriarchats erziehen!“, sagte der Johann immer.

Ui, da gingen ja die Wogen in dem sonst so idyllischen Tal schon einmal hoch.

Wie ihr euch sicher vorstellen könnt, waren der Johann und der Xaver auch sonst nicht die besten Freunde.

Gab es noch weitere lustige Figuren?

Natürlich, zum Beispiel den Grafen. Ein ganz feiner Herr aus dem östlichen Niederösterreich, der etwas außerhalb von Schöttau einen feudalen Sommersitz besaß und Beziehungen bis ganz nach oben hatte. In letzter Zeit verbrachte er aber nicht nur die Sommer in Schöttau, sondern blieb bis in den Herbst hinein und kam früh im Jahr. Man munkelte, dass er sich in Schöttau versteckte, weil er einigen Leuten in Wien und Budapest bei schwindeligen Bankgeschäften und pyramidenspielartigen Geschäftsmodellen, einiges an Geld abgeknöpft hatte.

 

Meine Güte, war das immer ein Theater, wenn der Graf nach Schöttau kam. Die ganze Stadt brezelte sich wie die Pfingstochsen auf, die Blaskapelle musste immer aufmarschieren, dirigiert natürlich vom Ludwig, die Jäger feuerten Salutschüsse ab und die alten Peitschenknaller wurden auch wieder von irgendwo ausgegraben. Eine fürchterlich peinliche Zeremonie, bei der man glaubte, der Kaiser höchstpersönlich würde Schöttau beehren. Dem Grafen gefiel es aber, dass ihm so hofiert wurde und er ließ immer brav einen Patzen Geld da.

Dann gab es noch Dr. Ignaz Frohnleitner, den etwas schrulligen aber äußerst kompetenten Arzt in Schöttau. Der Bergdoktor, der keine Ähnlichkeit mit Hans Sigl oder Gerhard Lippert hatte, lebte zurückgezogen am Waldesrand und war allseits beliebt. Weiters nicht unerwähnt lassen möchte ich Bertl, den redseligen Briefträger, Ulrich, den mürrischen Postmeister, Walter, den schlitzohrigen Kaufmann und Alfred und Peter, die beiden pflichtbewussten Gendarmen. Keine Sorge, weitere drollige Schöttauer werden wir im Laufe dieser Geschichte noch kennenlernen.

Was ging sonst noch so in Schöttau ab?

In den letzten Jahren hatte die kleine Bergstadt einen Aufschwung erlebt. Das nahegelegene Ennstal war Mitte der 1870er durch die Eisenbahn erschlossen worden und somit fanden auch die ersten Halbschuhtouristen, Sommerfrischler und ernsthaften Alpinisten aus Wien und Ungarn den Weg nach Schöttau. Verständlich, denn all die saftigen Almen und mystisch anmutenden Wälder, die von den bleichen Felsbestien majestätisch überragt wurden, waren ein absolutes Highlight. Würde es das Schöttauer Tal heute noch geben, wäre es sicher bei den ganzen coolen Influencern auf Instagram wahnsinnig beliebt.

Anfangs standen die Menschen in dem bezaubernden Tal noch geschlossen gegen die reisewütigen „Frischluftdepperten“ und hätten diese am liebsten wieder, mit Fackel und Heugabel bewaffnet, in die östlichen Teile des Kaiserreichs zurückgeschickt.

Doch dann geschah etwas Merkwürdiges. Plötzlich hörten alle in Schöttau diese lieblichen Töne, die damals noch die Gulden von sich gaben, als sie fröhlich auf irgendeinen Tresen prasselten.

Und dann saßen sie schon beim Kirchenwirt, der Ludwig, der Johann, der feine Herr Graf, der Pfarrer und all die anderen Gierschlunde und beschlossen einstimmig: „Ein Hotel muss her!“

Nur wer sollte es betreiben?

Die Sagerers, das gesellige Wirtspaar, vermieteten schon vier kleine Zimmer und zusammen mit der Wirtsstube waren sie komplett ausgelastet. Für so ein großes und wirtschaftlich wichtiges Projekt, bedurfte es einer wahren Gastronomiekoryphäe! Die wurde selbstverständlich schnell gefunden: der Moosbacher Gustl.

Immerhin hatte er ein paar Monate zuvor in Schladming ein Gasthaus und ein Hotel mit Pauken und Trompeten gegen die Wand gefahren.

Ja, der Moosbacher Gustl war definitiv der richtige Mann dafür, daran gab es keinen Zweifel. Obendrein war er ja eng mit dem Ludwig befreundet und mit dem Johann und mit dem Grafen und mit dem Pfarrer, da mussten sie ihm schließlich in seiner finanziellen Notlage etwas unter die Arme greifen.

So kam es, dass er im Mai 1884, also gut 15 Jahre vor unserer eigentlichen Geschichte, das traumhaft schöne Hotel „Dachsteinblick“ eröffnen durfte.

Zu der Eröffnung waren sie dann alle wieder wie die Pfingstochsen geschmückt aufmarschiert: Die Blaskapelle, die alten Peitschenknaller, der Graf samt Gattin und einem Ehrengast aus Italien und die Jäger mit ihren Salutschüssen. Mei, war das wieder eine großartige Veranstaltung!

Doch mit den Touristen zogen nicht nur viele Münzen und Geldscheine ins Tal ein, sondern auch die großen Tragödien.

Es war diese unbeschreibliche und nie enden wollende Sehnsucht nach den imposanten Bergen und ihren Herausforderungen, die viele Wanderer und Kletterer bis in den Tod trieb. Wird man von einem Berg erst einmal in seinen Bann gezogen, dann lässt dieser einem auch nicht mehr los, nie mehr wieder.

Und wenn man sie heute alle fragen würde, so würde es niemand bereuen, dass er an seinem Schicksalstag nicht unten im Tal geblieben war.

Der Johann war bei vielen Dramen live dabei, sah die Körper aus der Ferne oder ganz nah aus den Wänden fallen, barg die Leichen und half zahlreichen Verletzten.

Wie ihr euch denken könnt, war der Ludwig natürlich sehr traurig über die vielen Toten, denn sie konnten dann kein Geld mehr in Schöttau lassen.

Dem touristischen Aufschwung im Tal taten all die verunglückten Bergkameraden aber keinen Abbruch und so kam es, dass im Jahr 1893 auf der Rittstaller Alm die erste bewirtschaftete Hütte im Schöttauer Land eröffnet wurde.

Die Luise, Johanns älteste Tochter, und ihr Mann Fritz wurden die Hüttenwirte.

Auf der schicken Terrasse konnte man mit einem feinen Gebräu im Krug an schönen Tagen die herrliche Aussicht auf den Dachstein und bis weit hinein in die Hohen Tauern genießen.

Ja, der Johann hatte vier Kinder mit seiner Frau, der lieben Anna. Ihr jüngster Bengel war der Hubert. Er war 20 Jahre alt und kam eher nach seiner Mutter. Anders als sein Vater, war der Hubert kein Bergsteiger und Jäger. Dafür half der ruhige Junge fleißig am Hof mit und er hatte einen Teil der Waldarbeit über. Die jüngste Tochter, die Theresia, war vier Jahre älter als der Hubert und sie war so ziemlich das hübscheste Mädchen in Schöttau. Obendrein war sie sehr intelligent und der Johann bezeichnete das blonde Dirndl immer als seinen Engel.

Ihre ältere Schwester, die Luise, war 29 und bewirtschaftete, wie eben erwähnt, seit sechs Jahren mit ihrem Mann die Rittstaller Alm.

Dann gab es noch einen Sohn, den Erstgeborenen, aber über ihn verlor der Johann kein Wort.

So, wo sind wir stehen geblieben?

Genau, bei dem heiteren Fest, bei dem der liebe Johann gerade mit voller Leidenschaft sein schönes Heimatlied gesungen hatte.

Die Sause dauerte noch die ganze Nacht über an. Es wurde weiter gesungen, getanzt, gesoffen und gelacht.

Und alle applaudierten, als des Brenner Karls jüngster Bub, der Erich, endlich den Mut aufbrachte und die bildhübsche Wirtstochter Marie küsste.

Die Leiden des Winters waren vergessen, die Freude überwog und man dankte dem Herrn, dass man auch heuer wieder von einer großen Lawine verschont geblieben war. Auch wenn das letzte, große Lawinenunglück schon fast 40 Jahre zurücklag, so geisterte doch jedes Jahr die Angst vor dem weißen Tod umher.

Sehen wir uns doch diese Tragödie von einst einmal kurz an.

Damals wurden mehrere Häuser, Ställe und Heuschober zerstört. Außerdem fanden ein kleiner Bub, Johanns Großvater und eine junge Magd in den Schneemassen ihren qualvollen Tod. In jenen dunklen Tagen waren der Ludwig und der Pfarrer übrigens noch ganz frisch in ihren Ämtern. Während der Ludwig mit der ganzen Situation völlig überfordert war, half der Pfarrer bei der Suche nach Verschütteten mit. Führend war hier Johanns Vater, der ja in der Katastrophe seinen Vater verloren hatte. Im anschließenden Frühjahr stieg der Pfarrer auf den Berg, von dem das kalte Monstrum gekommen war und betete. Er betete, dass Schöttau nie mehr wieder von einer Lawine heimgesucht werden sollte. Seine Gebete wurden anscheinend erhört, und das feierten die Schöttauer jedes Jahr. Sehr ausschweifend, auch im Jahr 1899, zum Zeitpunkt unserer eigentlichen Geschichte.

Doch all dieser Trubel und die überschwängliche Fröhlichkeit sollten nicht allzu lange andauern.

Am nächsten Tag schlug der Winter wieder mit klirrendkalter Faust zurück. Der Eiswind pfiff durch die Gassen und der Nebel hing tief und schwer im Tal.

Die Schöttauer Schickeria hatte auch nicht wirklich Zeit, um ihren Rausch auszuschlafen und stieg sehr früh an diesem Morgen aus dem warmen Bettchen. Im Rathauskeller fand ein Frühschoppen statt und da mussten noch einige Vorbereitungen getroffen werden.