Verfassungsprozessrecht

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

6. Rechtsschutzbedürfnis

107Das Rechtsschutzbedürfnis (Rechtsschutzinteresse) ist eine in anderen Gerichtsbarkeiten, etwa im Verwaltungsprozess, auch ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung anerkannte allgemeine Sachentscheidungsvoraussetzung. Sie ist in spezifischer Weise damit verknüpft, dass gerichtliche Verfahren grundsätzlich der Durchsetzung subjektiver Rechte der Antragsteller zu dienen bestimmt sind. Unter den Zuständigkeiten des BVerfG finden sich aber gerade auch solche, bei denen es nicht um die Durchsetzung subjektiver Rechte geht. Insoweit können daher jedenfalls die allgemeinen Grundsätze über das Rechtsschutzbedürfnis nicht zur Anwendung kommen. Ob und welche Voraussetzungen in diesem Zusammenhang überhaupt gelten, hängt damit von den einzelnen Verfahrensarten ab und wird im Falle beachtlicher Besonderheiten dort angesprochen (→ Rn. 340 zum Organstreit; Rn. 598f. zur |31|Verfassungsbeschwerde; Rn. 634 zur einstweiligen Anordnung nach § 32 BVerfGG; Rn. 644 zum Widerspruch gegen die einstweilige Anordnung).

Fragen zu D. Sachentscheidungsvoraussetzungen:

1 Gibt es eine Generalklausel für die Zuständigkeit des BVerfG?

2 Muss ein ordnungsgemäßer Antrag eigenhändig unterschrieben sein?

3 Welche allgemeinen, d.h. verfahrensübergreifenden, Sachentscheidungsvoraussetzungen können in Verfahren des BVerfG Bedeutung erlangen?

Die Lösungen finden Sie auf S. 195.

Literaturhinweise: Alleweldt, Ralf, Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit, 2006; Zuck, Rüdiger, Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit, JZ 2007, 1036; Urbaneck, Patric, Die Zulässigkeitsprüfung im Verfassungsrecht, JuS 2014, 896.

[Zum Inhalt]

|33|2. Teil: Einzelne Verfahrensarten des BVerfG
|34|Zur Systematik der Verfahrensarten

108Die nachfolgend zu behandelnden einzelnen Verfahrensarten des BVerfG sind weder im Grundgesetz noch im BVerfGG in einer systematisch gegliederten Form geregelt.

109Das Grundgesetz sieht neben einer Auswahl wichtiger Verfahrensarten in Art. 93 Abs. 1 Nr. 1–4c GG gemäß Nr. 5 der zitierten Bestimmung weitere Fälle vor, in denen das BVerfG entscheidet. Darunter findet sich mit Art. 100 GG eine weitere Sammelbestimmung hinsichtlich einiger als Vorlageverfahren strukturierter Zuständigkeiten. Die weiteren Verfahren sind durchweg im Zusammenhang mit den betroffenen materiellen Gegenständen der Verfahren geregelt, so in Art. 18 Satz 2, Art. 21 Abs. 2 Satz 2, Art. 41 Abs. 2, Art. 61 Abs. 1 Satz 1, Art. 98 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 5 Satz 3, Art. 126 GG, auch Art. 99 GG. Hinzu kommt ein wohl wegen der Ausführlichkeit der Regelung in Absatz 2 des Art. 93 GG (statt in einer Nummer des Absatzes 1) aufgenommenes Verfahren.

110Das BVerfGG enthält in § 13 eine umfassende Aufzählung der Verfahrensarten, die allerdings in Nr. 15 den Verweis aus Art. 93 Abs. 3 GG auf weitere Gesetze aufgreift und daher nicht (oder nur formal) abschließend ist. Die Aufzählung in § 13 BVerfGG ist grundsätzlich an der Reihenfolge der Verfassungsbestimmungen orientiert, die den einzelnen Verfahrensarten gewidmet sind. Dies erlaubt es, notfalls die dort angegebene maßgebliche Verfassungsbestimmung schnell zu ermitteln. Nachdem dieser ursprüngliche, formale Aufbau der Bestimmung bei der Aufnahme der zunächst nur in §§ 90ff. BVerfGG geregelten Verfassungsbeschwerde (als Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a, b) im Jahre 1969 mit der Ergänzung von § 13 Nr. 8a BVerfGG noch fortgeführt worden war, wurde er in neuerer Zeit mehrfach durchbrochen: Im Jahre 2002 wurde § 13 Nr. 11a BVerfGG eingefügt, der die nicht verfassungsunmittelbar vorgesehene, daher bereits von § 13 Nr. 15 BVerfGG erfasste Verfahrensart nach § 36 Abs. 2 PUAG betrifft (→ Rn. 630); der im Zuge der Föderalismusreform 2006 ergänzte § 13 Nr. 6b BVerfGG (zu Art. 93 Abs. 2 GG) weicht ebenso von der Reihenfolge der Zuständigkeiten im Grundgesetz ab wie der 2012 eingefügte § 13 Nr. 3a BVerfGG mit der Nichtanerkennungsbeschwerde des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4c GG. Ansätze zu einer sachbezogenen Systematik sind immerhin aus der Reihenfolge erkennbar, in denen die Abschnitte zu den einzelnen Verfahrensarten im besonderen Teil des Gesetzes behandelt werden. Doch ist auch dies nicht konsequent durchgeführt (vgl. nur die Stellung des 3. Abschnitts mit § 48 BVerfGG zur Wahlprüfung und die zuletzt schlicht am Schluss angehängten § 96 und §§ 96a ff.), auch fehlen Gesamt-Bezeichnungen für die dem Gesetz nur unausgesprochen zu Grunde liegenden Vorstellungen über Gruppen zusammengehöriger, strukturell verwandter |35|Verfahren. Eine Sonderstellung nimmt die 2011 als IV. Teil aufgenommene Verzögerungsbeschwerde (§§ 97a–e BVerfGG) ein.

111Auch ohne ausdrückliche normative Vorgaben lassen sich für jeweils mehrere Verfahrensarten (unter dem Vorbehalt notwendiger Verfeinerungen im Detail, die bei der jeweiligen Einzelverfahrensart erfolgen) der Sache nach folgende, wichtige Kategorien nennen:

 normbezogene Verfahren: Diese für die Integrität der gesamten verfassungsgemäßen Rechtsordnung zentralen Verfahren haben die Beurteilung von Normen hinsichtlich bestimmter Eigenschaften zum Inhalt; im Einzelnen geht es um:die Normenkontrollverfahren, deren Gegenstand die Vereinbarkeit von Normen mit ihren Maßstabsnormen und damit ihre Gültigkeit ist, namentlich die abstrakte Normenkontrolle, Art. 93 Abs. 1 Nr. 2, 2a GG (→ Rn. 114ff.), und die konkrete Normenkontrolle, Art. 100 Abs. 1 GG (→ Rn. 194ff.);das Kompetenzfreigabe-Ersetzungsverfahren, bei dem es um die Feststellung geht, ob die Voraussetzungen für den Erlass von Bundesgesetzen nach Art. 72 Abs. 4 bzw. Bundesrecht nach Art. 125a Abs. 2 Satz 2 GG gegeben sind, Art. 93 Abs. 2 Satz 1 GG (→ Rn. 178ff.);das Normenverifikationsverfahren, bei dem die Existenz einer Norm überhaupt überprüft (verifiziert) wird, Art. 100 Abs. 2 GG (→ Rn. 259ff.);das Normenqualifikationsverfahren, bei dem eine fortgeltende Norm als Bundesrecht qualifiziert wird, Art. 126 GG (→ Rn. 273ff.).

 kontradiktorische Streitverfahren: Dies sind die eigentlichen Verfassungsstreitigkeiten, in denen maßgebliche Akteure des Verfassungslebens ihre Meinungsverschiedenheiten austragen und einer nach rechtlichen Maßstäben getroffenen verbindlichen Lösung zuführen können. Im Einzelnen sind dies:das (Bundes-) Organstreitverfahren, das zwischen den Beteiligten des durch das Grundgesetz bestimmten Verfassungslebens auf der Bundesebene stattfindet, Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG (→ Rn. 291ff.);das grundgesetzbezogene Bund-Länder-Streitverfahren, in dem Bund und Länder über ihre durch das Grundgesetz bestimmten Rechtsbeziehungen im Bundesstaat streiten können, Art. 93 Abs. 1 Nr. 3, auch Art. 84 Abs. 4 GG (→ Rn. 348ff.);das sonstige Bund-Länder-Streitverfahren, in dem es um alle anderweitigen öffentlich-rechtlichen Rechtsprobleme zwischen Bund und Ländern geht, Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 1. Alt. GG (→ Rn. 363ff.);das Zwischenländerstreitverfahren, das zwischen mehreren Ländern über grundgesetzliche und sonstige öffentlich-rechtliche Rechtsstreitigkeiten stattfindet, Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 2. Alt. GG (→ Rn. 374ff.);das Landesorganstreitverfahren zwischen Landesverfassungsorganen eines Landes über ihre Rechtsbeziehungen nach Maßgabe der jeweiligen Landesverfassung, Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 3. Alt. GG (→ Rn. 385ff.);zugewiesene Landesverfassungsstreitigkeiten, die aufgrund des Art. 99 GG dem BVerfG landesrechtlich zur Entscheidung zugewiesen werden (→ Rn. 395ff.).

 quasi-strafprozessuale Verfahren: Diese sind auch mit Rücksicht auf ihren materiellen Inhalt, der mit der Sanktionierung unerwünschter Verhaltensweisen |36|zu tun hat, dadurch gekennzeichnet, dass sich ihre Regelung an das Vorbild des Strafprozesses anlehnt. Dies betrifft namentlich:das Grundrechtsverwirkungsverfahren, Art. 18 Satz 2 GG (→ Rn. 404ff.);das Parteiverbotsverfahren, Art. 21 Abs. 2 Satz 2 GG (→ Rn. 420ff.);die Bundespräsidentenanklage, Art. 61 GG (→ Rn. 438ff.);die Richteranklage, Art. 98 Abs. 2 und 5 GG (→ Rn. 450ff.).

 Verfassungsbeschwerdeverfahren: Mit diesen Verfahren können sich Träger verfassungsmäßiger Rechte gegen unzulässige Übergriffe der Staatsgewalt zur Wehr setzen. Dazu gehören:die (Grundrechts-) Verfassungsbeschwerde, die Grundrechtsträgern die Möglichkeit gibt, sich gegen Verletzungen ihrer Grundrechte durch die öffentliche Gewalt zu wehren, Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG (→ Rn. 505ff.);die kommunale Verfassungsbeschwerde, mit denen Kommunen Verletzungen ihres Selbstverwaltungsrechts durch die Gesetzgebung geltend machen können, Art. 93 Abs. 1 Nr. 4b GG (→ Rn. 613ff.).

112Die weiteren durch das Grundgesetz selbst vorgesehenen Verfahren sind jeweils so eigentümlich geprägt, dass sie sich nicht sinnvoll zu weiteren Verfahrenskategorien gruppieren lassen. Insoweit verbleiben namentlich:

 die Wahlprüfungsbeschwerde, die gegen die vom Bundestag getroffene Entscheidung im Rahmen der von ihm durchzuführenden Wahlprüfung eröffnet wird, Art. 41 Abs. 2 GG (→ Rn. 458ff.);

 die Nichtanerkennungsbeschwerde des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4c GG, mit der die Anerkennung als Partei für die Wahl zum Bundestag durchgesetzt werden kann (→ Rn. 482ff.);

 die landesverfassungsgerichtliche Divergenzvorlage nach Art. 100 Abs. 3 GG, mit der erreicht werden soll, dass LVerfG nicht von der Judikatur des BVerfG oder anderer LVerfG zum Grundgesetz abweichen (→ Rn. 491ff.).

 

113Die auf der Grundlage des Art. 93 Abs. 3 GG nur gesetzlich begründeten Verfahren (→ Rn. 629f.) sind seit der Aufnahme der Verfassungsbeschwerden in das Grundgesetz nur noch von untergeordneter Bedeutung und in Struktur und Gegenstand voneinander recht unterschiedlich.

|37|A. Abstrakte Normenkontrolle
I. Rechtsgrundlagen, Funktion und praktische Bedeutung

114Die Rechtsgrundlagen für das Verfahren der abstrakten Normenkontrolle finden sich in Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 13 Nr. 6, §§ 76–79 BVerfGG. Seit der großen Verfassungsreform von 1994 ist in Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a GG eine Variante der abstrakten Normenkontrolle vorgesehen, die in § 13 Nr. 6a BVerfGG aufgegriffen wird und im Übrigen in die §§ 76–79 integriert worden ist.

115Historische Vorbilder hat die abstrakte Normenkontrolle insoweit, als Art. 13 Abs. 2 WRV die Möglichkeit vorsah, über die Frage der Vereinbarkeit einer landesrechtlichen Vorschrift mit dem Reichsrecht die Entscheidung eines obersten Gerichtshofs des Reiches herbeizuführen; diese Zuständigkeit wurde mit Gesetz vom 8.4.1920 (RGBl., S. 510) dem Reichsgericht übertragen. Ein besonderes Verfahren für die Normenkontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Reichsrecht gab es nicht (→ Rn. 18). Erst in den ersten Landesverfassungen seit 1946 finden sich entsprechende Verfahren der Verfassungsgerichtsbarkeit im Hinblick auf die Vereinbarkeit von Landesrecht mit der Landesverfassung.

116Die Funktion der abstrakten Normenkontrolle besteht vor allem darin, die Integrität der verfassungsmäßigen Rechtsordnung zu wahren. Im Rahmen des Grundgesetzes verfolgt sie dabei den doppelten Zweck, zum einen den Vorrang der Verfassung (Art. 20 Abs. 3 GG), zum anderen den Vorrang des Bundesrechts (Art. 31 GG) sicherzustellen. Neben der Abwehr von Verstößen gegen die verfassungsrechtliche Normenhierarchie besteht ein Ziel der abstrakten Normenkontrolle auch darin, in Zweifelsfällen eine Klärung der Gültigkeit von Rechtsnormen herbei zu führen. Die in Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a GG geregelte neue Variante der Normenkontrolle dient im angesprochenen Rahmen insbesondere dem Zweck, Kompetenzüberschreitungen des Bundesgesetzgebers bei nicht gemäß Art. 72 Abs. 2 GG erforderlichen Regelungen von Materien der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenzen und mittelbar dem Bedeutungsverlust der Landesparlamente entgegenzutreten.

117Die praktische Bedeutung der abstrakten Normenkontrolle ist zahlenmäßig verglichen mit den auf Richtervorlage hin durchgeführten Verfahren der konkreten Normenkontrolle (→ Rn. 194ff.) und vor allem mit den unmittelbar oder mittelbar auf Rechtsnormen bezogenen Verfassungsbeschwerden (→ Rn. 505ff.) gering. Die relativ wenigen Verfahren haben aber oft besonderes Gewicht, weil die abstrakte Normenkontrolle der (parlamentarischen) Opposition die Möglichkeit gibt, politisch umkämpfte Gesetze, die sie im Gesetzgebungsverfahren nicht verhindern |38|konnte, nachträglich zur verfassungsgerichtlichen Kontrolle zu stellen und so doch noch zu Fall zu bringen.

II. Besondere Sachentscheidungsvoraussetzungen
1. Antragsberechtigung

118Die Antragsberechtigung ist für die beiden Varianten der abstrakten Normenkontrolle entsprechend den unterschiedlichen Zielsetzungen der Verfahren differenziert ausgestaltet.

a) Traditionelle Variante

119Bei der überkommenen Variante der abstrakten Normenkontrolle können die Bundesregierung, eine Landesregierung oder ein Viertel der Mitglieder des Bundestages (→ Rn. 122) nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 76 Abs. 1 BVerfGG den Antrag stellen.

120Bundesregierung meint dabei das aus dem Bundeskanzler und aus den Bundesministern bestehende Kollegialorgan des Art. 62 GG, auch Bundeskabinett genannt.

121Mit Landesregierung ist das nach der jeweiligen Landesverfassung in seiner Stellung der Bundesregierung entsprechende Verfassungsorgan gemeint. Angesichts des in allen Ländern verwirklichten parlamentarischen Regierungssystems bestehen über die prinzipielle Antragsberechtigung insoweit keine Unklarheiten, auch wenn die Landesregierung – wie vor allem in den Stadtstaaten – eine abweichende Bezeichnung (Senat) trägt. Die Abgrenzung der Landesregierung im Einzelnen richtet sich nach den einschlägigen Bestimmungen der jeweiligen Landesverfassung, insbesondere was die Regierungsmitglieder betrifft. Da das Normenkontrollverfahren objektiven Charakter hat, entfällt die Antragsberechtigung einer Landesregierung nicht dadurch, dass sie einem angegriffenen Bundesgesetz zuvor im Bundesrat zugestimmt hat.

122Das antragsberechtigte Viertel der Mitglieder des Bundestages ist entsprechend der Begriffsbestimmung des Art. 121 GG auf die gesetzliche Mitgliederzahl des jeweiligen Bundestages zu beziehen. Ursprünglich war der Antrag nur zulässig, wenn ihn ein Drittel der Mitglieder des Bundestages gestellt hatte; dieses Einleitungsquorum ist im Zuge der Grundgesetzänderungen zur Umsetzung des Vertrages von Lissabon auf ein Viertel verringert worden.

b) Neue Variante

123Antragsberechtigt ist bei der neuen Variante der abstrakten Normenkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a GG, § 76 Abs. 2 BVerfGG der Bundesrat, eine Landesregierung oder die Volksvertretung eines Landes.

124Letzteres verdient besondere Aufmerksamkeit, weil hierdurch den Landesparlamenten selbst die Möglichkeit gegeben wird, sich gegen Übergriffe der Bundesgesetzgebung zu wehren, ohne dabei auf die an dieser Bundesgesetzgebung ja über den Bundesrat stets beteiligte Landesregierung angewiesen zu sein. Allerdings setzt der Antrag der Volksvertretung eines Landes einen Mehrheitsbeschluss dieses Organs |39|voraus und kommt somit nicht als Mittel der Oppositionspolitik im Lande in Frage.

125Die ebenfalls neue Antragsberechtigung des Bundesrats ist demgegenüber weniger bedeutsam, da ja ohnehin jede einzelne Landesregierung – unabhängig von einer dafür erforderlichen Mehrheit des Bundesrates – die Möglichkeit hat, ein Verfahren der abstrakten Normenkontrolle einzuleiten (→ Rn. 121).

2. Antragsgrund
a) Traditionelle Variante

126Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG sieht die Möglichkeit der abstrakten Normenkontrolle „bei Meinungsverschiedenheiten oder Zweifeln“ vor. Diese Formulierung setzt § 76 Abs. 1 Nr. 1 und 2 BVerfGG in zwei alternative Möglichkeiten für die Einleitung eines abstrakten Normenkontrollverfahrens um.

127Nach der gesetzlichen Regelung muss der Antragsteller entweder das zu überprüfende Recht für nichtig halten (§ 76 Abs. 1 Nr. 1 BVerfGG); dem ist die Annahme bloßer Unvereinbarkeit mit der Maßstabsnorm (→ Rn. 163) gleichzustellen. Außerdem ist nach Nr. 2 der Antrag möglich, wenn der Antragsteller Recht für gültig hält, in diesem Falle aber nur, nachdem ein Gericht, eine Verwaltungsbehörde oder ein Organ des Bundes oder eines Landes das Recht wegen seiner Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz oder dem Bundesrecht nicht angewendet hat. Wenn die Gültigkeit der Norm zugleich aus anderen Gründen angezweifelt wird, soll diese Voraussetzung nicht erfüllt sein (BVerfGE 96, 133 [137f.]).

128Mit den Formulierungen des § 76 BVerfGG sind sicherlich die wichtigsten Fälle von Meinungsverschiedenheiten oder Zweifeln angesprochen sind; dennoch bleibt fraglich, ob die gesetzlichen Anforderungen nicht im Verhältnis zu den verfassungsrechtlichen Vorgaben zu eng gestaltet sind. Insbesondere wird man auch dann von „Zweifeln“ sprechen können, wenn die Antragsteller sich in der Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit der zur Prüfung gestellten Vorschrift lediglich unsicher sind.

129Soweit die gesetzlichen Anforderungen verfassungsrechtlich begründete Möglichkeiten zur abstrakten Normenkontrolle verkürzen, ist dem dadurch Rechnung zu tragen, dass der Antrag unmittelbar auf der Grundlage des weitergehenden Inhalts des Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG als zulässig angesehen wird (allgemein → Rn. 2). Die Grenze der verfassungsrechtlichen Antragsberechtigung wäre dann erreicht, wenn ein Antragsteller dem BVerfG eine rein hypothetische Normenkontrollfrage unterbreiten würde, ohne dass dafür ein praktisch relevanter Anlass bestünde. Insbesondere gilt dies für den seltenen Fall der normbestätigenden Normenkontrolle, für die ohne die nach § 76 Abs. 1 Nr. 2 BVerfGG vorgesehenen Anlässe kaum ein Klarstellungsinteresse (→ Rn. 152ff.) bestehen wird.

Beispiel: Nachdem das LVerfG festgestellt hatte, dass eine Rechtsverordnung mit Bestimmungen der Landesverfassung und der Landesgesetze vereinbar war, die mit bundesrechtlichen Anforderungen inhaltlich übereinstimmten, war – trotz einer früheren gegenteiligen Beurteilung der Rechtsverordnung durch das zuständige OVG – nicht mit erneuten abweichenden |40|Entscheidungen zu rechnen, so dass kein Antragsgrund für einen Normenkontrollantrag zum BVerfG bestand (BVerfGE 106, 244 [251]).

Hinweis: Die normbestätigende Normenkontrolle ist auch zulässig, wenn ein Gericht seine Entscheidung zwar formal auf eine Norm stützt, dabei aber die Grenzen verfassungskonformer Auslegung überschreitet und so eine Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG umgeht (BVerfGE 119, 247 [258f.]).

b) Neue Variante

130Bei der neuen Variante der abstrakten Normenkontrolle begnügt sich Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a GG mit Meinungsverschiedenheiten, während § 76 Abs. 2 BVerfGG verlangt, dass der Antragsteller das Gesetz für nichtig halten muss. Diese gegenüber dem Wortlaut des Grundgesetzes vorgenommene Einengung entspricht der mit der Abgrenzung der Antragsberechtigten verfolgten Zielsetzung, bringt daher den verfassungsrechtlich gemeinten Inhalt zutreffend zum Ausdruck. Im Übrigen bleibt namentlich der Bundesregierung die Möglichkeit, die aus Gründen fehlender Gesetzgebungskompetenz angezweifelte Gültigkeit eines Bundesgesetzes nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 76 Abs. 1 Nr. 2 BVerfGG feststellen zu lassen.

3. Prüfungsgegenstand

131Als Prüfungsgegenstand sollen hier die Normen bezeichnet werden, deren Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz oder dem sonstigen Bundesrecht im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle überprüft werden kann.

a) Traditionelle Variante

132Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG und § 76 Abs. 1 BVerfGG formulieren inhaltlich übereinstimmend, dass Bundesrecht oder Landesrecht den Prüfungsgegenstand bilden können; hierdurch sind auf beiden bundesstaatlichen Rechtsebenen Normen jeglicher Art und Geltungsstufe einbezogen.

133Damit können insbesondere zur Überprüfung gestellt werden:

 Verfassungsbestimmungen, und zwar neben solchen der Landesverfassungen mit Rücksicht auf die Möglichkeit verfassungswidrigen Verfassungsrechts auch solche des Grundgesetzes selbst. Dies gilt nicht nur für unter Verstoß gegen Art. 79 GG erlassene Gesetze zur Änderung des Grundgesetzes, sondern wird auch für Bestimmungen des ursprünglichen Grundgesetzes von 1949 angenommen. Allerdings geht das BVerfG davon aus, dass die für Verstöße gegen überpositives Recht ins Auge gefasste „theoretische Möglichkeit originärer ‚verfassungswidriger Verfassungsnormen‘ einer praktischen Unmöglichkeit gleichkommt“ (BVerfGE 3, 225 [233]; ähnlich BVerfGE 95, 96 [134f.]);

 Gesetze zur Änderung der Unionsverträge oder vergleichbare Regelungen, die materiell zu Änderungen des Grundgesetzes führen können und an Art. 79 Abs. 2, 3 GG zu messen sind, Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG;

 alle förmlichen Gesetze, namentlich Parlamentsgesetze, auf Landesebene auch im Wege der Volksgesetzgebung erlassene Gesetze. In Betracht kommen auch |41|nur förmliche Gesetze, also solche ohne materielle Normqualität, wie namentlich Haushaltsgesetze sowie Vertragsgesetze nach Art. 59 Abs. 2 GG, (auch) soweit sie keine normativen Regelungsgehalte in innerstaatliches Recht transformieren (→ Rn. 141); Entsprechendes gilt für die Gesetze, die nach Art. 24 Abs. 1 GG Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen bzw. nach Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG auf die Europäische Union übertragen;

 Rechtsverordnungen, Satzungen und sonstige (geschriebene) untergesetzliche Rechtsnormen jeder Art. Hierher gehören insbesondere kommunale, also von kommunalen Körperschaften erlassene Rechtsvorschriften, die dem Landesrecht zuzurechnen sind. Entsprechendes gilt für Rechtsvorschriften, die von anderen landesunmittelbaren Personen des öffentlichen Rechts erlassen sind. Entsprechend kommen als Bundesrecht auch Rechtsvorschriften bundesunmittelbarer juristischer Personen des öffentlichen Rechts in Betracht;

 

 Gewohnheitsrecht jeden Ranges.

 Keine Bedeutung für die Möglichkeit der abstrakten Normenkontrolle hat der Entstehungszeitpunkt einer Rechtsnorm. Namentlich können auch vorkonstitutionell, also zumal vor In-Kraft-Treten des Grundgesetzes, erlassene Rechtsnormen (→ Rn. 278) den Prüfungsgegenstand bilden, wenn sie nicht – abgesehen von Art. 123 Abs. 1 GG – aufgehoben worden sind.

 Von eher theoretischer Bedeutung dürfte es sein, dass auch allgemeine Regeln des Völkerrechts, die nach Art. 25 Satz 1 GG Bestandteil des Bundesrechtes sind und den Gesetzen, nicht aber dem Grundgesetz vorgehen, (hinsichtlich ihrer Geltung in Deutschland) zur Prüfung gestellt werden können.

134Keinen tauglichen Prüfungsgegenstand stellen die folgenden Kategorien dar:

 Nichtdeutsches Recht. Diese Beschränkung ergibt sich daraus, dass als Bundes- oder Landesrecht nur deutsches Recht in Frage kommt.Dementsprechend scheidet insbesondere ausländisches Recht als Prüfungsgegenstand aus, auch wenn es im Rahmen kollisionsrechtlicher Bestimmungen in Deutschland anzuwenden ist. Seine Anwendung im Inland kommt allerdings nur im Rahmen des ordre public, also bei Übereinstimmung insbesondere mit den Grundrechten (vgl. Art. 6 EGBGB), in Betracht.Ausgeschlossen ist ferner Besatzungsrecht, dessen Geltung in Deutschland allerdings mit Abschluss des 2 +4-Vertrags ohnehin ein Ende gefunden hat.Schließlich können Rechtssätze des Völkerrechts als solche, d.h. solange sie nicht über Art. 25 Satz 1 GG oder durch Transformation über ein kontrollfähiges Vertragsgesetz (→ Rn. 133) nach Art. 59 Abs. 2 GG Gegenstand des deutschen Rechts geworden sind, nicht in diesem Verfahren überprüft werden.

 Nichtstaatliches Recht. Kein Recht des Bundes oder eines Landes stellen Rechtsvorschriften dar, die von privaten Rechtsträgern erlassen sind. Hierher gehören namentlich Satzungen auch größter Vereine; nichts anderes gilt für internes Recht von Religionsgesellschaften, auch wenn sie öffentlich-rechtlicher Natur im Sinne der Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 5 WRV sind. Nichtstaatliches Recht sind auch Tarifverträge als solche, während ihre Allgemeinverbindlicherklärung staatliches Recht hervorbringt und daher einer Überprüfung zugänglich ist.

 |42|Nicht-Recht. Dies betrifft insbesondere Verwaltungsvorschriften, die ungeachtet ihrer normativen Bedeutung für den Binnenbereich der Verwaltung und etwaiger, insbesondere über den Gleichheitssatz vermittelter Außenwirkungen nicht dem traditionellen Begriff des Rechts entsprechen, der Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG zugrunde liegt. Auch Satzungen von (Versorgungs-) Anstalten des öffentlichen Rechts scheiden für die Normenkontrolle aus, wenn ihre Regelungen als privatrechtliche Allgemeine Versicherungsbedingungen einzustufen sind (zur Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde aber → Rn. 533).

135Problematisch ist, ob Bestimmungen des Rechts der Europäischen Union im Rahmen der abstrakten Normenkontrolle zur Prüfung gestellt werden können. Da es sich bei den sekundären, von Organen der Gemeinschaft (oder Union) erlassenen europarechtlichen Regelungen (insbesondere: Verordnungen und Richtlinien) nicht um deutsches Recht handelt, war deren Überprüfung im Rahmen der abstrakten Normenkontrolle traditionell als ausgeschlossen angesehen worden. Seit das BVerfG in seinem Maastricht-Urteil (BVerfGE 89, 155 [175]) allerdings angenommen hat, auch in Deutschland anzuwendendes Recht der Europäischen Gemeinschaft sei jedenfalls an den Grundrechten des Grundgesetzes zu messen, müsste konsequenter Weise dafür grundsätzlich auch die Möglichkeit der abstrakten Normenkontrolle zur Verfügung stehen (zweifelhaft). Für das primäre Gemeinschafts- bzw. Unionsrecht der europäischen Verträge kommt die Normenkontrolle der (deutschen) Zustimmungsgesetze nach Art. 23 Abs. 1 S. 2, 3 GG bzw. Art. 24 Abs. 1 GG in Betracht (→ Rn. 133).

136Im Lissabon-Urteil hat das BVerfG für sich in Anspruch genommen, im Rahmen der dort näher erläuterten Möglichkeiten einer Ultra-Vires- sowie einer Identitätskontrolle Unionsrecht zum Prüfungsgegenstand verfassungsgerichtlicher Verfahren, möglicherweise auch der abstrakten Normenkontrolle, zu machen und es dabei für in Deutschland unanwendbar zu erklären (BVerfGE 123, 267 [353ff.]). Eine dafür als „denkbar“ bezeichnete besondere Verfahrensart hat der Gesetzgeber (bislang) nicht geschaffen.

137In Umsetzung sekundären Gemeinschafts- bzw. Unionsrechts ergangenes Bundes- oder Landesrecht ist als Akt deutscher Staatsgewalt tauglicher Prüfungsgegenstand; eine unionsrechtliche Verpflichtung zu seinem Erlass kann allerdings die Feststellung eines Verstoßes gegen die Maßstabsnorm ausschließen. Soweit das Unionsrecht keinen Umsetzungsspielraum eröffnet, überprüft das BVerfG deutsches Recht, das etwa eine europäische Richtlinie umsetzt, nicht am Maßstab der grundgesetzlichen Grundrechte, solange die Europäische Union einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Union generell gewährleistet, der insbesondere den Wesensgehalt der unabdingbar gebotenen Grundrechte generell verbürgt (BVerfGE 118, 79 [95ff.]; 122, 1 [20f.]; 125, 260 [306]). Soweit der nationale Gesetzgeber allerdings bei der Umsetzung sekundären Unionsrechts Gestaltungsspielraum besitzt, unterliegt das Gesetz insoweit im vollen Umfang der verfassungsgerichtlichen Überprüfung (BVerfGE 122, 1 [20f.]; 130, 151 [178]); dasselbe hat zu gelten, wenn die Verletzung grundgesetzlicher Grundrechte |43|vom zwingenden Unionsrecht nicht geboten ist, sondern auch ihm widerspricht (auch → Rn. 239, 538).

138Eine auch praktisch wichtige Einengung möglicher Prüfungsgegenstände ergibt sich daraus, dass als Prüfungsgegenstand nur existentes Recht in Frage kommt. Dies ist in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung:

139Zum einen kann im abstrakten Normenkontrollverfahren nicht ein reines Unterlassen des Normsetzers gerügt werden. Doch stellt auch eine Norm, die als lückenhaft oder in ihrem Umfang hinter den Anforderungen zurückbleibend eingestuft wird, einen tauglichen Prüfungsgegenstand dar.

140Zum anderen bedeutet die Beschränkung der abstrakten Normenkontrolle auf existentes Recht, dass die angegriffene Norm bereits erlassen sein muss. Damit scheidet jedenfalls grundsätzlich eine präventive Normenkontrolle aus. Der insoweit maßgebliche Zeitpunkt ist der Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens, der mit der Verkündung gegeben ist. Eine verkündete Rechtsnorm stellt auch schon vor ihrem In-Kraft-Treten einen tauglichen Prüfungsgegenstand dar.

141Eine Ausnahme vom Ausschluss der präventiven Normenkontrolle wird für Zustimmungsgesetze zu völkerrechtlichen Verträgen nach Art. 59 Abs. 2 GG gemacht. Bei diesen Gesetzen ist schon mit ihrem Zustandekommen nach Art. 78 GG ein Normenkontrollverfahren möglich, weil ein Abwarten bis zur Verkündung des Zustimmungsgesetzes die (allerdings recht hypothetische) Gefahr birgt, dass es durch die daran anschließende Ratifikation zu völkerrechtlich wirksamen Bindungen kommt, die bei späterer Feststellung der Verfassungswidrigkeit des Zustimmungsgesetzes nicht mehr ohne weiteres rückgängig zu machen sind.

142Andererseits bedeutet die Beschränkung der abstrakten Normenkontrolle auf existentes Recht nicht, dass eine zur Überprüfung gestellte Norm notwendigerweise noch in Kraft sein muss. Auch eine bereits außer Kraft getretene Rechtsnorm bietet noch einen ausreichenden Bezugspunkt für ein Normenkontrollverfahren, dessen Zulässigkeit allerdings im Hinblick auf das zu fordernde Klarstellungsinteresse (→ Rn. 152ff.) ausgeschlossen sein kann.

You have finished the free preview. Would you like to read more?