Verfassungsprozessrecht

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[Zum Inhalt]

|1|1. Teil: Gerichtsverfassung und allgemeine Verfahrensregeln
|2|A. Einführung
I. Rechtsgrundlagen

1Die für das BVerfG und seine Tätigkeit maßgeblichen Rechtsgrundlagen finden sich vor allem im Grundgesetz (GG), im Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) sowie in der Geschäftsordnung des BVerfG (GOBVerfG).

1. Vorgaben des Grundgesetzes selbst

2Die zentral bedeutsamen Aussagen zum BVerfG und zu seiner Tätigkeit enthält das Grundgesetz selbst. Sie beschränken sich allerdings auf knappe Grundsätze, die durch gesetzliche Regelungen ergänzt werden müssen. Dabei kann es vorkommen, dass eine gesetzliche Regelung den bereits im Grundgesetz getroffenen Festlegungen widerspricht. In einem solchen Fall ist nach dem Vorrang der Verfassung (Art. 20 Abs. 3 GG) allein die grundgesetzliche Regelung maßgeblich. Soweit sie den verfassungsrechtlichen Vorgaben widersprechen, sind gesetzliche Vorschriften grundsätzlich nichtig (aber → Rn. 163ff.), wenn nicht eine vorrangig gebotene verfassungskonforme Auslegung möglich ist.

Beispiel: In § 63 BVerfGG wird der Kreis möglicher Antragsteller und Antragsgegner ausdrücklich („nur“) durch eine abschließende Aufzählung festgelegt, die in unterschiedlicher Hinsicht hinter den in diesem Verfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG möglicherweise Beteiligten zurückbleibt (näher → Rn. 299ff.). Das BVerfG erkennt in diesem Rahmen auch Beteiligte des Organstreitverfahrens an, die von der Aufzählung des § 63 BVerfGG nicht erfasst sind. Eine förmliche Teil-Nichtigerklärung des § 63 BVerfGG, der selbst nicht Prüfungsgegenstand eines Normenkontrollverfahrens war, im Hinblick auf das „nur“ ist nicht erfolgt. Vgl. für weitere Fälle → Rn. 126ff. (129), 389, 456f.

3Die verfassungsrechtlichen Grundlagen der Organisation des BVerfG finden sich vor allem in Art. 92 und 94 GG. Nach Art. 92 Hs. 2 GG wird die rechtsprechende Gewalt, die nach Hs. 1 des Artikels den Richtern anvertraut ist, u.a. durch das BVerfG ausgeübt. Mit dieser Zuordnung zur rechtsprechenden Gewalt im Rahmen der Gewaltenteilung trifft das Grundgesetz eine entscheidend wichtige Festlegung zur Qualität der Tätigkeit des BVerfG, die dadurch den besonderen Bindungen jeder rechtsprechenden Gewalt unterworfen wird. Vor allem bedeutet dies, dass die Entscheidungen des BVerfG stets in der Bindung an das Verfassungsrecht zu treffen sind und nicht etwa seinem politischen Gestaltungswillen überlassen bleiben. Im Zusammenspiel mit Art. 92 Hs. 1 GG wird auch deutlich, dass die Amtswalter des BVerfG, wie die aller anderen Gerichte, Richter sind. Dies hat vor allem zur Konsequenz|3|, dass die Garantien der Unabhängigkeit des Richters in sachlicher wie in persönlicher Richtung eingreifen (Art. 97 Abs. 1 und 2 GG). Art. 94 GG bezieht sich speziell auf das BVerfG und legt wichtige Grundzüge seiner Organisation fest, die im Übrigen in Art. 94 Abs. 2 Satz 1 GG ebenso wie Fragen des Verfahrens und der Entscheidungswirkungen bundesgesetzlicher Regelung überantwortet werden (→ Rn. 6).

4Art. 93 GG enthält eine Aufzählung der dem BVerfG übertragenen Aufgaben. Art. 93 Abs. 1 GG nennt selbst in Nr. 1–4c nur einige der wichtigsten Zuständigkeiten des BVerfG. Nr. 5 verweist auf die übrigen verfassungsunmittelbar begründeten Zuständigkeiten des BVerfG, die sich an ganz unterschiedlichen Stellen des Grundgesetzes meist im Rahmen der jeweiligen Regelungszusammenhänge finden. Dies betrifft namentlich Art. 18 Satz 2, Art. 21 Abs. 2 Satz 2, Art. 41 Abs. 2, Art. 61 Abs. 1 Satz 1, Art. 98 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 5 Satz 3, Art. 99, Art. 100 Abs. 1–3 sowie Art. 126 GG; zu erwähnen ist auch der den Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG ergänzende Art. 84 Abs. 4 Satz 2 GG. Eine weitere Verfahrensart wurde 2006 als Absatz 2 in Art. 93 GG selbst aufgenommen. Einen raschen Überblick über alle diese Verfahren ermöglicht § 13 BVerfGG, der die Verfahrensarten grundsätzlich (aber → Rn. 110) nach der Reihenfolge ihrer Erwähnung im Grundgesetz aufzählt. Art. 93 Abs. 3 GG sieht allgemein die Möglichkeit vor, dem BVerfG durch Bundesgesetz weitere Aufgaben zuzuweisen, die nicht notwendig Rechtsprechungscharakter haben müssen.

Beispiel: Ursprünglich war dem BVerfG gem. § 97 BVerfGG a.F. die Aufgabe übertragen, auf Ersuchen bestimmter oberster Bundesorgane Rechtsgutachten zu verfassungsrechtlichen Fragen zu erstatten. Aufgrund wenig günstiger Erfahrungen wurde diese Norm nach wenigen Jahren aufgehoben.

5Die auf dieser Grundlage nur (einfach-) gesetzlich begründeten Zuständigkeiten des BVerfG (→ Rn. 630f.) sind heute ohne große praktische Bedeutung.

2. Gesetz über das Bundesverfassungsgericht

6Das in Art. 94 Abs. 2 Satz 1 GG geforderte Ausführungsgesetz ist mit dem Gesetz über das Bundesverfassungsgericht vom 12.3.1951 (BGBl. I, S. 243) ergangen. Es gilt gegenwärtig mit dem Klammerzusatz (Bundesverfassungsgerichtsgesetz – BVerfGG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 11.8.1993 (BGBl. I, S. 1473), die seitdem schon viele Male geändert worden ist (zuletzt durch Art. 8 der Zehnten Zuständigkeitsanpassungsverordnung v. 31.8.2015, BGBl. I, S. 1474).

7Das BVerfGG gliedert sich in fünf Teile. Der I. Teil regelt in §§ 1–16 Verfassung und Zuständigkeit des BVerfG, der II. Teil enthält – neben Regelungen zur Akteneinsicht außerhalb des Verfahrens, §§ 35a–c – allgemeine Vorschriften über das verfassungsgerichtliche Verfahren (§§ 17–35), der III. Teil Bestimmungen zu den einzelnen Verfahrensarten (§§ 36–96d), die für die Prüfung der Sachentscheidungsvoraussetzungen praktisch besonders wichtig sind. Der 2011 eingefügte IV. Teil behandelt in den §§ 97a–e die Verzögerungsbeschwerde. Der nunmehr V. Teil besteht aus einigen für Studium und Prüfung weniger bedeutsamen Schlussvorschriften.

|4|3. Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts

8Die GOBVerfG wird nach § 1 Abs. 3 BVerfGG von dessen Plenum erlassen. Die Rechtsgrundlage für diese Form der Rechtsetzung, die bei Gerichten im Allgemeinen nicht vorkommt, wird aus der besonderen Stellung des BVerfG abgeleitet, das nicht nur Gericht, sondern auch Verfassungsorgan ist (vgl. in diesem Sinne etwas versteckt § 1 Abs. 1 BVerfGG). Als solches hat das BVerfG für sich auch schon vor deren Aufnahme in das Gesetz (mit ÄndG vom 12.12.1985, BGBl. I, S. 2226) eine Geschäftsordnungsautonomie in Anspruch genommen, wie sie auch bei anderen Verfassungsorganen (Bundestag, Bundesrat, Bundesregierung usw.) bekannt ist. Zurzeit gilt die GOBVerfG vom 19.11.2014 (BGBl. 2015 I, S. 286; dazu näher Zuck, EuGRZ 2015, 362). Inhalt der Geschäftsordnung sind zum einen Vorschriften zur Organisation und Verwaltung des BVerfG (Teil A, §§ 1–19), daneben finden sich aber auch verfahrensergänzende Vorschriften (Teil B, §§ 20–73). Die Bestimmungen der Geschäftsordnung dürften für studentische Übungs- oder Prüfungsarbeiten kaum Bedeutung erlangen.

II. Hilfsmittel
1. Rechtsprechung des BVerfG

9Von entscheidender Bedeutung für eine intensivere Beschäftigung mit dem Verfassungsprozessrecht ist in erster Linie die Rechtsprechung des BVerfG. Die wichtigsten Entscheidungen, insbesondere die der beiden Senate, aber auch des Plenums des Gerichts, finden sich in der sog. Amtlichen Sammlung (genauer: in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, zitiert: BVerfGE, bisher erschienen Bände 1–138); für wesentliche Entscheidungen der Kammern gibt es seit einigen Jahren eine weitere Sammlung (BVerfGK = Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts; bisher erschienen Bände 1–20). Die verschiedenen juristischen Fachzeitschriften bringen je nach ihrer Ausrichtung unterschiedlich ausgewählte Entscheidungen, darunter auch solche, die in der Amtlichen Sammlung nicht berücksichtigt sind; die als besonders interessant für Studenten und Referendare eingeschätzten Entscheidungen werden auch in den Ausbildungszeitschriften (wie vor allem JuS, Jura, JA) aufbereitet. Auf aktuellstem Stand und – allerdings nur bis 1996 zurückreichend – recht vollständig ist die Judikatur des BVerfG im Internet (www.bverfg.de) greifbar. Auch ältere Entscheidungen finden sich in Datenbanken wie Juris oder beck-online. Wichtig kann auch das vom BVerfG herausgegebene „Nachschlagewerk der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts“ (zitiert: NBVerfG; Stand: 192. Aktualisierung, Dezember 2015) sein, das als Loseblattwerk erscheint und die Rechtsprechung des Gerichts geordnet nach den darin behandelten Rechtsvorschriften in meist kurzen Zitaten dokumentiert. Für das Verfassungsprozessrecht ist dabei insbesondere der Abschnitt über das BVerfGG von Bedeutung.

|5|2. Schrifttum zum Verfassungsprozessrecht

10Aus dem Schrifttum ist für ein vertiefendes Studium insbesondere auf die nachstehend aufgeführten speziell verfassungsprozessualen Werke zu verweisen. Wichtige Aussagen zur Bundesverfassungsgerichtsbarkeit und ihren Verfahren finden sich aber auch in den allgemeinen Werken zum Grundgesetz, namentlich in den Kommentaren (bei den einschlägigen Artikeln, → Rn. 2ff.) sowie in den großen Lehrbüchern (vor allem Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, §§ 32, 44, sowie Bd. III/2, 1994, §§ 87 V, 91) und Handbüchern des Staatsrechts (namentlich die Beiträge von Wolfgang Löwer, Wilhelm Karl Geck und Gerd Roellecke, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof [Hrsg.] Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III, 3. Aufl. 2005, §§ 67–70, sowie Helmut Simon, in: Ernst Benda/Werner Maihofer/Hans-Jochen Vogel [Hrsg.], Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. 1994, § 34).

 

11Aus der Spezialliteratur zum Verfassungsprozessrecht sind die Kommentare zum BVerfGG besonders für das Nachschlagen zu Einzelfragen wichtig. Unter den aktuell noch bedeutsamen Werken ist zunächst der handliche Kurzkommentar von Hans Lechner/Rüdiger Zuck, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 7. Aufl. 2015, zu erwähnen; in ähnlichem Format jetzt Christofer Lenz/Ronald Hansel, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2015. Daneben gibt es Großkommentare, insbesondere – in gebundener Form – zuletzt die Neuausgabe des Mitarbeiterkommentars von Christian Burkiczak/Franz-Wilhelm Dollinger/Frank Schorkopf (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2015. Als Loseblattwerk ständig aktualisiert ist das von Theodor Maunz begründete und etlichen Autoren fortgeführte Werk: Maunz u.a., Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Stand: 47. Nachlieferung August 2015.

12An systematisch angelegten Lehrbüchern stehen die folgenden Titel zur Verfügung: Christian Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 1991, behandelt das Thema sowohl für die Bundes- wie für die Landesebene. Auf das BVerfG konzentriert sich das Lehr- und Handbuch von Ernst Benda†/Eckart Klein/Oliver Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2012.

13Eher auf den Studiengebrauch zugeschnitten sind die immer noch recht umfassenden Werke von Klaus Schlaich/Stefan Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, Stellung, Verfahren, Entscheidungen, 10. Aufl. 2015, und Christian Hillgruber/Christoph Goos, Verfassungsprozessrecht, 4. Aufl. 2015. An knapperen Darstellungen sind zu erwähnen Gerhard Robbers, Verfassungsprozessuale Probleme in der öffentlich-rechtlichen Arbeit, 2. Aufl. 2005, Roland Fleury, Verfassungsprozessrecht, 10. Aufl. 2015, und Hubertus Gersdorf, Verfassungsprozessrecht und Verfassungsmäßigkeitsprüfung, 4. Aufl. 2014.

14Große Bedeutung bei vertiefter Befassung haben die Beiträge in den beiden Jubiläumsfestschriften des BVerfG, die jeweils einen Band verfassungsprozessualen Problemen gewidmet haben, nämlich: Christian Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Festgabe aus Anlass des 25jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, Erster Bd., Verfassungsgerichtsbarkeit, 1976, und Peter Badura/Horst Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Erster Bd., Verfassungsgerichtsbarkeit – Verfassungsprozess, 2001.

|6|III. Geschichte der Verfassungsgerichtsbarkeit

15Aus der Geschichte der Verfassungsgerichtsbarkeit sollen hier nur wenige Eckpunkte angesprochen werden. Im weitesten Sinne sind als Vorläufer des BVerfG das Reichskammergericht und der Reichshofrat zu nennen, die allerdings nicht speziell mit der Entscheidung von Verfassungsfragen befasst waren. Daneben wurden in der Zeit des alten Deutschen Reiches bis 1806 Verfassungsstreitigkeiten vielfach durch sogenannte Austrägal-Instanzen entschieden, die aus konkretem Anlass eingesetzt wurden.

16Im 1815 begründeten Deutschen Bund, der noch keinen Bundesstaat, sondern einen völkerrechtlichen Staatenbund darstellte, konnten Streitigkeiten entweder durch die Bundesversammlung oder durch ein besonderes Schiedsgericht entschieden werden (vgl. Art. 11 Abs. 4 Deutsche Bundesakte von 1815 und Art. 21–24 Wiener Schlussakte von 1820). In der Reichsverfassung von 1849 (der sog. Paulskirchenverfassung) waren dem dort vorgesehenen Reichsgericht im Rahmen seiner umfassenden Zuständigkeiten nach Art. 126 auch verfassungsrechtliche Fragen zur Entscheidung zugewiesen; wegen des frühzeitigen Scheiterns dieser Verfassung ist dies indes nicht praktisch bedeutsam geworden. In der bundesstaatlichen Reichsverfassung von 1871 war nach Art. 76, 77 der damalige Bundesrat namentlich für Entscheidungen über verfassungsrechtliche Streitigkeiten zwischen den Ländern sowie innerhalb der Länder berufen.

17Schon früher als auf der gesamtstaatlichen Ebene hatte sich die Verfassungsgerichtsbarkeit in Einzelstaaten des Deutschen Bundes von 1815 entwickelt. Solche Staatsgerichtshöfe konnten insbesondere über Streitigkeiten zwischen den Ständeversammlungen und den Monarchen entscheiden; daneben war die Ministeranklage verbreitet, über die die Verantwortlichkeit der Regierung sichergestellt werden sollte (→ Rn. 439).

18Eine echte Verfassungsgerichtsbarkeit wurde auf Reichsebene erstmalig in der Weimarer Reichsverfassung von 1919 verwirklicht. Vorgesehen war insbesondere ein Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich, der vor allem über Streitigkeiten bundesstaatlichen Ursprungs zu entscheiden hatte (vgl. etwa Art. 15 Abs. 3 und Art. 19 WRV). Außerdem war eine Anklage des Reichspräsidenten beim Staatsgerichtshof vorgesehen (s. Art. 59 WRV). Unabhängig von dieser spezifischen Verfassungsgerichtsbarkeit war aber auch das Reichsgericht mit Aufgaben betraut, die heute von den Verfassungsgerichten erledigt werden. Dies gilt namentlich für die in Art. 13 Abs. 2 WRV vorgesehene Möglichkeit, in einem Normenkontrollverfahren die Vereinbarkeit von Landesrecht mit dem Reichsrecht zu überprüfen. Eine Kontrolle der Reichsgesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit war hingegen nicht geregelt. Die Frage, ob die Gerichte allgemein berechtigt waren, im Rahmen eines „richterlichen Prüfungsrechts“ über die Verfassungsmäßigkeit der von ihnen anzuwendenden Gesetze zu befinden, blieb während der kurzen Lebensdauer der Weimarer Verfassung im Streit. Der österreichische Verfassungsgerichtshof kannte demgegenüber schon seit der Bundes-Verfassung von 1920 ein Verfahren der abstrakten Normenkontrolle bezogen auf die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen.

19|7|Daran konnte nach dem Zweiten Weltkrieg die Verfassung des Freistaates Bayern von 1946 anknüpfen, die dem Bayerischen VerfGH u.a. Zuständigkeiten für den Organstreit, die abstrakte Normenkontrolle und die Verfassungsbeschwerde zuwies. Dieses Vorbild ist über bayerische Vorschläge im Rahmen des Herrenchiemseer-Konvents für die Verfassungsgerichtsbarkeit im Grundgesetz prägend geworden.

20Die dort vorgesehene Ausgestaltung der Verfassungsgerichtsbarkeit entsprach von Anfang an weitgehend ihrer heutigen Form, kannte allerdings noch keine Verfassungsbeschwerde. Diese wurde aber bereits mit dem BVerfGG von 1951 geschaffen und 1969 dann ins GG übernommen. Das BVerfGG hat seinerseits seit 1951 vielfältige Änderungen erfahren. Hervorzuheben sind dabei:

 die Abschaffung des Gutachten-Verfahrens,

 die Änderungen im Zusammenhang mit Zahl und Amtsdauer der Richter sowie zuletzt im Hinblick auf die Richterwahl durch den Bundestag,

 die wiederholt umgestaltete Vorprüfung von Verfassungsbeschwerden bis hin zur aktuell geltenden Möglichkeit der Entscheidung durch Kammern des BVerfG, die inzwischen auch bei Richtervorlagen vorgesehen ist,

 die Ergänzungen im Hinblick auf die Zuständigkeiten nach dem Untersuchungsausschussgesetz,

 die Regelung des Kompetenzfreigabe-Ersetzungsverfahrens

 sowie zuletzt die Einführung der wahlrechtlichen Nichtanerkennungsbeschwerde und der Verzögerungsbeschwerde.

IV. Bedeutung der Verfassungsgerichtsbarkeit

21Die Existenz einer funktionierenden Verfassungsgerichtsbarkeit ist für die Verfassung eines Gemeinwesens in der Praxis von nicht hoch genug einzuschätzender Bedeutung. Denn eine solche Verfassungsgerichtsbarkeit kann die Beachtung der Verfassung in verschiedenen, zentral bedeutsamen Zusammenhängen sicherstellen.

22Dies gilt zum einen für den Bereich klassischer Verfassungsstreitigkeiten, die sich im Bundesstaat zwischen Bund und Ländern bzw. zwischen den Ländern sowie allgemein zwischen den Verfassungsorganen ergeben können. Eine funktionierende Verfassungsgerichtsbarkeit schafft hier die Möglichkeit, politische Machtkonflikte zwischen den maßgeblichen Faktoren des Verfassungslebens einer rechtlichen Lösung zuzuführen, während andernfalls unter Umständen mit der gewaltsamen Durchsetzung einer Seite gerechnet werden müsste.

23Daneben hat in einem weitestgehend durchnormierten Rechtsstaat die Aufgabe der Normenkontrolle an Bedeutung noch gewonnen, durch die der Vorrang der Verfassung vor sonstigen Rechtsnormen sowie der Vorrang des Bundesrechts vor dem Landesrecht durchgesetzt wird.

24Eine weitere traditionelle Aufgabe der Verfassungsgerichtsbarkeit liegt im Bereich des rechtlich geordneten Verfassungsschutzes, wo die Verfassungsgerichte in |8|bestimmten, zum Schutze der Verfassung eingerichteten Verbots- und Anklageverfahren zu entscheiden haben.

25Die gegenwärtig in der Praxis dominierende Aufgabe der Verfassungsgerichtsbarkeit besteht schließlich darin, das Individuum mit seinen Grundrechten allgemein gegenüber Zwängen der Staatsgewalt verfassungsrechtlich zu schützen, was insbesondere durch das Instrument der Verfassungsbeschwerde geschieht. Durch die Kontrolle der fachgerichtlichen Rechtsprechungstätigkeit anhand verfassungsrechtlicher Maßstäbe erlangt das BVerfG dabei großen Einfluss auf die Rechtsanwendung in fast allen Bereichen der Rechtsordnung. Um nicht zum Superrevisionsgericht für alle Zweige der Gerichtsbarkeit zu werden, betont das BVerfG allerdings die Beschränkung seiner Aufgaben auf die Wahrung gerade des Verfassungsrechts und die Subsidiarität gegenüber der sonstigen Rechtsprechung (→ Rn. 227 allgemein; Rn. 366, 372, 383, 393 zu Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 GG; Rn. 568f., 584ff. zur Grundrechtsverfassungsbeschwerde; Rn. 623, 627 zur kommunalen Verfassungsbeschwerde).

26Die Fülle der vorstehend nur angedeuteten Aufgaben des BVerfG verschafft ihm im Rahmen der bestehenden Verfassungsordnung eine so herausragend wichtige Bedeutung, dass das BVerfG trotz seiner Stellung als nur zur Rechtsanwendung berufenes Gericht einer der wichtigsten Akteure des verfassungsrechtlich geordneten politischen Lebens und damit ein Verfassungsorgan ist.

Fragen zu A. Einführung:

1 Nennen Sie die verfassungsrechtlichen Grundlagen der Organisation des BVerfG!

2 In welchen Normen ist die Zuständigkeit des BVerfG geregelt? Gibt es eine Generalklausel für seine Zuständigkeit?

3 Durch welche Entscheidungsträger wurden verfassungsrechtliche Fragen in Deutschland in früheren verfassungsgeschichtlichen Epochen entschieden?

4 Welches sind die wichtigsten Aufgaben der Verfassungsgerichtsbarkeit?

Die Lösungen finden Sie auf S. 193.

Literaturhinweise: Meinel, Florian/Kram, Benjamin, Das Bundesverfassungsgericht als Gegenstand historischer Forschung, JZ 2014, 913; Collings, Justin, Democracy’s Guardians. A History of the German Federal Constitutional Court 1951–2001, 2015; von Ooyen, Robert/Möllers, Martin (Hrsg.), Handbuch Bundesverfassungsgericht im politischen System, 2. Aufl. 2015.