Ein Leben für die Freiheit

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Red Power Rising – Alcatraz

Alcatraz, Alcatraz, Alcatraz, Alcatraz

Few have seen your beauty like the Indian has.

Few have seen your beauty like the Indian has.

When many have spent their time in day

The Indian brings his easyful ways

Because he cares, because he cares.

Alcatraz, Alcatraz, Alcatraz, Alcatraz

Few have seen your beauty like the Indian has.

Few have seen your beauty like the Indian has.

To many you‘ve been a nightmare

To the Indian our dream come true

Because he cares, because he cares.

Alcatraz, Alcatraz, Alcatraz, Alcatraz

Few have seen your beauty like the Indian has.

Few have seen your beauty like the Indian has.45

(Redbone, 1970)

Wer heute nach San Francisco fährt und zwischen der San Francisco Oakland Bridge und der Golden Gate Bridge am Fishermen‘s Wharf stoppt, der kann von dort aus die ehemalige Gefängnisinsel Alcatraz erblicken. 1964, ein Jahr nachdem der damalige US-Justizminister Robert F. Kennedy am 21. März 1963 die Schließung des Gefängnisses verkündete, waren etwa 40 Indianer, darunter der 26-jährige Oglala Lakota und spätere AIM-Führer Russell Means sowie dessen Vater Walter Means, nach Alcatraz gefahren und hatten dort ein Angebot verlesen, die Insel für 47 Cent pro Acre zu kaufen, also zu dem Preis, den Kalifornien zu dieser Zeit Indianern als Ausgleich für unrechtmäßige Landnahme im vorhergehenden Jahrhundert bot. Dabei beriefen die Indianer sich auf den Vertrag von Fort Laramie aus dem Jahre 1868, der jedem Indianer aus den Stämmen, die diesen Vertrag unterzeichneten, die Nutzung von ehemaligem Bundesgebiet zusagte, falls dieses nicht mehr gebraucht würde. Allerdings verlief diese Aktion erst einmal erfolglos.

Viele der Aktivisten kamen aus der jungen Generation der ‚urban Indians‘, die im Zuge des staatlichen Umsiedlungsprogrammes (Relocation) in den kalifornischen Großstädten wie Los Angeles und San Francisco lebten und sich im Umfeld des San Francisco Indian Center zum „United Bay Council of American Indian Affairs“ zusammengeschlossen hatten. Hier fanden sie ein Forum, um Probleme wie Landfragen, mangelnde staatliche Fürsorge und Souveränitätsrechte der indigenen Völker zu diskutieren.

Nachdem ein Brand am 10. Oktober 1969 das San Francisco Indian Center vernichtet hatte, trafen sich darauf am 9. November knapp einhundert Indianer aus der Bay Area am Pier 39 des Fishermen‘s Wharf, um von dort per Boot auf die Insel überzusetzen. Allerdings fehlten erst einmal die hierfür erforderlichen Boote. Dem Chippewa Adam „Fortunate Eagle“ Nordwall, der auch an der Gründung des United Bay Area Council of American Indian Affairs beteiligt war, gelang es dann doch noch, ein kanadisches Segelboot aufzutreiben, dessen Besitzer bereit war, 75 Natives zu einer symbolischen Protestumrundung der Insel mitzunehmen. Auf halber Strecke sprang der Aktivist Richard Oakes, der später in der Anfangszeit als Hauptsprecher der Besetzter auftrat und den Leonard Peltier 1970 bei der Besetzung von Fort Lawton kennenlernen sollte, über Bord, um zur Insel zu schwimmen. Bevor der Besitzer des Segelskippers abdrehen konnte, um andere Mitfahrende daran zu hindern, dem Beispiel Oakes‘ zu folgen, sprangen dennoch einige von ihnen hinterher. Aufgrund der Strömung und Gezeiten erreichten sie die Insel allerdings nicht und mussten von der Küstenwache aus dem eiskalten Wasser geholt werden. Einer anderen kleinen Gruppe gelang es nach Rückkehr an Land, einige Fischer dazu zu überreden, sie für eine Nacht auf die Insel zu bringen. Doch die eigentliche Besetzung erfolgte erst am 20. November 1969, allerdings ohne „Fortunate Eagle“, dem viele junge Aktivisten aufgrund seines Alters und seines bürgerlichen Lebensstils nicht trauten. „Fortunate Eagle“, der selbst nie zu den Besetzern der Insel zählte, sollte aber in der folgenden Zeit von Land aus zu den wichtigsten Unterstützern werden, wenn es darum ging, die Besetzer mit Lebensmitteln, Geld und auch politisch zu unterstützen.46

Knapp 80 Indianer aus etwa 20 Stämmen setzten mit drei Booten am 20. November auf die Insel über. Bereits zehn Tage später lebten knapp 600 indianische Besetzer aus über 50 Stämmen auf Alcatraz. Die friedliche Besetzung sollte über anderthalb Jahre bis zum 11. Juni 1971 dauern und sorgte für weltweites, mehrheitlich positives Medienecho, nicht zuletzt aufgrund der ironisch-humorvollen Proklamation der Besetzergruppe, die sich unter dem Namen „Indianer aller Stämme“ (Indians of All Tribes), konstituierte:

An den großen Weißen Vater und alle seine Kinder!

Wir, die eingeborenen Amerikaner, fordern im Namen aller amerikanischen Indianer das Land, das als Insel Alcatraz bekannt ist, zurück. Es steht uns rechtens zu, da wir seine Entdecker sind. Wir wollen gerecht und ehrenhaft mit den kaukasischen (Anm. d. Verf.: im englischen Sprachraum synonym für „europäische“ und „hellhäutige Menschen“) Bewohnern dieses Landes umgehen, und wir bieten hiermit den folgenden Vertrag an:

Wir wollen besagte Insel Alcatraz für 24 Dollar in Glasperlen und rotem Tuch erwerben. Der weiße Mann hat uns mit dem Kauf einer ähnlichen Insel vor 300 Jahren ein Beispiel gegeben. Wir wissen, dass 24 Dollar in Handelsgütern für diese 16 Morgen Land mehr sind, als beim Verkauf der Insel Manhattan gezahlt wurde, aber wir wissen, dass der Boden seither im Wert gestiegen ist. Unser Angebot von 1,24 Dollar pro Morgen liegt über den 47 Cent pro Morgen, die die weißen Männer jetzt den Indianern Kaliforniens für ihr Land zahlen.

Wir werden allen Bewohnern dieser Insel ein eigenes Stück Land geben, das sie auf ewig – solange die Sonne aufgeht und die Flüsse sich ins Meer ergießen – behalten sollen und für das die Behörde für die Angelegenheiten der amerikanischen Indianer und das Büro für kaukasische Angelegenheiten als Treuhänder eingesetzt werden sollen. Wir werden die Bewohner außerdem in der richtigen Art zu leben unterweisen. Wir werden ihnen unsere Religion, unsere Erziehung, unsere Lebensform anbieten, um ihnen zu helfen, auf den Stand unserer Zivilisation zu kommen und auch all ihre weißen Brüder aus ihrem barbarischen und unglücklichen Zustand zu befreien. Wir unterbreiten diesen Vertrag in gutem Glauben, und wir wollen gerecht und ehrenhaft mit allen weißen Menschen umgehen.

Wir sind der Ansicht, dass die sogenannte Alcatraz-Insel nach den Maßstäben des weißen Mannes überaus geeignet für eine Indianerreservation ist. Damit meinen wir, dass dieser Ort mit den meisten Indianerreservationen Folgendes gemeinsam hat: Er ist von allen modernen Einrichtungen abgeschnitten und besitzt keine angemessenen Transportmittel.

Es gibt kein frisches und fließendes Wasser.

Die sanitären Anlagen sind unzureichend.

Öl und andere Bodenschätze sind nicht vorhanden47

Es gibt keine Industrie. Die Arbeitslosigkeit ist also sehr groß.

Es gibt keinen Gesundheitsdienst.

Der Boden ist felsig und unfruchtbar. Es gibt kein Wild.

Es gibt keine Schulen.

Die Bevölkerungszahl war im Verhältnis zu den Erwerbsmöglichkeiten des Landes immer zu groß.

Die Bevölkerung ist immer in Gefangenschaft und in Abhängigkeit gehalten worden.48

Nach dieser eher ironischen Einleitung folgte eine Aufzählung, welche indianischen Einrichtungen auf der Insel gegründet werden sollten, darunter ein indianisches Zentrum für Ökologie, ein Zentrum für amerikanische Eingeborenenstudien mit angeschlossenen Wanderuniversitäten, ein geistig-kulturelles Zentrum und eine Ausbildungsstätte inklusive Zentrum für indianische Kunst und indianisches Handwerk. Zusätzlich sollte in einem Gefängniskomplex ein umfassendes Museum mit Zeugnissen aus der indianischen Geschichte entstehen.

Die materielle und ideelle Unterstützung der Besetzer riss nicht ab. Rockbands wie Creedence Clearwater Revival, The Grateful Dead und auch die Dubliners, Schauspieler wie Jane Fonda und Marlon Brando und tausende amerikanische Bürger unterstützten die Aktion. Die Band Creedence Clearwater Revival gab auf einem Boot vor der Insel ein Benefizkonzert und spendete dann den Besetzern das Boot sowie Geld für Lebensmittel. Die CLEARWATER, so der Name des Bootes, diente dazu, dass die Besetzer mit Lebensmitteln und sonstigen Waren beliefert werden konnten. Ein Bombenanschlag machte das Boot allerdings später unbrauchbar. Ortszeugen bekundeten gegenüber dem Autor, dass hinter dieser Aktion zweifelsohne Polizeikräfte standen.

Die Besetzung von Alcatraz hatte einen Doppeleffekt inner- und außerhalb der indianischen Communities. Außerhalb der indianischen Bevölkerung machte die Aktion auf Lage und Geschichte der amerikanischen Ureinwohner aufmerksam und führte auch außerhalb der USA zu einer breiten Solidarisierung mit den Anliegen der indianischen Besetzer.

„Für die Native Americans, vor allem in den USA und Kanada, war Alcatraz ein deutliches Symbol, dass zum ersten Male im 20. Jahrhundert die indianische Bevölkerung samt deren Interessen ernst genommen wurde“49

„Die Bewegung gab mir meine Würde zurück und gab den indianischen Völkern ihre Würde zurück. Es startete mit Alcatraz, wir erhielten unseren Stolz, unsere Würde und Menschlichkeit zurück.“50

Und Leonard Peltier formulierte die Bedeutung von Alcatraz wie folgt: „Ich spürte die Begeisterung darüber –, die guten Gefühle, die Freude, unsere Leute mit erhobenem Haupt zu sehen und zu beobachten. Davor hattest du das nicht. Du hattest Vollblut-Indianer, die behaupteten Halbblut, Halbblut-Indianer, die behaupteten Viertelblut und Viertelblut-Indianer, die behaupteten Weiße zu sein.“ 51

 

In einer ersten Reaktion verkündete die amerikanische Regierung die Absicht, die Insel polizeilich zu räumen. Doch die Besetzer ließen durch ihren Sprecher, den 27-jährigen Mohawk Richard Oakes, verkünden, dass sie die Insel verteidigen würden. Vielmehr bestand Oakes auf Verhandlungen mit dem damaligen amerikanischen Innenminister, der dann allerdings lediglich seine Vertreter als Unterhändler schickte. Es begann ein zähes Tauziehen zwischen beiden Seiten über die anhaltende Besetzung, die sich nun in den Winter hineinzog. Doch in dieser Zeit wurde die Besetzung mehr und mehr ausgebaut und Alcatraz zum Zentrum der Red Power-Bewegung. Der Tuscarora-Häuptling „Mad Bear“ Anderson, der bereits 1959 mit seiner Reise zu Fidel Castro nach Kuba für Furore gesorgt hatte, begann mit seinem Unterricht für die auf Alcatraz lebenden Kinder und Jugendlichen über indianische Geschichte und Kultur. Mitglieder des 1968 gegründeten American Indian Movement kamen aus den verschiedensten Teilen der USA angereist, ebenso Vertreter der 1969 gegründeten indianischen Zeitschrift „Akwesasne Notes“, um an der ersten „Nationalen Konferenz der Indianer aller Stämme“ teilzunehmen. Im Zentrum des Treffens stand auch die Frage, wie auf der Insel eine möglichst dauerhafte Besetzung und funktionierende Organisationssruktur entstehen und aufrechterhalten werden könnte. Im März 1970 schlug die US-Regierung vor, dass ein Teil der Besetzer dort weiter bleiben könnte, die Insel jedoch in eine Art indianischen Nationalpark umgewandelt werden sollte (… und somit automatisch unter US-Aufsicht käme).

Die Antwort der Besetzer, zu denen längst auch der spätere AIM-Sprecher, Musiker und Schauspieler John Trudell (u. a. zu sehen in dem Film „Halbblut“; verstorben 8.12.2015) zählte, war ein deutliches Nein. „Wir wollen keinen Besucherpark mit niedlichen Indianerstatuen … wir wollen ein Alcatraz für Indianer, nicht für lüsterne Touristen.“52

Daraufhin sperrte die Regierung die Strom- und Trinkwasserversorgung für die zeitweise bis zu 1.000 anwesenden Indianer und deren Unterstützer. Derweil trafen am Pier 40 von Fishermen´s Wharf immer mehr Lebensmittel-, Gebrauchsgegenstände- und Geldspenden für die Besetzer ein.

„Im Frühsommer 1971 beschloss die US-amerikanische Regierung, die Insel gewaltsam zu räumen. Der Zeitpunkt schien günstig, weil laut Berichten zur Zeit nur elf bis 15 Indianer auf der Insel ausharrten, aber vermutlich mit dem Einsetzen der Ferien wieder Zulauf von Studenten bekommen würden. (Viele der Besetzer waren in den USA unterwegs, um die indianische Bevölkerung über Alcatraz zu informieren und bei ähnlichen Aktionen zu beraten; der Verf.) Regierungsbeamte machten außerdem geltend, dass der Zeitraum von jetzt bis zur nächsten Wahl lang sei, so dass die Öffentlichkeit die Angelegenheit wieder vergessen würde, selbst wenn es dabei zu unschönen Szenen käme. Am 11. Juni 1971 riegelte die Küstenwache die Insel ab, und etwa 30 FBI-Agenten brachten die verbliebenen indianischen Aktivisten, ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen, aufs Festland.“53

American Indian Movement

It was like in the days of the ghost dance. There was a whispering in the air, a faint drumbeat, a hoof beat. It became a roar carried by the four winds: “A nation is coming, the eagle brought the message.” What was coming called itself AIM, the American Indian Movement.54

(Leonard Crow Dog)

Bereits ein Jahr vor der Besetzung von Alcatraz fand in Minneapolis, der Hauptstadt Minnesotas, eine Versammlung von 200 Indianern mit dem Ziel statt, der indianischen Bürgerrechtsbewegung mit einer neuen Gruppe mehr Gewicht zu geben. Es war das Jahr 1968, das Jahr internationaler Studentenrevolten (Paris, Mexiko-City, Berlin, Frankfurt am Main, Berkeley), weltweiter Demonstrationen gegen den Krieg in Vietnam, des durch die Truppen des Warschauer Paktes zerschlagenen Versuchs, einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz in der CSSR zu entwickeln und zu etablieren, der Schüsse auf den deutschen Studentenführer Rudi Dutschke, der Morde an dem schwarzen Bürgerrechtler Martin Luther King und dem US-Senator Robert F. Kennedy. 1968 steht als Synonym für weltweite politische und kulturelle Aufbruchsstimmung, Jugendrebellion, Manifestation außerparlamentarischer Opposition und zunehmende Solidarität mit den Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt sowie ethnischer Minderheiten in den Industrienationen der westlichen Welt (z. B. Black & Red Power).

Im Juli 1968 gründeten die beiden Chippewa-Indianer Dennis Banks und Clyde Bellecourt, gemeinsam mit George Mitchell und Eddie Benton Banai das American Indian Movement (AIM), wobei das Akronym gleichzeitig ein Apronym für das Wort Ziel (aim) ist. Dabei sollte die Gruppe zuerst Concerned Indians of America (so viel wie: Besorgte Indianer Amerikas) heißen, nachdem man jedoch bemerkte, dass die Abkürzung CIA lauten würde (die ins Deutsche übersetzte Abkürzung BIA wäre da wohl auch kaum besser gewesen), einigten sich die Anwesenden nach einer Intervention von vier Frauen auf „American Indian Movement“.

In der Foto-Ausstellung „I´m Not Your Indian Anymore“, die Mai/Juni 2013 in der All My Relations-Gallery, Minneapolis, zu sehen war, fand ich hierzu folgendes Exponat. „Clyde H. Bellecourt, gewählter Vorsitzender des Büros der vor kurzem gegründeten ‚Concerned Indians America Coalition (CIA)‘ … wurde mit vier wunderbaren Müttern der Red Lake Nations, die in Minneapolis lebten, konfrontiert. Diese Frauen waren Alberta Downwind, Frannie Robertson, Caroline Dickenson und Joanna Strong. Alberta äußerte ihr Anliegen außerhalb des Büros in der East Franklin Ave. Das nun folgende Gespräch verlief in etwa so:

Alberta: Clyde, wir möchten, dass du/ihr unsere Organisation AIM nennt.

Clyde: Wieso AIM?

Alberta: Okay, ihr zielt darauf ab, etwas gegen die ärmlichen Wohnbedingungen der indianischen Leute zu unternehmen; ihr zielt darauf ab, etwas gegen den täglichen Rassismus, den unsere Leute erfahren, zu unternehmen; ihr zielt darauf ab, etwas den Lügen entgegenzusetzen, mit denen unsere Kinder in dem öffentlichen und religiös-öffentlichen Schulsystem unterrichtet werden; ihr zielt darauf ab, etwas gegen die Polizeibrutalität, die schlechten Gesundheitsbedingungen …

Clyde: Aber was soll AIM bedeuten?

Alberta: American Indian Movement.

Clyde: Aber wir wollen nicht mehr Indianer genannt werden, nur weil ein Pirat wie Kolumbus einige tausend Meilen von seinem Kurs abkam.

Alberta: Hör zu, Clyde, Indianer ist das Wort, das sie nutzen, um uns zu unterdrücken, und Indianer ist das Wort, das wir nutzen,um unsere Freiheit zu erlangen.

Unser Vorstand stimmte in dieser Nacht zu, AIM zu werden.

Die meisten, die heute in Deutschland oder Europa an AIM denken, erinnern sich an spektakuläre Widerstandsaktionen wie an den „March of Broken Treaties“ 1972 in Washington, die Besetzung und Belagerung von Wounded Knee 1973, den Angriff auf das Gerichtsgebäude in Custer oder Aktionen auf dem Mount Rushmore Monument in den Black Hills. In unseren Vorstellungen dominieren Bilder von bewaffneten Indianern und militanten Aktionen. Doch tatsächlich war AIM erheblich mehr.

Die Wurzeln von AIM lagen in den Diskussionen, die Clyde Bellecourt und Dennis Banks während ihrer Haft wegen Diebstahls im Gefängnis von Stillwater, Minnesota, über das Abgleiten der indianischen Bevölkerung in den Teufelskreis von Kriminalität, Rassismus, Justiz und Gewalt führten. Viele Natives lebten damals von ihrer Herkunft entwurzelt in den Metropolen oder als nomadische Wanderarbeiter einer mehr und mehr industriellen Landwirtschaft. Beobachtet wurde, dass in den Städten überproportional viele Native Americans durch die Polizei kontrolliert, schikaniert und inhaftiert wurden. In den Bundes- und Staatsgefängnissen der USA waren Native Americans enorm überrepräsentiert.

So waren in Montana zwar lediglich 6 % der Bevölkerung indianischer Herkunft, doch machten indianische Häftlinge 17,3 % der Insassen aus. Und in Minnesotas Hauptstadt Minneapolis waren gar 70 % der Insassen Native Americans, obwohl diese lediglich 10 % der Stadtbevölkerung ausmachten.55

Vor allem in den Frühlingsmonaten verstärkten sich die polizeilichen Kontrollaktionen gegenüber der indianischen Bevölkerung in den großen Städten, denn für die Arbeit in den verschiedensten Kommunalprojekten oder Arbeitshäusern wurden unbezahlte Arbeitskräfte benötigt. Die Polizei konzentrierte sich vor allem auf die Bars, wo sich vorwiegend indianische Gäste trafen, und vollzogen dort über das Wochenende Massenfestnahmen wegen Trunkenheit und anderer Ordnungswidrigkeiten. Nach dem Wochenende, wenn Stadien, Parks oder Tagungszentren gereinigt waren, wurden die Inhaftierten wieder freigelassen, damit sie an ihre Arbeitsstellen zurückkehren konnten.

Analog der zwei Jahre zuvor in Oakland, Kalifornien, durch Huey P. Newton und Bobby Seale gegründeten Black Panther Party for Self-Defense sollte eine indianische Bewegung entstehen, die Schutz vor rassistischer Justiz und polizeilicher Schikane bieten sollte. Aufgrund eigener Erfahrungen mit Polizei und Justiz, alle vier Führungspersönlichkeiten der AIM-Gründungsversammlung waren Ex-Häftlinge und immer wieder auch Opfer willkürlicher Polizeigewalt gewesen, gründeten Bellecourt, Banks, Mitchell und Banai die Minneapolis Patrol, aus der dann später AIM hervorging.

Diese Straßenpatrouillen beobachteten, ausgerüstet mit Motorrädern, Kameras und drei rotlackierten Autos, die Kontrollaktionen der Polizei gegen indianische Jugendliche, folgten nach Festnahmen bis in die Polizeireviere, um dort etwaigen polizeilichen Misshandlungen entgegenzuwirken und anwaltliche Vertretungen zu organisieren. Begleitet wurden diese Patrouillen teilweise durch den Fotografen Roger Woo, der immer wieder die Opfer polizeilicher Brutalität fotografierte, um somit Beweise gegen die Polizei vorlegen zu können. Nach vier Monaten war die Anzahl der Straßenkontrollen und Festnahmen von Indianern fast auf null zurückgegangen. Nun waren aber umso häufiger die indianischen Straßenpatrouillen Angriffsziel brutalster polizeilicher Übergriffe. Bei einer solchen Polizeiattacke wurde Clyde Bellecourt so erheblich verletzt, dass er anschließend noch lange an den Folgen eines Kieferbruches litt.

AIM bot juristische Beratung jedoch nicht nur bei Fällen institutioneller Willkür und Rassismus von Seiten der Polizei an, sondern auch in allen anderen lebensrelevanten Belangen. Als Reaktion auf das Leben vieler Stadtindianer in den Armutsregionen der Großstädte wurden zusätzlich Sozial-, Gesundheits- und Bildungsprojekte initiiert, Ausbildungs- und Arbeitsplätze in Kleinbetrieben geschaffen, indianische Volksküchen organisiert und Programme für alkohol- und drogengefährdete Natives entwickelt und angeboten. „Einer Menge indianischer Jugendlicher, die suchtgefährdet waren oder Gefahr liefen, auf die schiefe Bahne zu geraten, bot AIM die Chance zu Neubesinnung und Identitätsfindung.“56

Auch auf die Bedeutung der Indian Survival Schools muss an dieser Stelle hingewiesen werden. Diese Schulen, die mit der Absicht gegründet wurden, jungen Natives alternative Lernerfahrungen zur „weißen Durchschnittsschule“ oder schlecht ausgestatteten Reservationsschule zu ermöglichen, unter anderem um sich so wieder der eigenen Kultur anzunähern, tragen in sich viele Elemente der heutigen bildungspolitischen Debatte um Formen „anderen Lernens“, wie sie seitens neurowissenschaftlicher und pädagogischer Sicht aktuell auch in Deutschland geführt wird.57 Allein in Minneapolis war das AIM Motor für die Gründung des Minneapolis American Indian Centers, des Legal Right Centers, des Minneapolis Indian Health Boards und für zwei Schulprojekte, die junge Menschen vom Vorschulalter bis zur 12. Klasse aufnahmen.

Doch das American Indian Movement leistete auch Solidaritätsund Sozialarbeit in Krisen- und Katastrophensituationen. Als im Juni 1972 in Rapid City, Süd-Dakota, der Rapid Creek sowie dessen Stausee nach heftigen Regenfällen und dem Anschwellen der Zuflüsse über die Ufer trat, Teile von Rapid City überschwemmt wurden und 238 Menschen in Folge der „Black Hills Flood“ starben, war AIM eine der ersten Gruppen, die sofort mit aktiver Hilfe zur Stelle waren.

„Wir arbeiteten, um die Leichen zu bergen, Unterkunft für die plötzlich obdachlos gewordenen Menschen zu finden und verteilten Lebensmittel und Decken, gewährten allen, die es benötigte, Hilfe – gleich ob Indianer oder Weiße.“58

 

Mit zunehmender Popularität wurde das AIM immer häufiger auch im Kontext anderer politischer Auseinandersetzungen um Unterstützung angefragt, so zum Beispiel in Fällen betrügerischer Unregelmäßigkeiten bei Stammesratswahlen oder gegen die Unterdrückung von Minderheiten in Europa (z. B. der Basken in Spanien).

AIM war also von Anfang an nicht nur eine Selbstverteidigungsbewegung, sondern eine sich sozial engagierende Organisation mit vielen konstruktiven Elementen, wobei der Begriff „Organisation“ hier näher zu definieren wäre. Zwar gab und gibt es im AIM Funktions- (z. B. Sicherheitsverantwortliche) und Führungsverantwortliche (Board of National Directors, National General Council, später Grand Governing Council-AIMGGC, Bureau of Speakers). Doch generell gilt: AIM ist eine Bewegung, und zu dieser gehört, wer mitmacht, ohne bürokratisches Aufnahmeverfahren und Mitgliedsausweis. AIM als Sammlungsbewegung war sehr schnell in lokale und regionale Chapters (1973 gab es bereits 79 Chapter) organisiert, die wiederum ihre eigenen Funktions- und Führungspersönlichkeiten hatten. Ab den 70er Jahren entwickelten sich dann auch außerhalb der USA AIM-Chapter (Südamerika, Kanada) und AIM-Supportgroups (Europa).

„Papa, wo waren denn eigentlich die Indianer, bevor Kolumbus Amerika entdeckte?“ Diese Frage, die Michele Means ihrem Vater, dem späteren AIM-Aktivisten, Russell Means 1969 einen Tag vor den Kolumbustag-Feierlichkeiten stellte, weist auf eine weitere wichtige Bedeutung von AIM hin.59

Mit dem AIM entstand und entwickelte sich nämlich verstärkt auch eine breite Suche nach den eigenen kulturellen Wurzeln, nach indianischer Geschichte und Identität. Und so kamen viele der politisierten Stadtindianer erstmals wieder in Kontakt mit traditionellen Natives in den Reservationen. Erst nach über einem Jahr wurde die neue Bewegung in den Reservaten überhaupt wahrgenommen.

AIM war sehr schnell mehr als nur eine weitere ethnische Widerstandsbewegung Ende der 60er Jahre. „AIM war zuallererst eine spirituelle Bewegung, eine religiöse Wiedergeburt und dann erst die Wiedergeburt von Würde und Stolz der indianischen Völker“60, wobei Begriffe wie „Spiritualität“ und „Wiedergeburt des Religiösen“ nicht mit Esoterik und New Age gleichgesetzt werden dürfen. Die Umschreibung „zuallererst“ verweist dabei nicht auf die chronologische Entwicklung, sondern eher auf eine sich entwickelnde Prioritätensetzung im Laufe der Zeit.

„Am Anfang ging es noch nicht um Spiritualität, darüber wussten wir auch zu wenig. Anfangs waren wir eine Selbstverteidigungsgruppe. Und wir schauten auch bei den Black Panthers, was die an Sozialprogrammen hatten, und begannen eigene Sozialprogramme aufzubauen. Doch mit der Zeit entdeckten wir mehr und mehr unsere Kultur, unsere Traditionen und damit auch die Bedeutung von Spiritualität“, so Dennis Banks in einem Gespräch mit dem Autor 2012 in Rapid City. Zwar gehörten auch Auseinandersetzungen zur Verbesserung der sozioökonomischen Situation der indianischen Bevölkerung zu den Anknüpfungspunkten von AIM-Aktionen, zentral im Fokus jedoch standen sie nicht. Hier stand die Thematisierung und Bekämpfung der anhaltenden Kolonialisierung der Native Americans durch die US-Regierung.

Das American Indian Movement verstand und versteht sich als ein in der Tradition der Warriors oder Kriegergesellschaften stehendes Intertribal Movement, also als eine stammesübergreifende Bewegung, die sich und andere indianische Aktivisten und Bewegungen bei den unterschiedlichsten Konflikten gegenseitig unterstützt. Bis zum spektakulären „March of Broken Treaties“ im November 1972 nahm AIM an über 150 indianischen Demonstrationen und anderen Protestaktionen nicht nur teil, sondern organisierte diese oftmals auch entscheidend mit. Ein weiterer wichtiger, aber nur wenig bekannter Schwerpunkt bestand in der Akquise von Geldern für indianische Belange.

Vor allem christliche Kirchen, die weltweit im Namen indianischer Kinder und Reservationsbewohner um Geldspenden warben, diese jedoch selten dem angegebenen Zwecke zuführten, wurden 1969 beim Treffen des National Council of Churches mit einer Reihe von Forderungen konfrontiert: Spenden, die für die Unterstützung von Indianern gesammelt wurden, seien ausschließlich hierfür einzusetzen; das Gremium, das die Spenden kontrolliere, solle zukünftig auch eine indianische Mehrheit und einen indianischen Vorsitzenden haben; jede Kirche solle hierfür eine eigene verantwortliche Struktur aufbauen. Mit dieser Aktion von AIM gelang es, dass christliche indianische Gruppen in den Folgejahren mehrere Millionen Dollar für ihre Arbeit in Reservationen erhielten.

Es waren dann jedoch eher Aktionen wie in Washington, Fort Lawton, Wounded Knee, Custer oder später auch in der Menominee-Reservation, die AIM zur Projektionsfläche für viele nichtindianische „Jungrebellen“ in den USA und Europa machte. Aber gerade die aufkommende skeptische Ablehnung westlich-europäischer Denkstrukturen bei dem gleichzeitigen Versuch, wieder an traditionelle Denk- und Lebenshaltungen anzuknüpfen, führten eher zur Ablehnung solcher Projektionen, hinter denen manche AIM-Aktivisten die Gefahr einer drohenden Funktionalisierung als „revolutionäres Potential für höhere, von außen definierte Revolutionsziele“ aufziehen sahen.

Claus Biegert beschrieb diese Situation AIMs, einen eigenen „roten Weg“ zu finden, bereits Mitte der 70er Jahre sehr deutlich:

Gemeinsamkeiten des Kampfes sehen die Indianer eher bei den vietnamesischen Bauern, die ebenfalls von einer Landbasis aus um kulturelle und nationale Identität kämpfen, als etwa bei der Bürgerrechtsbewegung der Schwarzen, die häufig kritisiert wird als der Versuch, über systemimmanente Reformen sich den Status der dominanten weißen Mittelklasse zu erkämpfen … Aktionseinheit wird daher nur mit solchen Minoritätengruppen gesucht, die reformistische Bestrebungen dieser Art als anti-emanzipatorische Strategien durchschaut haben, wie die Black Panthers, die Chicanos und die puertoricanische Minderheitenorganisation Young Lords. Genauso entschieden grenzen sich die neuen Indianer gegen Versuche ab, sie in eine dogmatisch marxistisch-leninistische Bewegung westlicher Provenienz einzuordnen.61

Weiter zitiert Biegert die Winnebago-Indianerin Shirley Keith:

Wenn ich hier eine marxistische Ideologie für die Indianer entwickeln würde, dann würde ich Lügen erzählen. Ich würde erzählen, was viele von euch hören wollen, aber ich will die Wahrheit sagen und die politische Entwicklung so darstellen, wie sie ist. Wir sahen in Alcatraz keinen von den weißen Linksradikalen – sie blieben wohl hinter den Felsen von San Francisco versteckt. Es waren die Minoritätsgruppen, die Arbeiter und Gewerkschaften, die uns halfen; nicht die Weißen und Radikalen und die weißen Liberalen.

Ich möchte dies zum Sozialismus sagen: Ich glaube, dass wir Indianer die ersten amerikanischen Sozialisten waren, und wir hatten einen Sozialismus der reinsten und freiesten Art, nicht repressiv wie in Osteuropa. Wenn nun aber weiße Radikale, die nicht erscheinen, wenn sie gebraucht werden, einem Indianer etwas über Sozialismus erzählen und behaupten, das wäre die Lösung unserer Probleme, dann erinnern sie mich sehr stark an die Missionare, die auch behaupten, die Lösung für alle Probleme zu kennen.62

Seit den Besetzungsaktionen in Fort Lawton und am Mount Rushmore 1970 sowie einer ehemaligen Raketenbasis in Richmond, Kalifornien 1971, des BIA-Gebäudes in Washington 1972 und der Ortschaft Wounded Knee in der Pine Ridge Reservation 1973 geriet das AIM zunehmend in den Fokus der amerikanischen Polizei und Geheimdienste. Führten die oben genannten Aktionen bei vielen jungen Europäern eher zu einer Verklärung des indianischen Widerstandes, so wurde AIM durch die amerikanischen Polizei- und Geheimdienstbehörden als extremistische, kommunistische Guerillatruppe eingestuft, die zu jeder Art von Terror bereit war. Es waren vor allem konservativ-reaktionäre Politiker und Medien, die in der Öffentlichkeit von AIM das Bild einer Horde von kriminellen Wilden gesteuerter Terroristen zeichneten, die planten, das Land mit Bombenabwürfen, Sprengstoffanschlägen und Massenmorden mittels vergiftetem Trinkwasser destabilisieren zu wollen.