Stil und Text

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Michael Hoffmann

Stil und Text

Eine Einführung

A. Francke Verlag Tübingen

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© 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.francke.de • info@francke.de

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E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

ePub-ISBN 978-3-8233-0017-5

Inhalt

  Vorwort

 1 Stilistische Aspekte der Textkommunikation1.1 Zur Einheit von Text- und Stilkompetenz1.2 Textstilistische Teilkompetenzen1.2.1 Formulierungskompetenz1.2.2 Visualisierungskompetenz1.2.3 Sprach- und Textspielkompetenz1.3 Stil in einer Kosten-Nutzen-Relation

 2 Definitionsmerkmale der Textkategorie Stil2.1 Einleitung2.2 Musterbasiertheit2.2.1 Gestaltungsmuster allgemein: Komponenten des Musters Gestalten2.2.2 Gestaltungsmuster spezifiziert: Beispielanalysen2.3 Ganzheitlichkeit2.3.1 Zum Begriff Stilgestalt2.3.2 Stilgestalten im Text2.4 Kontextbezogenheit2.4.1 Gestaltungskontexte2.4.2 Stil auf verschiedenen Vertextungsebenen2.5 Motiviertheit2.5.1 Gestaltungsmotive2.5.2 Gestaltungsmotive in der pragmatischen Textkommunikation2.5.3 Grundlegende Unterschiede zwischen pragmatischer und poetischer Textkommunikation2.5.4 Gestaltungsmotive in der poetischen Textkommunikation2.6 Ästhetische Gestalthaftigkeit2.6.1 Zur ästhetischen Wertigkeit von Stil2.6.2 Ästhetische Gestalthaftigkeit im poetischen Text2.6.3 Ästhetische Gestalthaftigkeit im pragmatischen Text2.7 Kulturbezogenheit2.7.1 Stil und Kultur2.7.2 Stilwandel und Kultur2.8 Textgebundenheit2.8.1 Zum Textbegriff in der Textlinguistik2.8.2 Stil als Eigenschaft von Texten2.9 Zeichenhaftigkeit2.9.1 Stil als kommunikatives Zeichen im Text2.9.2 Stil in einem Textzeichenmodell2.9.3 Komplexanalyse eines textuellen Zeichengefüges2.10 Eine Stildefinition

 3 Wahrnehmungs- und Interpretationsperspektiven auf Stil3.1 Fokussierungsformen3.1.1 Fokus und Horizont3.1.2 Deviation: Formen der Abweichung3.1.3 Isomorphie: Formen der Wiederholung3.1.4 Kontrast: Formen der Entgegensetzung3.2 Stilzüge3.2.1 Stilzüge als Gegensatzpaare in der Tradition von Kunstgeschichte und Ästhetik3.2.2 Stilzüge als Gegensatzpaare in einem mehrdimensionalen Stilfunktionsmodell3.3 Stilregister3.3.1 Registerwahl bei der Produktion von Äußerungen3.3.2 Registerwahl bei der Produktion von Texten3.3.3 Registermischung im Text3.4 Textkompositionen3.4.1 Erscheinungsformen textkompositorischer Gestalthaftigkeit3.4.2 Beispielanalysen zu Sprache-Bild-Kompositionen3.5 Stiltypen3.5.1 Stiltypen und typisierte Stile3.5.2 Individualstil3.5.3 Textsortenstil3.5.4 Funktionalstil

 4 Hinweise zur Methodik der Stilanalyse4.1 Leitsätze

  4.2 Analysemodelle 4.2.1 Stufen-/Schrittfolgenmodelle 4.2.2 Ebenenmodelle 4.2.3 Rahmenmodelle

  4.3 Ein Wort zum Schluss

  Literaturverzeichnis

  Sachregister

Vorwort

Texte können ganz unterschiedlich verfasst sein: dienstlich oder privat, wissenschaftlich oder populärwissenschaftlich, witzig, ironisch, satirisch oder von neutralem Ernst getragen, religiös oder politisch, dogmatisch oder liberal, poetisch oder nichtpoetisch usw. Es handelt sich um Gestaltungsalternativen oder – bildlich formuliert – um verschiedene Farben, in die Texte getaucht werden können. Besser gesagt: Farben, in denen Texte erscheinen können. Denn es gibt streng genommen kein Nebeneinander von Text und Stil im Sinne einer Gegenüberstellung. Es gibt vielmehr nur ein Ineinander: Stil ist ein integraler Bestandteil von Texten – ein Textualitätsmerkmal. Wer Texte produziert, stellt immer zugleich auch Stil her. Stil wird Texten nicht hinzugefügt.

Stil ist ein Chamäleon, lautet ein vielzitierter Satz in der stilistischen Fachliteratur. Doch stimmt dieses sprachliche Bild uneingeschränkt? Es stimmt immer dann, wenn man den universellen Charakter von Stil herausstellen will – seine Fähigkeit, sich anzupassen an die verschiedensten kommunikativen Bedürfnisse, Aufgaben und Situationen, an die Verfasser und Rezipienten von Texten, an den Zeitgeist, an mediale Gegebenheiten, an vieles mehr. Diese Anpassungsfähigkeit hat zur Folge, dass es verschiedene Stile gibt und somit auch Gestaltungsalternativen. Sie hat letztlich zur Folge, dass es Stil überhaupt gibt.

Der Vergleich mit einem Chamäleon stimmt allerdings nicht, wenn man die kommunikative Leistungsfähigkeit des Stils eines einzelnen Textes in einem konkreten kommunikativen Umfeld unter die Lupe nehmen will. Dann nämlich kommt es gerade auf eine ganz bestimmte Farbe an – auf eine Farbe, die zum kommunikativen Umfeld dieses Textes passt. Wissenschaftlicher Stil z.B. muss als solcher identifizierbar und von populärwissenschaftlichem Stil sowie allen anderen Stilen unterscheidbar sein. Stil wird in diesem Falle zum Zeichen für den Kommunikationsbereich der Wissenschaft. Ein einzelner Text kann also niemals alle Farben zugleich annehmen. Ebenso wenig ist es möglich, unbedenklich von einer Farbe in die andere zu wechseln. Farbwechsel (Stilwechsel), auch Farbmischungen (Stilmischungen) innerhalb eines Textes sind aber, wenn die kommunikativen Umstände es zulassen, durchaus möglich. Wechsel und Mischung von Stilen können zum Zeichen für gestalterische Kreativität werden.

Anliegen des vorliegenden Buches ist es, ein Spektrum an stilistischen Farben zu beschreiben, indem den spezifischen Farbtönen von Einzeltexten, Textsorten (Genres) und Textgattungen nachgespürt wird. Geschrieben wurde das Buch für alle, die mit Stil und Text im Studium oder im Beruf zu tun haben, in erster Linie jedoch für Studierende und Dozierende der Germanistik. Das Buch wartet mit zahlreichen Beispielen und Beispielanalysen auf. Zum einen, um graues stiltheoretisches Gedankengut mit der farbigen kommunikativen Praxis zu verbinden. Zum anderen, um Anregungen für eigenständiges Produzieren und Analysieren von Texten zu vermitteln. Verzichtet wurde weitgehend auf die Darstellung von Forschungsgeschichtlichem wie auch auf die Diskussion verschiedener Stilauffassungen und Stiltheorien. Dazu gibt es genügend einschlägige Literatur.

Ein Buch zum Verhältnis von Stil und Text kommt nicht ohne Beispieltexte aus. Bei einer ganzen Reihe von Texten bzw. Textauszügen waren Abdruckrechte einzuholen, was sich häufig als langwierig und nicht immer als erfreulich herausstellte. Mein Dank gilt in Sonderheit all den Verlagen und Redaktionen, die den Abdruck von Texten kostenfrei genehmigten. Ich danke den Verlagen Hinstorff (Rostock), Rowohlt (Reinbek bei Hamburg) und Zsolnay/Deuticke (Wien), den Redaktionen der Tageszeitungen „Der Tagesspiegel“ und „Süddeutsche Zeitung“, den Redaktionen der Magazine „Eulenspiegel“, „Das Magazin“ und „Reader’s Digest“, dem Kampagnenbüro „Runter vom Gas“, dem Plakatarchiv der Konrad-Adenauer-Stiftung und der Lebensberatungsplattform Viversum.

Ich danke dem Gunter Narr Verlag für die Aufnahme des Titels in die Reihe „narr studienbücher“ und seinem Lektorat, insbesondere Frau Dr. Valeska Lembke und Herrn Daniel Tobias Seger, für die zuvorkommende Begleitung des Projekts vom Exposé bis zur Drucklegung.

Potsdam, im April 2017 Michael Hoffmann

1 Stilistische Aspekte der Textkommunikation
1.1 Zur Einheit von Text- und StilkompetenzStilkompetenz

Es hat eine gewisse Tradition, Stil als eine Eigenschaft von Texten zu bestimmen. Doch damit ist kaum etwas Genaues gesagt. Es bleibt offen, wie diese Texteigenschaft beschaffen ist, wie sie in den Text hineinkommt, was sie von anderen Texteigenschaften unterscheidet, warum es Stil überhaupt gibt. Es sind Fragen, auf die das Buch eine Antwort geben will. Wichtig erscheint, davon auszugehen, dass der Stil eines Textes eingebunden ist in Prozesse der Textkommunikation. Stil wird textproduzentenseitig hergestellt und textrezipientenseitig wahrgenommen und auch interpretiert. Doch auf welcher Grundlage geschieht dies? Grundlage sind kommunikative Kenntnisse und Fähigkeiten. Oder präziser gesagt: Textproduzenten und -rezipienten sind auf TextkompetenzTextkompetenz angewiesen. Darunter sind vielfältige Kenntnisse im Hinblick auf den Umgang mit Texten verschiedener Art zu verstehen sowie die Fähigkeit, Texte ertragsorientiert zu produzieren und zu rezipieren.

 

Ertragsorientierte Textproduktion und -rezeption bedeutet Ausrichtung auf einen kommunikativen Gewinn, einen kommunikativen Nutzen. Textkommunikative Erträge können anvisiert und bei geglückter Kommunikation auch erzielt werden. Wir nehmen hierbei Bezug auf das textlinguistische Ertragsmodell, das Kirsten Adamzik (2004: 116f.) an die Stelle eines abstrakten Textfunktionsmodells gesetzt hat. Das Ertragsmodell ist auf die Lebenswelt der Kommunikationsteilnehmer, auf deren Kommunikationsbedarf zugeschnitten. Es zeigt verschiedene Möglichkeiten auf, textkommunikative Erträge zu erzielen. Es zeigt allerdings nicht auf, welche Merkmale Texte aufweisen müssen, damit sich der anvisierte Ertrag auch einstellt bzw. einstellen kann. Gerade das Wissen darüber hat sehr viel mit TextkompetenzTextkompetenz zu tun. Wir sind der Auffassung, dass der Erfolg beim Erzielen textkommunikativer Erträge wesentlich vom Stil eines Textes (von stilistischen Textmerkmalen) abhängen kann, und skizzieren im Folgenden, wie sich Zusammenhänge zwischen Ertragsarten und Arten stilistischer Textmerkmale herstellen lassen.

Intellektuelle ErträgeErträge: Sie können sich einstellen, wenn man Wissen erfolgreich vermittelt oder erworben hat. Die entsprechenden Texte (z.B. Lehrbücher) müssen – soll Kommunikation glücken – adressatengerecht verfasst sein und weiteren stilistischen Erfordernissen (KlarheitKlarheit, GegliedertheitGegliedertheit, Fasslichkeit) Rechnung tragen. Es handelt sich dabei letztlich um erkenntniserleichternde Textmerkmale als Voraussetzung für kommunikativen Erfolg.

Praktische ErtragpraktischerErträge: Der Gewinn, den Texte für Produzenten wie Rezipienten einbringen, ist möglicherweise ein lebenspraktischer. Man will sich schnell über Abfahrts- und Ankunftszeiten eines öffentlichen Verkehrsmittels informieren, ein Möbelstück montieren, einen Gebrauchsgegenstand reparieren oder verkaufen. Bei den entsprechenden Texten (Fahrplänen, Montage- und Reparaturanleitungen, Verkaufsanzeigen) kommt es u.a. auf rezeptionsbeschleunigende Merkmale an: auf Sprachökonomie und ÜbersichtlichkeitÜbersichtlichkeit, bei Anleitungstexten auch auf AnschaulichkeitAnschaulichkeit.

Emotional-psychische Ertragemotional-psychischerErträge: Texte können Gefühle zum Ausdruck bringen und Mittler einer emotionalenEmotionalität/Emotionalisieren Kommunikation sein, bei der sich Gefühlsbekundungen (Freude, Trauer, Stolz usw.) des Textproduzenten auf den Rezipienten übertragen. Der Textertrag kann also darin bestehen, dass die Gefühlslagen von Produzent und Rezipient wie gewünscht übereinstimmen. Gratulationstexte, Festreden, Traueranzeigen signalisieren dies über gefühlsbekundende Textmerkmale. Dem Stil kommt die Funktion der „textuellen Emotionsmanifestation“ (Schwarz-Friesel 2007: 211) zu. Anders liegen die Dinge im Falle von Beleidigungen und Diffamierungen. Hier kann nicht von einem Ertrag (im Sinne von Gewinn oder Nutzen) für beide Seiten gesprochen werden.

Soziale ErträgeErträge: Mit Texten lassen sich Regeln für das Zusammenleben der Menschen aufstellen. Gesetzestexte sind wohl das beste Beispiel. Der Textproduzent präsentiert die Sachverhalte als juristisch verbindlich, indem er einen juristischen StilStiljuristischer herstellt. Bei Dienstanweisungen, Steuerbescheiden und Verwaltungsvorschriften präsentiert sich der Textproduzent als Amtsperson oder als Institution, ausdrücklich nicht als Privatperson. Er stellt einen amtlichen Stil her, und dazu gehört, amtliche Autorität zu erzeugen. Die Texte müssen demnach rollengestaltende Merkmale aufweisen. Mit Texten lassen sich auch soziale Kontakte knüpfen und pflegen. Zu denken ist an Kontaktanzeigen oder an die Übermittlung von Urlaubsgrüßen und Festtagswünschen. Stilistisch relevant sind dabei u.a. beziehungsgestaltende Textmerkmale. Einen hohen Stellenwert können Anrede-, Gruß- und WunschformelnWunschformel haben. Gestalterisch stellt sich aber auch die Frage, wie der Textproduzent mit textkommunikativen Mustern umgeht. Ob er es sich einfach macht und seinen Text aus kommunikativen Fertigteilen zusammensetzt oder ob er es vorzieht, den Textrezipienten mit OriginalitätOriginalität zu überraschen. Dann kann ein formbezogener ErtragErtragformbezogener hinzukommen.

Formbezogene Erträge: Sie können sich mit Bezug auf künstlerisch Gestaltetes einstellen: textproduzentenseitig beim Hervorbringen ästhetischer Gestaltungsweisen im Rahmen poetischerPoetizität/poetisch TextsortenTextsorte (z.B. Ballade, Novelle, Komödie), textrezipientenseitig bei ihrer Wahrnehmung und Interpretation. Kommunikativ wichtig werden betrachtungsstimulierende Textmerkmale. Formbezogene Erträge können für Produzenten von Gebrauchstexten darin bestehen, dass es gelungen ist, die Aufmerksamkeit des Rezipienten gerade auf die Textpassagen zu lenken, die besonders wichtig sind, oder dass es gelungen ist, die AttraktivitätAttraktivität eines Textes zu erhöhen und damit Rezeptionslust zu wecken. Ausschlaggebend für den kommunikativen Erfolg können rezeptionssteuernde bzw. rezeptionsstimulierende Textmerkmale sein.

PersuasivePersuasion ErträgeErtragpersuasiver: Im Ertragsmodell nicht verzeichnet, aber zu berücksichtigen sind Texterträge, die in der Beeinflussung des Textrezipienten liegen und mehr oder weniger vordergründig die Interessen des Textproduzenten bedienen können. Sie werden beispielsweise anvisiert mit Werbetexten kommerzieller oder politischer Art. Werbetexte sind typischerweise von entscheidungsstimulierenden Merkmalen geprägt. Deren Funktion ist es, den Erwerb eines bestimmten Produkts, die Nutzung einer bestimmten Dienstleistung, die Wahl einer bestimmten Partei zu begünstigen. Auch die Verfasser von Bewerbungsschreiben produzieren entscheidungsstimulierende Texte. Man will sich schließlich erfolgreich auf eine Stelle bewerben, hat aber keine Erfolgsgarantie. Wichtig wird deshalb v.a. eine geeignete Art der SelbstpräsentationSelbstpräsentation. Für das Erzielen persuasiver Erträge sind strategische Überlegungen erforderlich. Zur TextkompetenzTextkompetenz des Rezipienten gehört die Fähigkeit, persuasive Textstrategien zu durchschauen.

Metakommunikative Erträge: Kommunikative Kenntnisse und Fähigkeiten kann man mit der Produktion eigener und der Rezeption fremder Texte erwerben oder erweitern. Das heißt, man kann etwas über Kommunikation durch Kommunikation lernen, durch eigenes kommunikatives Tun, auch dadurch, dass man sich im Gestalten und Analysieren von Texten übt. Zu fragen ist, was Bücher über Stil (Stilistiken) für das Erzielen metakommunikativer Erträge leisten können. Der Gedanke an praktische Stillehren liegt nahe, deren Anliegen es ist, stilistische Textmerkmale stilnormativ zu fixieren. Ein metakommunikativer ErtragErtragmetakommunikativer kann sich dabei aber nur dann einstellen, wenn bei der Beschreibung von Stilnormen kommunikative Gesichtspunkte ausdrücklich berücksichtigt werden. Das ist nicht immer der Fall (siehe 1.2.1). Stilistiken anderen Zuschnitts sind theoretisch fundierte Abhandlungen zum Stil authentischer Texte. Hier geht es darum, stilistische Textmerkmale stilanalytisch herauszuarbeiten, um Einsichten in das Wesen von Gestaltungsweisen zu gewinnen. Insgesamt gesehen kommt es darauf an, Gestaltungsmöglichkeiten aufzuzeigen, ohne die Beschreibung von Gestaltungserfordernissen zu vernachlässigen. Diesem komplexen Anliegen ist das vorliegende Buch verpflichtet.

Der streiflichtartige Überblick über einige Möglichkeiten, textkommunikative Erträge zu erzielen, und – damit im Zusammenhang – über stilistische Textmerkmale, die für den kommunikativen Erfolg auschlaggebend sein können, lässt die Frage nach dem Verhältnis von Text- und StilkompetenzStilkompetenz aufkommen. Nach unserer Auffassung ist Stilkompetenz alles andere als eine Anhängselkompetenz. Im Unterschied zu einem Modell von TextkompetenzTextkompetenz, das dies nahelegt (vgl. Weidacher 2007: 48f.), betrachten wir Stilkompetenz als einen wesentlichen Aspekt von Textkompetenz. Es kann sich sogar um den entscheidenden Aspekt handeln. Textkompetenz gilt mittlerweile als eine Schlüsselkompetenz (vgl. den Buchtitel von Schmölzer-Eibinger/Weidacher 2007), doch immer noch strittig ist, in welche Teilkompetenzen sich Textkompetenz aufgliedert und welchen Stellenwert die einzelnen Teilkompetenzen haben (vgl. u.a. Adamzik/Heer 2009). Wir sprechen im Hinblick auf Stilkompetenz bewusst von einem Aspekt der Textkompetenz und vermeiden es, Stilkompetenz als eine Teilkompetenz neben andere (z.B. Sachkompetenz, Vertextungskompetenz, TextsortenkompetenzTextsortenkompetenz) zu stellen. Wir sind der Auffassung, dass Stilkompetenz Kenntnisse und Fähigkeiten umfasst, die untrennbar mit textuellen Teilkompetenzen verknüpft sind. Nehmen wir als Beispiel die Verknüpfung von TextsortenTextsorte- und Stilkompetenz: Ertragsorientiert zu kommunizieren schließt in vielen Fällen die Beachtung textsortengebundener Gestaltungserfordernisse ein. In einigen Fällen kann Ertragsorientiertheit in der Ausnutzung textsortengebundener Gestaltungsoptionen bestehen, in vergleichsweise seltenen Fällen in der AbweichungAbweichen von textsortengebundenen Vorgaben.

Es ginge zu weit, wollten wir uns in die Diskussion über textuelle Teilkompetenzen einschalten. Stattdessen werfen wir einen Blick auf einige textstilistische Teilkompetenzen.

1.2 Textstilistische Teilkompetenzen

Nicht nur Text-, auch StilkompetenzStilkompetenz lässt sich in Teilkompetenzen aufgliedern. Wir gehen im Folgenden ein auf die Formulierungs-, die Visualisierungs- sowie die Sprach- und TextspielkompetenzTextspielkompetenz.

1.2.1 FormulierungskompetenzFormulierungskompetenz

Der Begriff FormulierungFormulierung nimmt Bezug auf „das Resultat in der Verwendung von Sprache durch einen Autor beim Herstellen eines Textes“ (Michel 2001: 36). Die FormulierungskompetenzFormulierungskompetenz umfasst u.a. Kenntnisse darüber, wie man Sachverhalten eine angemessene sprachliche Form geben kann. AngemessenheitAngemessenheit ist ein kommunikatives Grundprinzip; es gehört zum Kanon der Schulrhetorik (vgl. Plett 2001: 27ff.). Seine Befolgung erfordert die Wahl einer Ausdrucksweise, die

 der Persönlichkeit des Textproduzenten, darunter seinem Ethos entspricht;

 den sozialen Status, den Verstehenshorizont und die Textverarbeitungskapazität des Rezipienten berücksichtigt;

 auf den Redeanlass zugeschnitten ist;

 zur Art und Bedeutsamkeit des Redeinhalts passt.

Formulierungsleistungen sind folglich in mehrfacher Hinsicht textkommunikativ relationiert. Insofern kann es keine allgemeingültigen Grundsätze für einen guten, d.h. angemessenen Stil geben. Gerade dies wird aber häufig von praktischen Stillehren bzw. Stilratgebern postuliert. Da heißt es z.B. in einem umfangreichen populärwissenschaftlichen Zeitungsbeitrag mit dem Titel „Eine Deutsch-Stilkunde in 20 Lektionen“, verfasst von Wolf Schneider (Die Zeit, Nr. 20/2012, Beilage, 8–31): „Verachten wir den Wissenschaftsjargon“ (S. 18). Als Beispiel für diese verachtenswerte Stilform wird eine Passage aus einem Vortrag zitiert, den eine Professorin der Universität Konstanz gehalten hat:

Die emphatische Standortbezogenheit, die Affirmation von Differenz und der dekonstruktivistische Blick, der explizite Traditionen und implizite Selbstverständlichkeiten als von Interessen gesteuert durchleuchtet, enthalten ein sozialrevolutionäres Potenzial, das auch für identitätspolitische Zwecke nutzbar gemacht werden kann. (Ebd.)

Dieser Stil ist einerseits zweifellos unangemessenUnangemessenheit, denn die Professorin hat die Textverarbeitungskapazität ihres Publikums missachtet. Andererseits ist wissenschaftlicher Stil typischerweise theoretisch-abstrakt, und in dieser Hinsicht (StimmigkeitStimmigkeit zwischen FormulierungFormulierung und Redeinhalt) ist ihr Stil durchaus angemessen. Er signalisiert, dass ein intellektueller ErtragErtragintellektueller erzielt werden soll. Die Formulierungsleistung ist also insgesamt als zwiespältig zu beurteilen (und nicht pauschal zu verurteilen).

 

Höchst problematisch ist auch das Stilgebot, auf den NominalstilNominalstil als „Krone der Hässlichkeit“ (S. 21) zu verzichten. Als Beispiel wird ein Text aufgeführt, der im Jahre 2012 an Abfallkörben auf Autobahnparkplätzen in Deutschland zu lesen war: „Nur Reiseabfälle. Zuwiderhandlungen werden als unerlaubte Sondernutzung zur Anzeige gebracht.“ (Ebd.) Wolf Schneider nimmt erstens Anstoß am FunktionsverbgefügeFunktionsverbgefüge zur Anzeige bringen, das er durch das einfache Verb anzeigen ersetzt haben möchte, und zweitens am „Bürokratenjargon“ generell. Man könne – so der Stilkritiker – den zweiten Satz des Textes in ein „drastisch besseres Deutsch“ bringen, indem man ihn so formuliert: „Sonst kriegen Sie Ärger!“ Doch sind Schneiders Umformulierungsvorschläge wirklich echte Formulierungsalternativen? Natürlich nicht! Denn würden sie in die Tat umgesetzt, ginge etwas Entscheidendes verloren: der amtliche NachdruckNachdruck, amtlicher, mit dem auf juristische Konsequenzen eines Zuwiderhandelns hingewiesen wird. Würde die Aufschrift an Abfallkörben wie vorgeschlagen umformuliert, trüge sie Merkmale des Alltagsstils: Die Verben anzeigen und kriegen sowie das Substantiv Ärger verweisen auf EinfachheitEinfachheit, das Verb kriegen außerdem auf Umgangssprachlichkeit bei der Wortverwendung. Dies aber wäre unangemessenUnangemessenheit und brächte den anvisierten sozialen ErtragErtragsozialer in Gefahr.

Die PassivformPassivform/-konstruktion, von Wolf Schneider als „hässlichste Form des Verbs“ (S. 17) gegeißelt, ist in grammatischer Hinsicht eine morphologische Alternative zur Aktivform, in stilistischer Hinsicht ein GestaltungsmittelGestaltungsmittel. Eine Form wie werden zur Anzeige gebracht erzeugt nicht nur UnpersönlichkeitUnpersönlichkeit, sie ermöglicht es darüber hinaus, den betreffenden Sachverhalt als allgemeingültig in den Vordergrund zu rücken. Passivformen haben deshalb auch in wissenschaftlichen Texten ihren angestammten Platz. Als formulierungskompetent erweisen sich die Produzenten längerer Texte jedoch nur dann, wenn sie Ersatzformen des Passivs kennen und verwenden, um Monotonie im Stil zu vermeiden.

Wir können uns nicht mit jeder der 20 stilkundlichen Lektionen auseinandersetzen. Ein gewisser Nutzen ist textkommunikativ unspezifizierten Stilregeln nicht abzusprechen. Sie sind dabei behilflich, eigene Formulierungsleistungen auf den Prüfstand zu stellen, sie dahingehend zu prüfen, ob jedes Wort nötig, treffend und am richtigen Platz ist. Fragwürdig werden solche Stilregeln, wenn Formulierungsleistungen ohne Rücksicht auf ein konkretes textkommunikatives Umfeld als Fehlleistung bewertet und mit Auszügen aus poetischenPoetizität/poetisch Texten konfrontiert werden, die als Beispiele für stilistisch vorbildhaftes Formulieren dienen. Dies ist auch insofern ein fragwürdiges Verfahren, als sich genügend Gegenbelege ausfindig machen ließen, d.h. poetische Textpassagen, die als Verstöße gegen Regeln eines guten Stils zu bewerten wären, da sie „garstige Nominalkonstruktionen“ (S. 8), „ausgeleierte Redensarten“ (S. 15) oder „vermaledeite vorangestellte Attribute“ (S. 22) enthalten. Doch es gibt auch Formulierungsberatung der besseren Art – praktische Stillehren, die zielgruppen- und praxisorientiert verfasst sind. Verwiesen sei auf das Buch von Karl-Heinz List (2007), das sich an Führungskräfte in Unternehmen wendet und mit Mustertexten zu unternehmensrelevanten TextsortenTextsorte aufwartet, auch mit Texten zur Firmen-SelbstpräsentationSelbstpräsentation im Internet.