Vernunft und Offenbarung

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III.Judentum, Christentum und Kantianismus

Cohens in Abwehr von Treitschkes Judenfeindschaft konzipierte Theorie des jüdischen Universalismus nimmt das verworfene und abgelehnte Projekt einer Geschichtsphilosophie wieder auf. Wie – so läßt sich Hegels Frage reformulieren – war es möglich, daß die Vernunft in der Geschichte wirklich geworden war? Wie müssen wir handeln? – so fragten gegen Hegel liberale und sozial verantwortliche Denker wie Cohens philosophischer Förderer, der akademische Materialist F. A. Lange, die nicht glauben mochten, daß der preußische Staat die Verkörperung der Vernunft war. Was so im Denken Hegels als rückwärts gewandte Reflexion erschien, wies sich den Neukantianern als politische Aufgabe. Die Rückkehr zu Kant im letzten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts zog zugleich eine Neubelebung der Lehre vom gerechten, richtigen Handeln, der Ethik, und damit eine Abkehr vom realpolitischen Zynismus des Bismarckreiches nach sich. Diese Haltung – einschließlich ihrer Berufung auf Kant – zu artikulieren, schien Philosophen jüdischer Herkunft besonders nahezuliegen. Es ist mehr als ein Zufall, daß sich Cohen hier in einer Reihe mit Kants jüdischen Schülern seit Marcus Herz sieht, Schülern und Lesern, die eine tiefe innere Wahlverwandtschaft zwischen Kants praktischer Philosophie und der Orthopraxie des Judentums als Religion erkannten. Hermann Cohen brachte diese ebenso innige wie historisch unvermittelte Wahlverwandtschaft auf den Begriff:

„Diese idealistische Bedeutung der Sittlichkeit, kurz, was wir Deutsche als das unantastbare Heiligtum Kantischer Lehre ehren, worin alle Auffassungen sich einigen, was wir als den höchsten Schatz nationaler Weisheit allen modernen Völkern entgegen als Deutschheit hochhalten, das erscheint aus der Tiefe, aus der Gottinnigkeit, aus der Glut des sittlichen Enthusiamus der Propheten historisch unvermittelt. Die Kantische Ethik trifft zwar inhaltlich in ihrem Imperativ völlig zusammen mit dem Rigorismus der israelitischen Sittenlehre. Die Haggada, derjenige Teil des Talmuds, welcher die Sittenlehre enthält […]“6

Hermann Cohen, der sich nie taufen ließ, sah sich gleichwohl genötigt, auf christliche Motive zurückzugreifen, um die Wahlverwandtschaft zwischen Kantianismus und Judentum zu entfalten. Die Notwendigkeit dieser Argumentationsweise drängte sich Cohen durch eine Fragestellung auf, die ihrerseits von der christlich geprägten Philosophie des deutschen Idealismus vorgegeben war. Wie – so fragte sich der Kantianer Cohen – ist es möglich, daß ein gleichsam göttliches, allgemeines Sittengesetz der Vernunft endlicher, wenn auch moralisch freier Wesen entspringt, ohne daß dabei den endlichen Menschen selbst Göttlichkeit zuzusprechen ist? Die Antwort lautete in der von Hegel inspirierten, im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts in Deutschland als gültig angesehenen Philosophie: durch Vermittlung! Diesem Programm hing auch noch ein vermeintlich hegelkritischer Neukantianer wie Hermann Cohen an.

So bestand die Antwort auf Treitschkes Schmähschrift in dem Hinweis, daß jedenfalls die modernen, die kantianischen Israeliten mit dem modernen Christentum die entscheidenden Grundannahmen teilen. Der Preis dieser Verteidigung bestand freilich nicht nur in einer relativen Preisgabe der Eigenständigkeit des Judentums in theoretischer Hinsicht, sondern führte auch dazu, der Idee der christlichen Religion einen systematischen Vorsprung vor der Geltung der prophetischen Ehtik zuzuschreiben:

„Ein Punkt nur ist in dieser Vertiefung der Gottesidee nicht zum vollen Ausdruck gekommen, dessen dogmatische Ausgestaltung den christlichen Monotheismus von dem israelitischen unterscheidet. Es ist dies der fundamentale Gedanke, welcher die Verbindung der modernen Völker mit dem griechischen Geiste zur Erzeugung einer neuen Kultur ermöglicht hat: Die Idee des Verhältnisses von Mensch und Gott wird in der Menschwerdung Gottes verinnerlicht, und vollzieht in der dogmatischen Form der Humanisierung Gottes die kulturgeschichtliche Mission der Humanisierung der Religion.“7

Was zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts der jüdische Reformer, Kantianer und Mendelsohnschüler David Friedländer im Berlin der protestantischen Seite in seinen 1799 publizierten Hausväterbriefen skizziert hatte und was schon damals auf protestantischer Seite auf den deutlichen Widerspruch liberaler Theologen wie des Propstes Teller und Friedrich Daniel Schleiermachers gestoßen war,8 führte Hermann Cohen mehr als ein halbes Jahrhundert später gegenüber einem illiberalen und antisemitischen Historiker wie Heinrich von Treitschke aus: ein Christentum ohne Christus.

Die Akzeptanz und Überzeugungskraft dieser Gedankenfigur sollte nach Cohens Willen den Juden ihren Platz in einer christlichdeutschen Gesellschaft sichern: „Ich hoffe gezeigt zu haben“, beschließt Cohen diesen Passus, „daß der Religionsgehalt des israelitischen Monotheismus mit dem in geschichtlichem Geiste gedachten Christentum vereinbar und zur Volksgemeinschaft zureichend sei.“9

Freilich kann sich die Aufgabe einer Vermittlung von Judentum und Deutschtum nicht im Gedanken eines Christentums ohne Christus erschöpfen – als historisch konkrete, vermittelnde und vermittelte Tat hat sie sich der Konkretion anzunehmen: dem damaligen deutschen Staat.

IV.Staat und Rasse

Die Bevölkerung dieses Staates, des Bismarckreichs, schien freilich vor allem aus Protestanten und sonstigen blutmäßigen Deutschen zu bestehen, aus mehreren Nationalitäten, ja sogar mehreren Rassen. Daher sieht sich Cohen in seiner Auseinandersetzung mit Treitschke über seine theologisch-systematischen Argumente hinaus gezwungen, auf die Rassentheorie einzugehen beziehungsweise die Bedeutung von Rassen für die Bildung einer Nation zu untersuchen. Dabei distanziert sich Cohen scharf von dem kulturalistisch-liberalen, allem Blutsdenken abgeneigten, ebenfalls jüdischen Begründer der „Völkerpsychologie“, Moritz Lazarus, der den Rassegedanken zur Erklärung des Wesens von Völkern für überflüssig hielt. Cohens Äußerungen zur Rassenfrage lassen an Deutlichkeit wenig zu wünschen übrig:

„Mit gesundem Menschengefühl wird man die Frage, ob in einem Volke Rasseneinheit wünschenswert und in gewissen Minimalgrenzen erforderlich sei, unbedenklich bejahen […]. Wir müssen erkennen, daß der Rasseninstikt mitnichten simple Barbarei ist; sondern ein natürliches, national berechtigtes Verlangen. Barbarei wird Nationalgefühl, wenn es zu politischer und nationaler Ausschließung solcher Mitbürger degeneriert, die kein anderes Vaterland haben noch wollen.“10

Cohen meinte, Treitschke zugeben zu müssen, daß alle Juden das deutsche, germanische Aussehen subjektiv wünschten, und baute daher auf eine soziale Annäherung, ein Konnubium, das endlich zur Angleichung der Rassenunterschiede führen sollte. Für ihn bestand kein Zweifel daran, daß „wir Juden anzuerkennen haben, daß das Ideal nationaler Assimilation, als solches, von Geschlecht zu Geschlecht bewußter angestrebt werden soll“.11

Da Cohen aus prinzipiellen, der Authentizität des Gewissens verpflichteten Gründen gegen Konversionen zum Christentum eintrat, mußte er schließlich eine Lebensform befürworten, die sich aus damaliger Perspektive tatsächlich als deutsch-jüdische Symbiose bezeichnen ließe, nämlich für interkonfessionelle Ehen, in denen die Partner aus aufgeklärten Kulturprotestanten oder israelitischen, ethischen Monotheisten bestehen. Dabei war es nicht einmal nötig, Spekulationen oder Zukunftsprojektionen zu betreiben. Eine schlichte Bestandsaufnahme des real existierenden Judentums in Deutschland seit der französischen Revolution reichte dazu in jeder Hinsicht aus. Und zwar sowohl für die Form des Gottesdienstes als auch bezüglich der Lehrinhalte des deutschen Judentums:

„Unsere israelitische Religion, wie sie uns heute lebendig erfüllt, ist tatsächlich eine kulturgeschichtliche Verbindung mit dem Protestantismus bereits eingegangen; nicht nur, daß wir jene Tradition der Kirche, so wie die des Talmud mehr oder weniger bestimmt und unverblümt als unverbindlich abgeworfen haben; sondern viel tiefer in allen geistigen Fragen der Religion denken und fühlen wir im protestantischen Geiste.“12

V.Unsterblichkeit und Auferstehung

Diese vergleichsweise frühen Stellungnahmen wurden später – in der posthum erschienenen Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums – doch so weit revidiert, daß uns der späte Cohen nicht mehr als ein Deutscher mosaischen Glaubens erscheint, sondern als das, was die zeitgenössische, zwischen Zionismus und Assimilationismus hin- und herschwankende Debatte als „Nationaljudentum“ bezeichnet hat. Auffälligerweise kommt diese Position an der Erörterung einer Frage zum Ausdruck, die es mit einer vermeintlich rein theologischen, ganz unpolitischen Thematik zu tun hat, nämlich der Thematik von „Unsterblichkeit und Auferstehung“. Es scheint unzweifelhaft, daß diese Frage einem kantianisch gesonnenen Philosophen, dem es um eine vernünftige Religion ging, besondere Schwierigkeiten bereiten würde, geht es doch hier um weder erfahrungswissenschaftlich noch moralisch einholbare Wünsche und Bekenntnisse; jedenfalls dann, wenn man sich – wie Cohen es in seinen letzten Lebensjahren tat – ernsthaft auf die biblischen und rabbinischen Quellen einließ und sich nicht mit einer einfachen Wiederholung kantischer Positionen begnügte. Nach Kant waren ja die Begriffe „Gott, Freiheit und Unsterblichkeit“ vernunftnotwendige regulative Ideen einer vom Sittengesetz geleiteten autonomen Individualität.

Cohen nimmt sich der Problematik einer vernunftgemäßen Rekonstruktion der Begriffe von Unsterblichkeit und Auferstehung zunächst dadurch an, daß er – in beinahe sprachanalytischer Manier – die bei diesem Komplex in Frage kommenden Begriffe sorgfältig voneinander unterscheidet. So ist der Begriff der „Seele“ weder historisch noch systematisch zwingend mit dem Begriff der „Unsterblichkeit“ verbunden, noch ist der Begriff der „Seele“ selbst ganz eindeutig. Zu alledem kommt noch hinzu, daß „Unsterblichkeit“ und „Auferstehung“ ebenfalls unterschiedliche Bedeutungen haben und unterschiedlichen Kontexten entstammen. Ein theoretisch interessierter Rückblick auf die allgemeine Kulturgeschichte seit der Antike ergibt zunächst, daß man unter „Seele“ sowohl das Prinzip animalen Lebens als auch das Prinzip sittlichen Lebens verstehen kann. Vor dieser Unterscheidung erscheint Cohen schon der aus dem Persischen kommende biblisch rabbinische Glaube an eine leibliche Auferstehung als eine Herabsetzung des Gedankens der Unsterblichkeit, „denn sie ist die Auferstehung des Leibes, während die Unsterblichkeit nur die der Seele ist und sein soll“.13

 

Läßt sich unter biblischen Voraussetzungen dann überhaupt noch von „Auferstehung“ sprechen? Ist diese Vorstellung nicht notwendig mit dem Begriff einer leiblich gebundenen Seele verknüpft? Cohen löst dieses Problem, indem er einerseits den Begriff der Unsterblichkeit der Seele strikt an die Seele des einzelnen Individuums bindet, den Begriff der „Auferstehung“ aber, ganz im Einklang mit den prophetischen Quellen, insbesondere bei Hesekiel, an den Gedanken der Auferstehung des Volkes knüpft. „Die Unsterblichkeit“, so kann Cohen dann formulieren, „gewinnt die Bedeutung des geschichtlichen Fortlebens des Individuums im geschichtlichen Fortbestand seines Volkes.“14

Dieser geschichtliche Fortbestand gewinnt sein Gewicht vor dem Hintergrund von Cohens Theorie des Messianismus, die er selbst strikt von jeder Eschatologie abhebt, um ihm eine präsentische Deutung einer immanenten, durchaus auch politischen Entwicklung zum Besseren des Menschengeschlechts zu geben. An dieser Stelle kann Cohen ganz im Einklang etwa mit Kants Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte oder den anderen kleineren geschichtsphilosophischen Schriften eine zwar wissenschaftlich und erkenntnismäßig nicht einholbare, aber doch vernünftig begründete Lehre von der sittlichen Höherentwicklung der Menschen im Laufe der Geschichte übernehmen und für seinen Messianismus, mit dem er 1914 etwa den Eintritt Deutschlands in den Krieg begründete, reklamieren. Ist mit dieser Verlagerung des Auferstehungsbegriffs auf das kollektivgeschichtliche Schicksal des jüdischen Volkes, ja mehr noch, auf die geschichtliche Versittlichung aller Völker, auch der Skandal des Todes und der Wunsch nach Unsterblichkeit erledigt? Nach Cohens eigenen Voraussetzungen nicht, da ja die Unsterblichkeit stets die Unsterblichkeit der individuellen Seele ist. Hier kommt nun alles darauf an, die „Seele“ nicht als Prinzip animalischen Lebens, sondern als Prinzip der Sittlichkeit zu betrachten. Dabei nutzt Cohen den biblischen Begriff der Heiligkeit, den er als einen Aufruf, als einen Imperativ zu einem gottgemäßen Leben liest: „Ihr sollt mir sein“, heißt es im 2. Buch Mose 19,6, „ein Reich von Priestern und ein heiliges Volk.“ Heiligkeit erscheint so als das Ideal eines sittlichen Lebens – wer heilig geworden ist, hat sich in seinem Leben den sittlichen Geboten Gottes geweiht:

„Wie aber nun die sittliche Heiligkeit zum religiösen Begriffe der Heiligkeit wird, wie denn Gott nicht mehr für das Opfer, sondern nur für die Aufgaben der Sittlichkeit zum Urbilde der Heiligkeit wird, so muß der Begriff des Lebens sich auch über die Grenzen des irdischen Lebens hinaus erweitern. Auch auf das Sterben muß sich das Menschenleben erstrecken. Der Tod kann nicht schlechthin mehr als das Ende des Lebens betrachtet werden. Er muß den Gedanken nahelegen, daß er nur ein Übergang sei zu einem anderen Leben. Denn die Heiligkeit ist ja das Ideal des Lebens geworden. Die Heiligkeit hat aber auch den Menschen als Individuum hervorgebracht. Der Mensch hat die Aufgabe und die Kraft der Buße, also der Selbsterneuerung und der Wiedergeburt. Und der heilige Gott wird demgemäß zum Gotte der Erlösung und der Versöhnung.“15

Freilich kommt Cohen alles darauf an, die Idee von der Unsterblichkeit der Seele im Rahmen einer sittlichen Wiedergeburt von allen mythischen und mystischen Vorstellungen zu reinigen. Weder stellt die postulierte Wiedergeburt der Seele eine etwas andere Fortsetzung des irdischen Lebens dar, noch geht es um eine Verschmelzung der Seele mit Gott, die ja die Differenz zwischen Gott und Mensch aufheben und damit dem Monotheismus widersprechen würde. Wenn die menschliche Seele ihre Verbindung zu Gottes Geist sucht und sich in guten Taten heiligt, in guten Taten, die zu tun Gott als Geist der menschlichen Seele auferlegt hat, wird jetzt deutlich, daß es der vom Menschen in seiner Seele angenommene Geist Gottes ist, der unsterblich ist, wobei wiederum dieser Geist Gottes als Geist von Gott, aber nicht mystisch als göttlicher Geist verstanden werden darf. Die Unsterblichkeit des Geistes hat dann aber ihren Ort im geschichtlichen Wirken eines Volkes und damit des ganzen Menschengeschlechts, gerade so wie die Seele – wenn überhaupt – in den biologischen Prozessen der Fortpflanzung und Vererbung fortdauert. Unsterblichkeit des Individuums ist daher in sittlicher Hinsicht ganz biblisch die „Einsammlung zu den Vätern“, sofern diese Väter ganz ohne Eschatologie Heilige in einem messianischen Prozeß sind:

„Dadurch ist der Mensch der Beschränkung auf das biologische Einzelwesen enthoben, nicht minder aber auch derjenigen auf das empirische Geschichtswesen. Denn der Begriff der Geschichte und der geschichtlichen Erfahrung hat sich jetzt über die Schranken der Vergangenheit und der Gegenwart hinausgehoben, und nur in die Zukunft und in die Entwicklung zu ihr ist das eigentliche Dasein, die eigentliche Wirklichkeit des Menschenlebens und der ganzen Völkergeschichte gelegt.“16

Dieser Gedanke einer Auferstehung ins geschichtlich Zukünftige, einer Weiterung ins Messianische, einer Vollendung der sittlichen Individuen in und zu „Allheitsindividuen“ erfüllt erst den Begriff der Individualität und ermöglicht erst die Vorstellung einer messianischen Menschheit. Nur in einer befreiten Menschheit erfüllen sich die Individuen, und nur durch sich sittlich höherbildende und ihre Aufgaben von Generation zu Generation lehrende Individuen kommt eine befreite und geläuterte Menschheit ihrem Begriffe nah. An genau dieser Nahtstelle hat dann die jüdische, die alttestamentliche Lehre von der Unsterblichkeit über die allgemeinen Bestimmungen der Ethik hinaus ihren Ort:

„Die Religion dagegen“ – und „die Religion“ ist für Cohen die jüdische Religion – „verwertet den ethischen Begriff des Allheitsich, den der Messianismus erfordert. Und diese Verbindung der messianischen Zukunft des Menschengeschlechts mit ihrem providentiellen Ursprung in den Erzvätern des Monotheismus bringt die jüdische Unsterblichkeitslehre zur unzweideutigen Geltung. Sie sind die geschichtlichen Vertreter des messianischen Menschengeschlechts, zugleich aber vertreten sie, als Stammvater, den biologischen Untergrund der Fortpflanzung und Vererbung.“17

Mit dieser Gedankenfigur wurde es Cohen möglich, seiner jüdischen Existenz in einem deutsch und protestantisch bestimmten Staatswesen einen guten, geschichtsphilosophisch begründeten Sinn zu geben – als Erbe einer biologisch beglaubigten messianisch-universalistischen Kultur, deren Abkömmlinge, in einem ethischen Sozialismus und einer die Welt sittlich pazifizierenden Großmacht lebend, eine hervorragende Aufgabe vertraten. Obwohl Cohen in seiner letzten Schrift den Auferstehungsglauben des Christentums stark kritisiert und obwohl er dem Judentum eine noch weniger als das Christentum auf Verdienste abzielende Glaubenshaltung zuschreibt, ist heute unübersehbar, in welchem Ausmaß er von den kantischen, den protestantischen Wurzeln der neueren deutschen Kultur zehrt. Immerhin: Einen Begriff der Erbsünde lehnt Cohen ebenso ab wie den Gedanken einer jenseitigen Strafe oder einer jenseitigen Belohnung. Daß aber die Individuen ihr Leben nicht führen sollten, um glücklich zu werden, war ihm zur unbefragbaren Voraussetzung geworden, weshalb er denn für die Todesangst und ihre Ausdrucksweisen nur wenig Verständnis hatte: „Die Hoffnung auf das Wiedersehn in jenem Leben ist das Symptom für alle jene Komplikation der empirischen Individualität.“18

VI.Deutschland im Krieg

Spätestens hier wird deutlich, in welchem Ausmaß der deutsche Jude und Kantianer Hermann Cohen unbemerkt und unreflektiert einige intellektuelle Voraussetzungen der Bismarckschen Staatsgründung mitträgt. Ohne einen Gedanken daran, daß es in diesem Reich auch Katholiken gab, ohne Erwähnung des einem ethischen Sozialisten eigentlich geläufigen Umstandes, daß es auch einen atheistischen Universalismus gibt,19 geriet ihm die Beziehung zum deutschen Protestantismus zum Kern seines politischen Denkens und seiner Interpretation des Judentums. Daß Hermann Cohen sich, dem Zionismus ebenso abgeneigt wie dem Chauvinismus, schließlich auf den bizarren Pfad eines universalistisch-messianischen Bekenntnisses für Deutschlands Weg in den Ersten Weltkrieg begab und er damit zu einem der hervorragendsten Vertreter der den Ideen von 1789 entgegengesetzten Ideen von 191420 wurde, wird auch an dem zu Beginn des Ersten Weltkrieges publizierten Schreiben an die Juden Amerikas deutlich. In diesem Du sollst nicht einhergehen als ein Verleumder. Ein Appell an die Juden Amerikas betitelten Schreiben heißt es unverblümt: „Nicht jeder Jude weiß es, aber jeder Jude soll es wissen: Die innere religiöse Entwicklung unserer Religionsverfassung verdanken wir nur Deutschland.“21 Diese Einsichten – so meint Cohen – sollten jeden Juden auf der Welt an die Seite des kriegführenden Deutschland treiben, das mit seinem Waffengang sowohl die praktischen Interessen der Juden wahrnähme als auch einen welthistorisch-messianischen Auftrag erfülle:

„Liebe Brüder in Amerika! Ihr werdet mich jetzt verstehen, wenn ich Euch sage: Jeder Jude des Abendlandes hat neben seinem politischen Vaterland als das Mutterland seiner modernen Religiösität, wie seiner ästhetischen Grundkraft und damit des Zentrums seiner Kulturgesinnung, Deutschland zu erkennen, zu verehren und zu lieben. Ich habe die Überzeugung, daß auch in jedem gebildeten russischen Juden diese Pietatät für die deutsche Bildung lebendig ist. Und ich habe daher auch die Zuversicht, daß er unseren deutschen Waffengang mit Rußland aus seinem jüdischen Herzen heraus begleiten muß.“22

Aus einer jüdischen Perspektive rechtfertigt Cohen den Krieg gegen Rußland vor allem mit der Rechtlosigkeit der russischen Juden, denen noch nicht einmal das allgemeine Schulrecht zugestanden sei. Dem Aufruf eines englischen Juden, mit den Juden Rußlands gegen Deutschland zu kämpfen, mag Cohen daher nur noch mühsam gebremsten prophetischen Zorn entgegensetzen. In dieser Weltstunde dürfe wohl die Frage aufsteigen, ob etwa das Weltgericht über Rußland hereinbreche,

„nicht zuletzt aus der Rücksicht auf seine unverhüllten Maßregeln zur Austilgung des jüdischen Volkes. Jeder Jude, der von der Kulturkraft und daher von dem Lebensrecht seiner Religion überzeugt ist, muß sich glücklich schätzen, wenn sein Patriotismus ihm wenigstens Neutralität in diesem Krieg auferlegt. Er muß uns deutsche Juden aber beneiden“, so hebt Cohen hervor, „daß wir für unser Vaterland kämpfen, getragen zugleich von der frommen Zuversicht, daß wir mit dem größten Teil unserer Glaubensgenossen seine Menschenrechte erkämpfen werden. Deutschland, das Mutterland der abendländischen Judenheit, das Land der Geistesfreiheit und Sittenzucht, Deutschland wird mit seinem Siege Gerechtigkeit und Völkerfrieden in der Welt begründen. Darüber können wir“ – so schließt sein Aufruf an die Juden Amerikas – „auf diplomatische Zusicherungen verzichten. Wir vertrauen auf die Logik unseres Geschickes und unserer Geschichte.“23