Das Mädchen im Haus

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Das Mädchen im Haus
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Prolog

Die Flucht

Das Haus

Die Erkundungstour

Der Dachboden

Der Keller

Das Foto

Der Kuss

Der Ofen

Der Traum

Der Wald

Der Stiefvater

Der Hund

Die Knochen

Der Vermieter

Die Rache

Die Erlösung

Die Fügung

Epilog

Das Mädchen im Haus

Von Melanie Kaiser

Buchbeschreibung:

Seit Jahrzehnten hat keine Menschenseele in dem verlassenen Jagdhaus, tief versteckt im Wald, gewohnt.

Die junge Marie flüchtet sich dorthin.

Nach kurzer Zeit werden ihre Träume Wirklichkeit.

Dunkle, längst vergessene Geheimnisse aus der Vergangenheit des Hauses werfen ihre Schatten auf Maries Leben.

Kann sie den Kampf gegen sie aufnehmen?

Über den Autor:

Melanie Kaiser wurde am 25.08.1981 geboren und kommt aus dem schönen Lipperland.

Die heimliche Leidenschaft zum Schreiben, hatte sie schon sehr früh. Am liebsten schreibt sie längere Kurzgeschichten …

Geschichten, die man mit einem Atemzug lesen kann.

Impressum

Texte: © Copyright by Melanie Kaiser

Buchcoverdesign: Sarah Buhr / www.covermanufaktur.de unter Verwendung von Bildmaterial von Yakov Oskanov (wald); godrick (mond); Oleg Krugliak (Haus) / Shutterstock sowie faestock (Frau) / Adobe Stock

Melanie Kaiser

Karl - Wehrhan - Straße 47

32758 Detmold

mgrotensohn@web.de

Druck: epubli ein Service der

neopubli GmbH, Berlin


Printed in Germany

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1. Auflage, 2020

© Melanie Kaiser – alle Rechte vorbehalten.

Prolog

Die Flucht 9

Das Haus 18

Die Erkundungstour 27

Der Dachboden 44

Der Keller 54

Das Foto 64

Der Kuss 70

Der Ofen 74

Der Traum 87

Der Wald 92

Der Stiefvater 97

Der Hund 101

Die Knochen 108

Der Vermieter 117

Die Rache 124

Die Erlösung 132

Die Fügung 137

Epilog 145

Prolog

Die Frau lag im Bett, die blutigen Beine am Körper angewinkelt. Der Druck kam pressend, immer unaufhaltsamer, aus ihr heraus. Sie wollte schreien, doch der Knebel im Mund verhinderte dies.

Diese Schmerzen!

Wie oft hatte sie es ertragen müssen. Bitte lass es ein Junge sein, schoss ihr durch den Kopf. Eine weitere Wehe kam, mehr Blut lief ihr zwischen die Beine und verfärbte das weiße Laken.

Endlich!

Der Druck ließ nach. Sie fühlte sich befreit. Das Baby schrie leise und gedämpft. Sie konnte es hören. Es war in ihrem Kopf, doch ihre Sinne waren benebelt. Ihr Körper entspannte sich nach den Schmerzen.

Die Frau schaute von einer Seite zur anderen. Wo war er?

Stille!

Sie hörte nichts.

Ihr Kind – sollte es wieder eine Totgeburt sein? Tränen liefen ihr über das Gesicht.

Endlose Minuten später setzte er sich neben sie ans Bett, nahm ihr den Knebel ab.

»Psst«, er legte seinen Zeigefinger auf ihre Lippen, »du kannst nichts dafür.«

Die Worte trafen sie zutiefst.

»Nein!«

Sie schluckte, rang nach Luft, wusste, was diese Worte zu bedeuten hatten.

»Ein Mädchen oder ein Junge?«, fragte sie mit weinender Stimme.

»Ein Mädchen«, sagte er verächtlich, als wäre es tröstend. Doch das war es nicht, würde es nie für sie sein.

Die dritte Totgeburt nacheinander.

Die Flucht

Als Marie in den Lastwagen kletterte, schrillten alle Alarmglocken in ihr. Leider nicht eindeutig genug, denn sonst wäre sie nicht eingestiegen. Sie setzte sich neben den vollbärtigen, nach Bier stinkenden Fahrer. Verlegen sah sie ihn an, strich sich die blonde Strähne aus dem Gesicht hinter ihr Ohr.

»Vielen Dank, nett, dass Sie mich mitnehmen.«

Er lächelte sie mit einem breiten Grinsen an, dabei erkannte sie die Reste seines letzten Mittagessens zwischen seinen Schneidezähnen. Sie tippte auf Hühnchensandwich.

»Gerne, Süße. So ein nettes Ding wie dich kann ein Mann wie ich doch nicht im Stich lassen. Außerdem fängt es gleich zu regnen an, du wärst klitschnass geworden. Du hättest dich noch erkältet.« Dann fügte er noch hinzu: »Sieh mich einfach als deinen Retter an.«

»Okay, dann danke«, murmelte sie leise, er hatte ja auch Recht. Es sah nach einem bevorstehenden Wolkenbruch aus. Dicke Regenwolken hingen am Himmel.

Als Marie noch an der Autobahnauffahrt gestanden hatte, darauf wartend, dass ein Auto anhielt, war der frische Wind auf ihrer Haut deutlich zu spüren gewesen. Sie hatte so gehofft, dass jemand stehenblieb, um sie mitzunehmen. Nach einer Weile hatte sie beschlossen, egal, wer halten würde, sie stiege ein. Viel hatte sie nicht dabei, nur eine kleine Tasche und ihren Rucksack.

Der LKW bewegte sich, sie fuhren los. Marie quetschte sich in die Polster des Sitzes. Unauffällig sah sie sich im Fahrerhaus um. Dreckig und schmierig, diese Begriffe umschrieben genau den Zustand des Wagens. Das Zigarettenfach quoll über und einige Kippen lagen auf dem Boden vor ihren Füßen. Als sie nach unten schaute, sah sie eine halbleere Sandwichschachtel und sie schüttelte sich vor Ekel. Marie zog die Knie an sich heran.

»Hunger?«, fragte sie der Fahrer von der Seite.

Sie blickte ihn an und sah, wie er nicht sie, sondern mit seinem Blick in den Fußraum ihres Platzes deutete.

»Nein, danke. Mir ist schon schlecht.«

Oh Mist, hatte sie das jetzt laut ausgesprochen?

»Oh, ne ganz Freche. Du solltest etwas freundlicher zu mir sein, schließlich habe ich dich mitgenommen.«

Dabei sah er ihr in die Augen, dann auf ihre Beine. Arschloch!, zuckte es durch Maries Hirn. Sie ging nicht weiter auf seine Worte ein, blickte schweigend aus dem Fenster. Die Stadt war nicht mehr zu sehen, nur Wälder um sie herum. Es begann zu regnen, die Tropfen prasselten gegen die Scheiben. Marie spürte, wie sie sich dabei entspannte. Der Fahrer sagte nichts mehr, er musste sich bei dem Wetter auf die Straße konzentrieren. Das war auch gut so.

Marie versank in Gedanken an ihre geliebte Mutter. Tränen füllten ihre Augen. Ihre Mutter hatte sich, seit Marie denken konnte, mit kleineren Kellnerjobs über Wasser gehalten. Sie hatten nicht viel gehabt, aber waren immer glücklich gewesen. Als Marie dann vierzehn geworden war, hatte ihre Mutter Oliver kennengelernt. Er war nett und liebevoll zu beiden gewesen und bereits nach kurzer Zeit hatte ihre Mutter ihn geheiratet.

Zuerst war alles gut gewesen, doch leider hatte ihr Glück nicht lange angehalten. Der Typ hatte sich vom liebenden Ehemann zum wahren Albtraum verwandelt. Ihrer Mutter war verboten worden, wegzugehen; selbst, wenn sie nur zum Einkaufen gewesen war, hatte er ihr eine Affäre unterstellt, sie mit seiner krankhaften Liebe erdrückt. Er hatte getrunken und sich immer mehr in Eifersucht und Verlustangst hineingesteigert. Am Anfang hatte sie es nicht ernstgenommen, sogar noch süß gefunden. Als es dann aber immer heftiger geworden war und Oliver förmlich ausgetickt war, hatten die beiden nur noch gestritten.

 

Einige Monate nach ihren siebzehnten Geburtstag war ihre Mutter in einem Hospiz an Krebs gestorben und Marie mit Oliver zurückgeblieben, denn weitere Verwandtschaft hatte sie nicht und auch nur wenige Freunde, durch die Krankheit ihrer Mutter war dafür kaum Zeit geblieben.

Schon nach kurzer Zeit hatte er sich seltsam Marie gegenüber verhalten. Nach der Schule war sie zu Hause geblieben, hatte gekocht und den Haushalt geführt, so, wie es ihre Mutter immer getan hatte, bis Oliver von der Arbeit kam. Er hatte ihr leidgetan, schließlich hatte er ihre Mutter geliebt, wenn auch auf eine krankhafte Art und Weise.

Letzte Nacht war es dann passiert, als Marie in ihrem Bett lag und schlief. Als Oliver sich zu ihr unter die Decke gelegt hatte, war sie erwacht und vom Schock wie betäubt, unfähig, sich zu rühren. Ist er jetzt völlig durchgedreht?, war ihr nur noch durch den Kopf geschossen, als er sich an sie geschmiegt hatte.

Als er zu weinen begonnen hatte, waren auch bei Marie die Tränen geflossen, aber dann musste sie feststellen, dass er mit der Hand unter ihr Nachthemd geglitten und sie gestreichelt hatte, was ihr absolut falsch vorgekommen war.

»Bitte nicht«, hatte sie geflüstert und seine Hand weggeschoben.

Doch er hatte sie einfach festgehalten, sie auf den Rücken gedreht und sich auf sie gesetzt.

»Du gehörst mir«, hatte er gezischt, sie mit glühendem Blick angesehen, doch dann von ihr abgelassen und das Zimmer verlassen.

Weinend war Marie zurückgeblieben und ihr wurde immer klarer, dass sie verloren war, würde sie bei ihm bleiben. So hatte sie am nächsten Morgen, als er auf der Arbeit war, die nötigsten Sachen gepackt und ihre Ersparnisse abgehoben.

»Zwei Wochen«, hatte sie sich gesagt. »Dann bin ich volljährig.«

Bis dahin musste sie sich vor ihm verstecken, so lange war er ihr Vormund. So hatte ihre Mutter es in ihrem Testament verfügt und das Jugendamt hatte keine Einwände gehabt. Danach war sie frei von ihm.

Der Regen prasselte immer noch auf die Scheiben. Müdigkeit überkam sie, im Traum sah sie ihre Mutter vor sich. Sie rief ihr etwas zu, doch Marie konnte es nicht hören.

»Was Mama, ich höre dich nicht.«

Ihre Mutter sah verzweifelt aus, rief immer wieder etwas. Doch es war mehr wie ein lautloses Flehen. Plötzlich befand sie sich im Bett, Oliver lag neben ihr, streichelte sie. Immer wieder schlug sie auf ihn ein.

Als Marie erwachte, war sie benommen. Wo war sie? Dann fiel ihr alles wieder ein. Ihre Mutter, Oliver, die Flucht. Irgendwas stimmte hier nicht!

Die Hand des Fahrers lag auf ihrem Oberschenkel und war fast in ihrer Jeansshorts verschwunden.

»Lassen Sie das!«

Marie schlug die Hand weg.

»Ich möchte dir keine Angst einjagen, nur du hast so tief geschlafen«, grinste er sie an. »Du siehst so heiß aus in den Shorts, da konnte ich nicht anders.«

Die Hand wanderte wieder auf ihr Knie. Schwer und rau fühlte sie sich an.

»Fassen Sie mich nicht mit ihren Drecksfingern an! Ich will sofort aussteigen!«, schrie Marie ihn an, schlug wieder auf seine Hand. Sie blickte ihn in die Augen. Etwas Eindringliches lag in ihnen, aber auch ein Hauch von Resignation.

»Okay, beruhig dich«, sagte er mit fester Stimme.

Jetzt bemerkte Marie, dass es dunkel war, auf der Gegenfahrbahn schossen die Autos mit grellem Licht an ihnen vorbei. Er sah sie immer noch an. Marie fühlte, wie er in den Gegenverkehr kam. Lichter rasten auf sie zu.

»Aufpassen!«, schrie sie ihn an.

Er griff nach dem Lenkrad, riss es herum, zurück auf die richtige Spur.

»Hoppla«, sagte er nur, als er den LKW wieder unter Kontrolle bekam, begleitet vom Hupen der Autos, die ihm ausweichen mussten. »Bleib locker, ist doch nichts passiert«, grinste er sie nur an.

Maries Herz hämmerte, der Adrenalinschub raste durch ihren Körper.

»Sie perverser Scheißkerl, Sie hätten uns fast umgebracht. Beim nächsten Rastplatz möchte ich, dass Sie mich rauslassen!«

Marie spürte, wie Tränen über ihre Wangen liefen.

»Okay Süße, wenn du es willst. Hey, ist doch nichts passiert, bisschen Action, mehr nicht.«

Dabei grinste er und machte das Radio lauter. Das war knapp gewesen, erkannte Marie.

Dieser Vollidiot, beim nächsten Rastplatz steige ich aus, such mir eine andere Fahrgelegenheit. Am besten eine Frau oder ein Paar. Auf keinen Fall will ich sowas nochmal erleben, dachte sie.

Marie wusste, er würde es nicht noch einmal versuchen. Zumindest redete sie sich das selbst ein, um ihr Gewissen zu beruhigen. Das hatte ihr in ihrem bisherigen Leben oft geholfen. Er hätte ja auch, als sie geschlafen hatte, anhalten können, um sie zu vergewaltigen. Hatte er aber zum Glück nicht, doch das Risiko war ihr zu hoch.

Sie fuhren weiter, nach kurzer Zeit tauchte ein Schild auf. Die Rettung! Eine Tankstelle! Der Fahrer blinkte rechts, fuhr an die Tankstelle und hielt neben einer Zapfsäule.

»So Süße, Endstation. Wenn du willst, nehme ich dich aber gerne noch weiter mit.«

Er stellte den Motor ab.

»Ich weiß nicht«, hörte Marie sich sagen. Sie war müde, kaputt. Der Blick nach draußen verriet ihr, der Regen hatte mittlerweile aufgehört. Außerdem war es spät. Wer wusste, wer sie mitnehmen würde?

»Na, dann überlege es dir nochmal. Ich muss tanken und aufs Klo.«

Er lächelte sie an, stieg aus und machte sich an der Tanksäule zu schaffen. Marie blieb zurück und beobachtete ihn.

Was soll ich tun?, überlegte sie. Ihr fiel die Hand auf ihrem Schenkel wieder ein. Nein, ich muss hier raus, flüsterten ihre Gedanken.

Der Fahrer ging in den Verkaufsraum, um zu bezahlen. Als er außer Sichtweite war, schnappte Marie sich ihre Sachen, öffnete die Tür und sprang auf den Boden. Als sie sich umsah, bemerkte sie, dass kein weiteres Auto in der Nähe zu sehen war. Wohin?

Am Ausgang der Tankstelle sah sie links ein paar Mülltonnen stehen, dahinter versteckte sie sich. Ihr Herz pochte, als sie ihn aus dem Verkaufsraum kommen sah und auf den LKW zusteuerte. Er stieg ein und ließ den Motor an, kurbelte sein Seitenfenster herunter. Das Licht im Führerhaus ließ ihn deutlich sichtbar werden. Der Mann schaute sich um, aber konnte sie nicht entdecken. Er zuckte mit den Schultern und fuhr los.

Marie war erleichtert, verfolgte die Rückleuchten sie mit ihrem Blick bis auf die Autobahnausfahrt.

»Er ist weg«, flüsterte sie erleichtert.

Doch was sollte sie jetzt tun? In die Tankstelle gehen? Dort war es wahrscheinlich warm und sie war vor dem Regen geschützt, der wieder einsetzte. Oder doch eher auf ein Auto warten und hoffen, dass sie jemand mitnahm? Aber irgendwie hatte sie das Gefühl, dass sie lange würde warten müssen.

»Was machst du da?«

Ein Junge stand plötzlich vor ihr. Groß, braune längere Haare. Seine blasse Haut konnte sie trotz der Dunkelheit erkennen, in der Hand hielt er einen Müllbeutel.

»Du Idiot, hast du mich erschreckt!«

Marie pustete, strich sich dabei eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Ich dich? Was soll ich denn bitte sagen? Du lungerst hier hinten zwischen den Mülltonnen rum!« Er sah sie vorwurfsvoll an, dann schmiss er den Müll in die Tonne. »Also, was machst du hier?«, fragte er neugierig.

»Hast du den LKW-Fahrer gesehen, mit dem bin ich mitgefahren. Er hat mich angegrabscht, ich dachte, hier wäre die beste Gelegenheit zum Abhauen.«

Der Junge sah sie an.

»Oh, aber du gehörst nicht hierhin.«

Was sollte das denn? Natürlich gehörte sie nicht hierhin. Marie wusste noch nicht mal, welcher Ort das hier war.

»Nein, ich bin auf der Durchreise. Ich bin auf der Flucht. Sozusagen. Hier ist ja nicht viel los. Wie hoch, meinst du, sind die Chancen, dass jemand hier anhält, und tankt?«

»Schau dir doch die Tankstelle mal an, hier halten kaum Leute, vor allem kommt keiner um die Zeit.«

Die Tankstelle sah in der Tat alt und etwas heruntergekommen aus.

Toll, dachte Marie.

»Du brauchst eine Schlafgelegenheit. Bei uns kannst du nicht bleiben, du musst hier weg, bevor mein Alter dich hier erwischt …«

Eine Tür ging auf. Er drückte sie gegen die Tonne.

»Tim, was treibst du da? Komm rein!«

Der Mann, der dort sprach, hatte eine kratzige Stimme, hustete heftig. Das hörte sich nicht gesund an.

»Paps, ich komme gleich. Geh wieder rein.«

Tim drehte sich zu Marie und kam etwas näher.

»Hinter der Tankstelle ist ein Wald, geh dort hinein, du musst dich geradeaus halten, dann kommst du zu einem verlassenden Haus. Da sieht dich keiner. Es liegt zu weit ab von der Autobahn.«

»Tim, los rein«, der Mann hustete wieder.

Tim drehte sich um, lies sie alleine zurück. ›Wie unheimlich‹, dachte Marie. Was war das denn? Nur Verrückte. Wieso sollte sie sich in einem verlassenden Haus verstecken? Wie kam er darauf? Sie sah zu dem Wald links von ihr hinter der Tankstelle, dann auf die Autobahn.

Weit und breit waren keine Lichter von irgendwelchen Fahrzeugen zu sehen, was Marie sehr seltsam vorkam. Eine so verlassene Autobahn hatte sie noch nie gesehen.

Marie seufzte, griff in ihren Rucksack, holte ihre Taschenlampe raus und lief in den Wald hinein.

Das Haus

Der Wald war unheimlich und still. Der Wind trieb die Wolken über den Himmel, raschelte in den Baumkronen. Marie spürte die Kälte auf ihrer Haut. Am liebsten hätte sie ihre Jeans aus dem Rucksack geholt und angezogen, doch sie hatte Angst. Sie wollte nur schnell durch den Wald hindurch und das Haus finden.

Den Schein der Taschenlampe richtete sie vor sich auf den Waldboden. Zügig ging sie weiter, an zahllosen Bäumen vorbei, deren Äste gespenstisch ins Dunkel ragten. Irgendwo musste doch ein Ausgang sein!

Endlich erreichte sie eine Lichtung, eine große Wiese, an deren Ende ein Haus stand. Marie blieb stehen, ihr stockte der Atem. Das musste es sein. Leider war es zu dunkel und zu weit entfernt, um Einzelheiten zu erkennen. Allem Anschein nach schien es die Rückseite zu sein, der Eingang musste sich demnach auf der anderen Seite befinden. Es war unheimlich, doch wie von einer unsichtbaren Kraft angezogen ging Marie über die Wiese auf das Haus zu. Das hohe Gras kitzelte sie dabei an den Knöcheln.

Ihre Mutter und sie hatten in einer Dreizimmerwohnung gelebt, die schon ohne Oliver zu klein gewesen war, dafür aber äußerst günstig. Der Vermieter, Herr Mensen, war ein äußerst freundlicher Mann, der Reparaturen sofort erledigte und auch schon mal einen Aufschub gewährte, wenn das Geld knapp war und die Miete später gezahlt werden musste. Doch so ein Haus, wie Marie es vor sich sah, hätte ihr sicherlich eine schöne Kindheit beschert. Viele Zimmer, ein Garten und ein Wald dazu. Als sie näher an das Haus kam, leuchtete sie es mit der Taschenlampe an und blieb stehen.

Es war wirklich gigantisch. Sie zählte vier, mit altmodischen Holzläden verschlossene Fenster. Ein großes, altes Hirschgeweih hing an der Hauswand.

Marie ging um das Haus und suchte den Eingang. Die Vorderfassade war mit graubraunen Holzbrettern verkleidet. Im Obergeschoss verschlossen die gleichen, altertümlichen Läden die drei Fenster. Zur Eingangstür, die scheinbar aus Eichenholz gefertigt war, führten drei Stufen einer morschen Holztreppe.

Mit dem Strahl der Taschenlampe leuchtet sie die Tür an. Am Türrahmen befand sich mit Kreide 20*C+M+B+13 geschrieben. Komisch, dachte Marie. Wie lange steht das schon hier? Wieso schreiben die Sternsinger es an die Tür eines verlassenden Hauses?

Marie hatte in der Schule zu dem Thema gut aufgepasst und wusste, manche Menschen denken ›C+M+B‹ steht für die Heiligen Drei Könige: Casper, Melchior und Balthasar, was jedoch nicht stimmt. Die Buchstaben sind eine Abkürzung für ›Christus Mansionem Benedicat‹, was hieß: Christus segne dieses Haus. Sie hoffte, dass es auch wirklich gesegnet war.

Marie griff nach der Klinke. Zu ihrer Verwunderung ließ sich die Tür öffnen, laut quietschend drehte sie sich in ihren Angeln. Sie stand im Flur, mit der Taschenlampe erkundete sie die Umgebung. Die anfängliche Angst war gewichen, stattdessen konzentrierte sie sich auf die Umgebung. Sie stellte ihre Tasche und den Rucksack ab.

Direkt vor ihr befand sich die Treppe zum Obergeschoss. Die Stufen sahen stabil aus, das Geländer ebenfalls. An sämtlichen Wänden hingen Geweihe, augenscheinlich war der Besitzer Jäger gewesen.

 

Die armen Tiere, dachte Marie.

Sie versuchte, den Lichtschalter zu betätigen, doch es blieb finster. Wäre auch wirklich zu schön gewesen. Tim hatte ja gemeint, es wäre verlassen, dann war wohl der Strom auch abgestellt worden, aber einen Versuch war es wert gewesen. In ihrem Kopf machte sie sich einen Plan.

»Erstmal werde ich hier unten alles erkunden und mich dann langsam ins Obergeschoss vorarbeiten«, murmelte sie.

Marie ging nach rechts und kam in ein Zimmer mit einem Kachelofen. Ein gepolstertes Sofa stand in dem Raum und eine alte Stehlampe, dessen Schirm sich im Lauf der Zeit gelb verfärbt hatte. Mehr nicht.

Marie fiel auf, dass, obwohl in dem Haus länger keiner gelebt hatte, es nicht so aussah. Kaum Spinnweben, nur wenig Staub auf dem Boden, was sie bemerkte, nachdem sie mit dem Finger über die Dielen gewischt und mit der Taschenlampe das Ergebnis überprüft hatte.

Sie ging zum Sofa und schlug kräftig mit der Hand darauf. Keine Staubwolke kam ihr entgegen. Das Haus war alles, nur nicht unbewohnt, musste sie sich eingestehen. Scheinbar wurde es als Wochenendhaus oder Feriendomizil genutzt. Doch die wenigen Möbel, die zu sehen waren, sprachen dagegen. Sie ging wieder an der Treppe vorbei und kam diesmal in die Küche, eher gesagt in einen Raum, wo einmal eine Küche gestanden haben musste. Die Wände waren weiß gefliest, die Bodenfliesen weiß und braun.

Neben der Tür stand ein Klappstuhl, an der Fliesenwand lehnte ein dreckiger Besen. Am Ende der Küche war eine Tür zu sehen, die wohl den Eingang zum Keller verschloss. Marie überkam ein leichter Schauer, als sie die Tür anblickte. Sie wollte sich auf keinen Fall den Keller ansehen. Zumindest nicht mitten in der Nacht.

Also ging sie nach oben. Das Geländer der Treppe fühlte sich glatt und kalt an. Die Stufen knarrten unter jedem Schritt. Ein Flur lag vor ihr. Die Wände waren mit einer alten Blümchentapete beklebt, die zum Teil abgerissen worden war. Äußerst hässlich, fand Marie.

Zwei Türen auf der rechten Seite und drei auf der linken führten in die obenliegenden Räume. Marie leuchtete nach oben und sah die Klappe des Dachbodens.

Sie ging in den ersten Raum, ein Badezimmer. Die Fliesen waren weiß, ein Waschtisch mit einem alten goldenen Spiegel. Marie stellte sich davor, richtete den Schein der Taschenlampe auf ihr Spiegelbild. Ihre langen blonden Haare hingen ihr strähnig ins Gesicht, ihre Augen waren dunkel umschattet, mit tiefen Augenringen. Müde sah sie aus.

Sie drehte den Wasserhahn auf, eine braune Suppe lief aus der Leitung.

Wie lecker, dachte Marie. Doch nach einigen Sekunden wurde der Wasserstrahl durchsichtig. Marie hielt ihre Finger ins Wasser und probierte es. Das kalte Wasser lief ihre Kehle hinunter. Na, dann werde ich wenigstens nicht verdursten, freute sie sich.

Bei der Wanne versuchte sie es auch. Genau dasselbe, die Rohre waren intakt. Zuerst die braune Suppe, dann wurde es immer klarer. Es machte ihr nichts aus, dass es kalt war. Hauptsache Wasser.

In den anderen Zimmern befand sich nicht viel. In einem war ein altes Holzbettgestell mit einer Sprungfedermatratze. Ein Wandschrank, in dem eine alte Kleiderstange hing, auf dieser ein paar Bügel. Dahinter ein Regal. Zu Maries Glück lag dort eine dicke Decke aus bunter Wolle, scheinbar selber gestrickt. Marie nahm sie in die Hand, zum Glück kratzte sie nicht so sehr. Sie roch dran, es war erträglich.

Die anderen Zimmer waren leer. Alte geblümte Tapeten waren überall an den Wänden. Tote Tiere sah sie zum Glück nicht. Der Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es bereits zwei Uhr am Morgen war. Der Tag war lang gewesen.

Sie mochte das Haus, auch wenn es etwas unheimlich war. Aber es bot ihr Schutz. Sie holte ihren Sachen von unten, verschloss dabei die Eingangstür. Oben in dem Zimmer, in welchem das alte Bettgestell stand, packte sie alles, was sie dabeihatte, aus. Es war nicht viel. Ein paar Kleidungsstücke, ein Toastbrot, ein Glas mit Marmelade, Erdnüsse, ein paar Konserven Ravioli. Sogar an Kerzen, einen Dosenöffner, eine Gabel, Löffel, Messer und Feuerzeuge hatte sie gedacht. Nachdem sie im Schein der Kerzen gegessen hatte, machte Marie es sich auf dem Bett bequem. Sie fand es gar nicht so schlimm.

Ihre Gedanken kreisten um Oliver. Ob er sie suchen würde, die Polizei informiert hatte? Irgendwie konnte sie es sich nicht vorstellen. Er war garantiert der Meinung, dass sie zurückkehren würde, weil sie doch sonst niemanden hatte.

Doch damit hatte er sich geschnitten! Sobald sie achtzehn war, würde sie sich einen Job suchen, vielleicht zunächst als Kellnerin, so wie ihre Mutter.

Dann dachte sie an das Haus und an den Jungen von der Tankstelle. Nicht, dass dieser Tim hierhin käme, mitten in der Nacht. Sie stand auf, ging zu der Zimmertür und drehte den Schlüssel um. Jetzt würde er nicht reinkommen, falls er das vorhatte. Marie lauschte den Geräuschen im Haus, bis sie endlich einschlief.

Sie träumte, dass sie am Grab ihrer Mutter stand. Ihren Kopf gesenkt blickte sie auf das Grab hinunter. Tränen liefen ihr aus den Augen.

»Mama, ich vermisse dich so sehr. Ich brauche dich«, sprach sie leise.

Plötzlich hörte sie aus der Stille heraus den Flügelschlag eines Vogels. Sie schaute in die Richtung, aus der das Geräusch kam und erblickte eine schwarz gekleidete Gestalt am Rande des Friedhofes im Schutz der Bäume.

Es war eine Frau in einem langen, schwarzen Mantel, doch zu weit um zu erkennen, wie sie aussah.

»Hallo?«, rief Marie in ihre Richtung.

Die schwarze Frau stand nur da, starrte sie an. Irgendwas stimmte hier nicht, spürte Marie. Was machte sie dort nur? Die Frau hob plötzlich ihren Arm. Zuerst dachte Marie, sie wollte winken. Doch dann begriff sie.

Die Frau deutet auf etwas hinter ihr. Sie wollte sich umdrehen, um zu sehen, was hinter ihr war, als sie eine Stimme, ganz deutlich neben ihrem Ohr hörte.

»Finde es …«,

flüsterte ihr eine leise Stimme zu.

Mit einem Ruck richtete sich Marie auf. Ihr Herz raste, sie musste husten. Was für ein Albtraum!

»Beruhig dich«, sagte sie leise zu sich.

Für einen Moment war sie orientierungslos. Wo war sie?

Das war nicht ihr Bett. Dann fiel es ihr ein. Alles! Die Flucht, die letzte Nacht, das Haus. Sie legte sich wieder zurück auf die Matratze, zog sich die Decke bis zum Kinn hoch, das Bild der schwarzen Frau vor Augen.

»Wieso träume ich so etwas«, fragte sie sich.

Dieser Traum hatte sich so real angefühlt, sogar die Kälte des Friedhofs hatte sie auf der Haut spüren können.

In der letzten Zeit war Marie des Öfteren von Albträumen heimgesucht worden, in deren Verlauf immer wieder das Grab ihrer Mutter vorkam. Dabei war sie bis jetzt nur einmal, bei der Beerdigung, dort gewesen. Sie hatte einfach nicht nochmal hingehen können.

Oliver hatte sie immer wieder gefragt, ob sie mit ihm zum Grab gehen wollte. Er war oft dort gewesen, hatte immer Blumen mitgenommen. Doch Marie konnte es nicht! Sie wollte es nicht sehen. Mit der Inschrift, ihre Mutter unter der Erde zu ihren Füßen. Dieser Gedanke zerriss ihr Herz.

Deshalb träumte sie vom Grab, ihr Unterbewusstsein holte sich, was es wollte. Doch von einer schwarzen Frau hatte sie bis jetzt noch nie geträumt.

Das hing vielleicht mit dem Haus und den Vorkommnissen des letzten Tages zusammen. Sie war noch nie der ängstliche Typ gewesen. In der Schule hatte sie sich immer gewehrt. Einmal hatte sie einen Jungen verprügelt, der ein Mädchen aus den untersten Klassen gehänselt hatte.

Er hatte auf dem Schulhof neben Marie in der Schlange gestanden, als sie sich Kakao holen wollte. Das Mädchen war an ihnen vorbeigegangen, eine Fünftklässlerin mit einer mehr als unvorteilhaften Zahnspange.

»Schaut euch mal diese hässliche Kuh an, mit ihrer Zahnspange«, hatte er geschrien.

Das Mädchen war rot angelaufen, Marie hatte sich zu ihm umgedreht und ihn aufgefordert, damit aufzuhören. Als er ihr dann noch eine unflätige Antwort gegeben hatte, da hatte er umgehend einen Tritt zwischen seine Beine kassiert, sodass er wimmernd auf den Boden sank. Nachdem er sich wieder hatte aufrappeln können, war er heulend zur Pausenaufsicht gerannt.

Marie war sehr wohl bewusst gewesen, dass sie überreagiert hatte, doch hatte die Wut sie einfach übermannt. Sie hatte dann zwar Reue gezeigt, aber im Grunde genommen hatte es sogar gutgetan, hatte sie sich eingestehen müssen.

Dass sie zur Strafe für zwei Wochen den Pausenhof vom Unrat befreien musste, der sogenannte ›Pickdienst‹, war ihr aber egal gewesen, da das Mädchen mit der Zahnspange den Lehrern erzählte, warum Marie den Jungen getreten hatte. Daraufhin durfte er einen Monat lang den ›Pickdienst‹ in den Pausen machen.

Wie sie so dalag und nachdachte, bemerkte sie, dass draußen die Vögel zwitschern. Die Herbstsonne leuchtete gegen die Läden des Fensters. Marie beruhigte sich langsam, dachte nicht mehr über den Albtraum nach. Sie konnte es eh nicht ändern. Diese Art von Träumen beherrschte mittlerweile ihr Leben. Durch den Tod ihrer Mutter hatte sie unendlich viel verloren. Aber ihre Mutter würde ihr sagen, sie solle weiterleben. Ihr Leben und glücklich werden. Albträume sind schlimm, aber damit verarbeitet man auch bestimmte Dinge.

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