Schweizerspiegel

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«Jajaja, mit dem Doktor allein ist es nicht gemacht! Daraufhin gibt ihm niemand auch nur einen Rappen. Es laufen genug Doktoren herum … Aber zieh dich jetzt an, sonst kommst du noch zu spät zum Essen.»

«Ja … so geh du jetzt!» befahl er scherzhaft und drehte sie an den Schultern der Tür zu. «Hinaus!»

«Jaja, wird sich wohl machen!» rief sie heiter, entwand sich ihm und versorgte noch ein Wäschestück.

Er begann mit ihr zu raufen wie ein kleiner Junge und drängte sie allmählich zur Tür. Sie wehrte sich belustigt, kreischte unter seinen Griffen ein wenig auf und teilte ihm Püffe aus, dann schlüpfte sie hinaus und eilte mit einem glücklichen Lachen rasch und leicht die Treppe hinab.

5

Ammann begab sich in die Dufourstraße zu Stockmeier, kurz nachdem ein Regiment seiner Brigade den Wiederholungskurs ohne den Füsilier Paul Ammann angetreten hatte, und die Stelle am Graberschen Institut nach einem freundlich gewährten Aufschub besetzt worden war. Er ging im Zivilleben grundsätzlich zu Fuß, um sich Bewegung zu schaffen, und trat nach einem halbstündigen Gang neben Stockmeiers Lebensmittelgeschäft durch die Haustür, entschlossen, auf Paul keine Rücksicht mehr zu nehmen und die Wohnung im zweiten Stock endgültig zu mieten.

Er wurde von Leo empfangen, dem einzigen Sohn Stockmeiers, einem außerordentlich freundlichen, sorgfältig gekleideten, schon ziemlich fetten Burschen mit vollen Wangen und zurückgekämmtem öligem Haar. «Ich will gleich den Vater rufen, einen Augenblick bitte, Herr Oberst!» sagte Leo lächelnd und verließ die Wohnstube geräuschlos. Nach zwei Minuten schon kehrte er mit dem Bescheid zurück, der Vater werde sogleich kommen. «Darf ich Ihnen etwas anbieten, Herr Oberst?» fragte er eindringlich und erkundigte sich dann, als Ammann dankend ablehnte, nach Fred. «Ich muß in zehn Tagen auch einrücken, mit dem andern Regiment», erklärte er, immerfort lächelnd. «Wir haben zusammen die Rekrutenschule gemacht und ich hätte mit ihm auch in die Unteroffiziersschule einrücken sollen, aber dann war ich leider geschäftlich verhindert. So sind wir dann auseinandergekommen. Ich hoffe aber, daß ich die Schule im Frühling machen und dann im Sommer in die Aspirantenschule einrücken kann.»

«Soo, das ist recht, das kann Ihnen nichts schaden!» antwortete Ammann wohlwollend und etwas scherzhaft. Er hielt diesen Leo nicht gerade für einen auserwählten Soldaten und zweifelte einigermaßen an seiner Eignung zum Offizier, doch er besaß in diesen Dingen eine weitherzigere Auffassung als gewisse Herren von der Instruktion. Der junge Mann da mochte es immerhin versuchen.

«Ja, ich habe Freude am Militär», sagte Leo und fuhr dann fort, in einer so liebenswürdig aufdringlichen Art seine Dienstwilligkeit zu bezeugen, daß sein hoher Vorgesetzter ihn schließlich nach andern Dingen fragte.

Indessen erschien sein Vater, und sogleich zog sich Leo mit einem gewinnenden Lächeln und einer leichten Verbeugung diskret zurück.

Stockmeier, ein untersetzter, fester, kurzhalsiger, sehr beweglicher Fünfziger mit einer hübschen Glatze, aber im Nacken mit Haaren bis über den Kragenrand hinaus, erschien ebenfalls lächelnd; sein rundes Gesicht mit der knolligen Nase und den leicht zugekniffenen Augen besaß einen gewitzten, beinahe schlauen Ausdruck, der sich auch diesem Lächeln mitteilte, ohne es in seiner arglosen Freundlichkeit zu entstellen. Wie er in seinen Hausschuhen rasch und federnd auf Ammann zuging, mit einem erfreuten «Soo, grüezi, Herr Oberscht», rieb er noch verbindlich die Hände, nickte grüßend und streckte ihm die rundliche Rechte hin.

Als er den Zweck von Ammanns Besuch ohne Umschweife erfuhr, nahm sein Lächeln ein wenig ab, ohne ganz zu verschwinden, er hob die Brauen und setzte sich mit einem Ausdruck zuvorkommender Bereitschaft dem Besucher gegenüber.

Ammann selber zeigte eine leutselig heitere Miene, bewahrte aber jene Zurückhaltung, die er im Verkehr mit einfachen Leuten seinem öffentlichen Ansehen und seiner Stellung schuldig war. Stockmeier spürte diese Zurückhaltung genau, fand sie aber angemessen und benahm sich am Ende der friedlichen Verhandlung beinahe untertänig.

Sie wurden einig, der hohe Besucher mietete die Wohnung und nahm leutselig Abschied, Stockmeier öffnete ihm die Türe, half ihm draußen in den Überzieher und begleitete ihn bald zur Rechten, bald zur Linken, wie es sich eben ergab, eifrig und dienstbeflissen auf die Straße hinaus.

Ammann fühlte sich durch dieses Verhalten des Mannes geschmeichelt, doch nur an der Oberfläche. Er kannte diese Art von Bürgern; solange man ihr Vertrauen besaß, von ihnen gewählt wurde und ihre Interessen vertrat, war man ihr großer Mann, aber sobald man ihnen in die Quere kam, sank man unweigerlich in ihrer Achtung und konnte bei allen Verdiensten öffentlich aufgefordert werden, ihnen, schonend umschrieben, den Hobel auszublasen. Dies alles bildete für einen Volksvertreter noch keinen Grund zur Verachtung, man war daran gewöhnt.

Er überschritt die Seefeldstraße, bog in einen vom Verkehr unberührten Weg ein und stieg gemächlich den erst teilweise überbauten Riesbacher Hang hinan, um da oben ein zweites, nicht so wichtiges und dennoch viel schwierigeres Geschäft zu erledigen. Das Haus, dem er zustrebte, war schon von weitem zu sehen, ein nicht sehr geschmackvoller, aber solider und eigenwilliger Bau mit einer Gartenterrasse am Abhang, das Haus seines Schwagers und Divisionskommandanten Boßhart. In diesem Hause hatte er als junger Leutnant seine Frau kennengelernt, die Verbindung mit diesem Hause war für die Anfänge seiner Laufbahn entscheidend gewesen und hatte schließlich auch das Schicksal Gertruds bestimmt, seiner Tochter, die ihrem Gatten Albrecht Hartmann, einem Instruktionsoffizier, hier zum erstenmal begegnet war. Dennoch betrat er dieses Haus nur noch aus triftigen Gründen; er ging lieber nicht zu Boßhart, wenn er es vermeiden konnte. Diesmal handelte es sich um seinen Schwiegersohn Hartmann, der auf Neujahr 1914 das Kommando des Regiments erhalten sollte, das eben jetzt im Wiederholungskurs stand. Er war nicht damit einverstanden, es gab noch andere Lösungen.

Vor dem Hause hielt irgendein Dienstwagen, die Ordonnanz ging rauchend auf und ab, und im Hausgang hingen über den Säbeln zwei Majorsmützen von Artilleristen. Er ließ sich durch das Mädchen sogleich anmelden, betrat den Salon und war darauf gefaßt, eine halbe Stunde lang warten zu müssen. Aber kaum hatte er sich mit einer militärischen Zeitschrift an ein Fenster gesetzt, als der Divisionär durch eine Nebentür eintrat.

Boßhart war größer als Ammann, aber ebenso beleibt, doch stand dieser sozusagen zivile Umfang in keinem schlechten Verhältnis zur ganzen Gestalt, die in ihrer Breite und Mächtigkeit fast bedrückend wirkte. Eine solche Gestalt ist bei einem gutmütigen, freundlichen oder auch nur lässigen Mann erträglich, aber Boßhart erweckte den gegenteiligen Eindruck, er sah hart, unfreundlich und völlig beherrscht aus. Sein Kinn verschwand in einem kurz zugestutzten, grauen Bart, der sich auf den Wangen so undeutlich verlor, daß man nie genau wußte, ob der Mann rasiert war oder nicht. Eine auffallend schmale, hämisch wirkende Nase mit weiten dünnen Nüstern und zwei durchdringend klare, sachlich blickende Augen nahmen seinem Äußern schließlich jede Spur von Humor und Leutseligkeit. Es gab unter den rund zwanzigtausend Männern der Division vermutlich kaum einen, der ihn liebte, er wurde höchstens gefürchtet; dennoch besaß er das Zutrauen der ganzen Division in einem Maße wie keiner seiner Vorgänger.

Dieser Mann, seiner Stellung nach übrigens in jedem andern Lande vom Rang eines aktiven Generals, trat hier nun einem seiner Brigadekommandanten entgegen, der zudem sein Schwager war, aber nicht das geringste Zeichen von Wohlwollen erhellte seine Miene. Er gab Ammanns Gruß zurück und fragte knapp nach seinem Begehren.

«Ich möchte etwas mit dir besprechen, aber nachher», antwortete Ammann mit einer abwinkenden Handbewegung. «Du hast Artilleristen in Arbeit, wie ich gesehen habe, ich kann warten.»

«Das geht zu lange!» erwiderte Boßhart. «Es handelt sich um die kombinierte Brigadeübung im Unterland. Sie wissen nie, was sie hinter der Infanterie mit ihren Kanonen anstellen wollen. Von einem Zusammenspiel ist noch keine Rede … Also was ist los?» Seine Stimme klang einförmig, hart, klar, und wie immer beim Sprechen flog ihm ungewollt ein bissiger Zug um den Mund.

«Jaa … es ist wegen des Kommandowechsels», begann Ammann nach kurzem Zögern in einem mißlaunigen Ton. «Ich kann nicht für Hartmann eintreten … Es wird noch ein anderes Regimentskommando frei, und außerdem werden zwei Bataillonskommandanten befördert, von denen mir der eine, Meister, genau bekannt ist … ich hatte ihn damals schon als Kompagniekommandanten in meinem Bataillon und möchte ihn jetzt für das Regiment haben.»

«Was hast du gegen Hartmann?»

«Nichts Besonderes, aber er ist nicht mein Mann, obwohl er mein Schwiegersohn ist. Außerdem ist er unbeliebt.»

«Bei den Liberalen?»

Ammann schob mit gelassen verurteilender Miene die Unterlippe vor, ohne zu antworten; er kannte Boßharts Sticheleien gegen das Parteiwesen und gewisse andere Erscheinungen des politischen Lebens zu gut, um darauf einzugehen.

«Hartmann kann nicht ewig auf ein Kommando warten», erklärte Boßhart, ohne sich zu regen, «und Meister kommt vorläufig zum Divisionsstab. Den andern Herrn haben wir untertänigst der betreffenden hohen Kantonsregierung zur Verfügung zu stellen. Befehl von Bern. Nächstens werden die Regierungsräte ihre Truppen selber führen. Sonst noch etwas?»

«Nein!» antwortete Ammann mit militärischer Schärfe, obwohl er über den laufenden Wiederholungskurs und den gleich darauf beginnenden seines andern Regiments noch einiges zu fragen und zu melden hatte. Er nahm Abschied, knapp und kühl wie ein ungerecht behandelter junger Hauptmann.

 

«Immer derselbe!» dachte er, während er mit erzwungenem Gleichmut das Haus verließ. «Er bringt es nicht fertig, mit seinesgleichen auf eine menschenwürdige Art zu verkehren. Ein unausstehlicher Kerl, und wenn er noch einmal so tüchtig und noch einmal so gerecht wäre!»

Er schlug sich die Angelegenheit samt dem Divisionär aus dem Kopf und dachte auf dem Heimweg an andere unerledigte Dinge, so wie sie ihm eben einfielen, und es war ein ganzer Schwarm. Obwohl er seine Anwaltspraxis aufgegeben hatte, führte er ein sehr tätiges Leben. Parlamentstagungen in Bern, Fraktions- und Kommissionsberatungen, parteipolitische Aktionen, Verwaltungsratssitzungen, Brigadesorgen und taktische Kurse nahmen ihn fortwährend in Anspruch.

Indes er nun an einen seiner Fraktionskollegen dachte, trat ihm aber plötzlich die brutale Gestalt des Divisionärs wieder vor Augen. Jener Kollege hatte eines fröhlichen Abends scherzhafterweise angedeutet, mit einem Divisionär als Schwager sei es leicht, militärisch vorwärtszukommen. Er lächelte bitter bei diesem Gedanken. Als ob Boßhart ihn jemals ernstlich begünstigt hätte! Das Gegenteil wäre leichter zu beweisen gewesen. Nein, der Oberstbrigadier Ammann hatte alles sich selber zu verdanken, seiner eigenen Energie, seiner Intelligenz, seiner Fähigkeit zu klaren Dispositionen, seiner glücklichen Hand und schließlich, warum nicht, auch seinem menschlichen und bürgerlichen Ansehen. Dabei war er kein so ruppiger Kerl geworden, sondern ein menschenfreundlicher, demokratischer Mann geblieben, der seine Untergebenen achtete. Solche Männer hatte die Schweizer Armee nötig. Man konnte die hohen Führerstellen nicht ausschließlich Berufsoffizieren überlassen.

Mit diesem Boßhart hatte es freilich eine eigene Bewandtnis. Er besaß nichts von jenem Instruktorendünkel, in dem sich ein paar jüngere Herren gefielen, er gebärdete sich nicht einmal preußisch, wie Hartmann mit seiner Potsdamer Dienstzeit. Wenn er in diesem Sinne wenigstens ein Preuße gewesen wäre! Aber er war etwas ganz anderes, es ließ sich schwer begreifen was, und er besaß eine unheimliche Autorität. Sicher war nur, daß ihm jedes humane Gefühl abging, nicht zu reden von Leutseligkeit oder gar von Gemütlichkeit, obwohl er auch kein Asket war, sondern im Gegenteil gern gut aß, sogar schwere Mengen und, wenn es darauf ankam, ohne zu wanken den ganzen Divisionsstab unter den Tisch trank.

Ammann konnte diesen Mann nicht verstehen, er hatte ihn nie verstanden. «Er ist ein Unmensch, ein Scheusal!» dachte er und betrat verärgert sein schönes Haus.

6

Paul war endlich heimgekehrt, von der Mutter herzlich empfangen, vom Vater in einem kühlen, vorläufigen Tone kurz begrüßt, und jetzt trat er seit langer Zeit zum erstenmal wieder gemeinsam mit den Eltern zum Mittagessen an. Er war etwas kleiner als Fred, doch ebenso schlank, und glich in der Form seines intelligenten, magern Gesichtes am ehesten der Mutter; nur Severin, der Älteste, besaß Vaters Züge, während Fred mit seinem Knabengesicht überhaupt niemandem glich. Einigermaßen auffallend an Paul war seine müde Haltung, die auch in seiner Miene zum Ausdruck kam, doch konnte man im ersten Augenblick zweifeln, ob diese Müdigkeit echt oder gespielt war; sie hing kaum mit diesem gesunden, geschmeidigen Körper zusammen, war aber freilich echt und wurde nur vielleicht ein wenig unterstrichen. Mit lässigen Bewegungen nahm er am Tische Platz und ließ sich von Mama Suppe in den Teller schöpfen.

«Das ist ja gar nichts, da, noch einen halben Löffel voll!» sagte Frau Barbara liebevoll aufbegehrend, als er ihr den Teller entzog. «Du siehst ja aus, als ob du hättest hungern müssen. Hier wird jetzt wieder gegessen!» Sie sprach lebhaft und viel, und sie war entschlossen, die Spannung zwischen Vater und Sohn während des Essens entladen zu helfen, damit die beiden nicht am Ende unter vier Augen erst recht alles verdarben.

Paul erwartete die Auseinandersetzung ohne Angst, aber mit einem unbehaglichen Gefühl, und auch er wünschte sie eben jetzt herbei. Er hatte sicher damit gerechnet, zu Hause auf diese dicke Luft zu stoßen, sie gehörte zum Bilde des Vaters, in dessen Umgebung er nicht frei atmen zu können meinte. Es war die träge Luft eines engen Raumes, die von satten Bürgern ängstlich vor jedem frischen Zuge bewahrt wurde, die Luft seines Landes. Mama dagegen ragte für ihn über diesen Dunstkreis hinaus ins Menschliche, Mütterliche; er verehrte sie schweigend, er liebte sie, und dankbar spürte er jetzt ihren Beistand.

Ammann aß mit unfreundlicher Miene schweigend seine Suppe und vermied alles, was die Lage vorzeitig hätte entspannen können. Er wollte den eigenmächtigen jungen Herrn gleich nach dem Essen vornehmen und ihm gründlich die Meinung sagen. Dies war ihm nun fast ebenso peinlich wie seinem Sohn, und als seine Frau mit wenigen Worten die faule Sache angriff, ging er wider seinen eigenen Vorsatz darauf ein.

«Wir haben dich übrigens schon längst erwartet», begann Frau Barbara sehr entschieden. «Du hättest etwas früher heimkommen dürfen … Warum hast du nur so lange gewartet?»

Jetzt blickte Ammann mit streng forschender Miene seinem Sohn zum erstenmal voll ins Gesicht.

Paul machte eine müde Kopfbewegung, hob ein wenig die Achseln und sagte: «Ach …!» Das war alles. Er hätte leicht ein Dutzend glaubwürdiger Entschuldigungen finden können, aber es widerstrebte ihm, sich zu verstellen.

Der Vater antwortete nach kurzem Zögern mit einem kargen, aber scharfen Verweis und verharrte in seiner geladenen Haltung.

«Wenn du dich wenigstens für die Lehrstelle angemeldet hättest!» fuhr die Mutter fort. «Papa hat sich alle Mühe gegeben …»

Paul blickte die Mutter mit einem Ausdruck an, der ihm eigentümlich war, mit einem gequälten Lächeln, das um Schonung bat und zugleich offenbarte, wie nebensächlich oder gar langweilig ihm diese ganze Geschichte vorkam. «Ich kann doch nicht als Einpauker beginnen», sagte er leise. «Das ist widerwärtig … diese Schnellbleichen … Ich habe ja nichts gegen eine Anstellung, aber …» Jetzt log er doch, er hatte sehr viel dagegen; im selben Augenblick wurde ihm das bewußt, und er verstummte.

Die Mutter machte noch ein paar flüchtige Bemerkungen über die Notwendigkeit, daß man heutzutage halt schließlich einen Beruf ausüben und seinen Lebensunterhalt verdienen müsse; plötzlich aber gab sie dem Gespräch eine familiäre Wendung und drängte ihrem Manne sowohl wie Paul mit derart vertraulichen Zusprüchen noch einen Bissen vom Fleischgericht auf, als ob die verstimmende Angelegenheit ihre wirklichen Beziehungen gar nicht zu berühren vermöchte.

Indessen war Ammann nicht gewillt, es dabei bewenden zu lassen; er hielt den Trumpf, den er gegen den widerspenstigen jungen Herrn auszuspielen hatte, noch in der Hand. Sofort nach dem Essen erhob er sich und sagte leichthin, als ob ihm das nun eben so einfiele: «Am nächsten Montag beginnt dann übrigens noch ein Wiederholungskurs. Du wirst vom Kreiskommando ein persönliches Aufgebot dazu erhalten.»

«Ich habe doch Auslandsurlaub!» erwiderte Paul ein wenig auffahrend und ziemlich ärgerlich, aber Papa ging nun wortlos in sein Büro.

«Ach weißt du, das kann dir nichts schaden!» sagte die Mutter, während sie ein Fenster öffnete. «Diese vierzehn Tage … das tust du mir zulieb, und nachher ist auch Papa wieder zufrieden.» Als sie seine leidend verzogene Miene und unentschiedene Haltung gewahrte, ging sie rasch auf ihn zu und führte ihn am Arm hinaus. «Komm, wir gehen noch ein wenig in den Garten!»

Auf der Treppe blieb er stehen und sagte leise: «Ich möchte am liebsten gleich wieder abfahren. Ich ersticke hier …»

«Ach was, jetzt bleibst du da!» erwiderte sie bestimmt, drückte seinen Arm an sich und zog ihn weiter. «Solange wir noch hier wohnen, laß ich dich nicht mehr fort. Im Frühling ziehen wir aus. Das Haus ist verkauft. Auf Abbruch!»

Er blieb wiederum stehen. «Verkauft?» fragte er.

«Jaja, ich hab’ dir doch geschrieben, daß es dazu kommen werde», antwortete sie in einem so selbstverständlichen Tone, als ob es sich um das Alltäglichste handelte.

«Das ist nicht schlecht!» sagte er nachdenklich, während er neben ihr in den Garten hinausschlenderte, und gleich darauf begann er bitter zu grinsen. «Das sieht ihm ähnlich! Er hat nie gewußt, was er hier besaß, und daß es so etwas nicht zum zweitenmal gibt.»

Jetzt blieb die Mutter stehen. «Du hast gut reden», begann sie und schüttelte kräftig abweisend den Kopf. «Du weißt nicht, was uns dies alles gekostet hat, und was Papa dafür angeboten worden ist. Vor zehn, fünfzehn Jahren hat man sich das noch leisten können, aber heute, mitten in einem Geschäftsviertel …» Sie zählte ihm alle Gründe auf, die zum Verkauf geführt hatten, und schien mit Überzeugung ganz auf der Seite ihres Mannes zu stehen.

Paul ließ sich nicht überzeugen, er lächelte ironisch ergeben, aber am Ende sagte er, von einem andern Standpunkt aus allerdings, mit einer lässig abwinkenden Handbewegung: «Ach, schließlich ist es ja egal! Es geht sowieso alles dahin, und es hat keinen Zweck, in dieser Zeit noch etwas zu konservieren. Mir kann es jedenfalls egal sein.» Als die Mutter daraufhin mit enttäuschtem Ausdruck schwieg, nahm er ihren Arm. «Aber deinetwegen tut es mir leid, Mama!» sagte er aufrichtig. «Du hast doch hierher gehört! Für dich wird es nicht so leicht sein …»

«Nein, leicht ist es nicht!» erwiderte sie knapp. «Wir kommen in eine Mietswohnung, vorläufig.»

Sie gingen in der Wärme des klaren Mittags auf dem mittleren Weg über zerstreutes Herbstlaub bis zum spitz auslaufenden Ende des Gartens, wo man durch halbkahles Gesträuch zur Linken den grauen Asphalt der Straße und eilige Arbeiter gewahrte, die nach der Mittagspause in ihre Fabriken zurückkehrten. Aus der Gruppe, die eben daherkam, blickte ein breitschultriger Bursche zu ihnen herein; sie sahen plötzlich durch die Gitterstäbe sein verächtlich spähendes, dunkles Gesicht und hörten auch die häßliche Bemerkung, mit der er sich wieder den übrigen anschloß.

Schweigend kehrten sie um.

7

Frau Barbara ging aus, um Besuche zu machen. Früher hatte sie in einem solchen Fall anspannen lassen und sich in die Equipage gesetzt, doch in den Jahren des zunehmenden Autoverkehrs war das auffällige Gefährt abgeschafft worden; für ein Auto hatte Ammann sich inzwischen noch nicht entschließen können. Sie ging aber gern zu Fuß und fand es in Ordnung.

In der Dufourstraße trat sie neben einem Lebensmittelgeschäft durch die Haustür und wurde in der Stockmeierschen Wohnung vom Hausherrn mit überaus freundlicher Ehrfurcht begrüßt.

«Ja, also es tut mir außerordentlich leid, Frau Oberst», sagte Stockmeier, «aber es ist eine Fünfzimmerwohnung, nicht wahr, und ich kann da wirklich nichts machen …»

«So!» sagte Frau Barbara, die mit Stockmeier in dieser Angelegenheit ohne Erfolg telefonisch verkehrt hatte, und blickte bekümmert an ihm vorbei.

«Nicht wahr», fuhr Stockmeier fort, «das Separatzimmer im ersten Stock hier bewohnt mein Sohn, und … he he he …»

«Jaja, Sie können ihn nicht hinauswerfen, das ist selbstverständlich, aber … Sie haben mir noch von einem mittleren Mansardenzimmer gesprochen …»

«Jaa, Frau Oberst … zu Ihrer Wohnung gehören zwei Mansarden und eh … die mittlere Mansarde ist der größte Raum im Dachstock, ich könnte da nicht ohne weiteres … ja, ich habe doch mit dem Herrn Oberst fest ausgemacht, nicht wahr, für eine Fünfzimmerwohnung mit zwei Mansarden …»

Erst jetzt begriff Frau Barbara Stockmeiers Widerstand; dieser vorsichtige Geschäftsmann war also der Meinung, man versuche für sein Geld noch etwas mehr zu bekommen, als man vertragsmäßig erwarten konnte. Sie hatte nie daran gedacht und sagte ziemlich barsch: «Ich muß ein Zimmer mehr haben und werde Ihnen die Miete dafür besonders bezahlen.»

«Jaa, Frau Oberst, daas ist etwas anderes», antwortete er geschäftig. Er suchte sich also nicht einmal zu verstellen, und Frau Barbara blickte ihn beleidigt von oben herab an. Nach der bedächtig zögernden Erklärung, daß er die mittlere Mansarde bisher als Lagerraum benutzt habe und sie nicht einfach so hergeben könne, da es ihm überall an Platz fehle, ging er mit Vorbehalten darauf ein, und in wenigen Minuten hatte Frau Barbara das Mansardenzimmer gemietet.

Sie machte sich wieder auf den Weg, kaufte in einem Spielwarengeschäft einen aufrecht stehenden Bären und setzte sich schließlich doch in ein Mietauto, mit dem sie gegen Hottingen hinauf zu ihrer Tochter fuhr.

Das Haus, ein noch ziemlich neuer, herrschaftlicher Bau in etwas undeutlichem Stil, lag erhöht in einem kleinen Garten, durch den man auf einem Seitenpfad zum Haupteingang gelangte. Frau Barbara schritt durch die mit Marmor bekleidete kühle Halle freundlich nickend am Mädchen vorbei, das ihr geöffnet hatte, und wurde mit einem «Endlich!» von ihrer Tochter empfangen, die ihr langsam die Treppe hinab entgegenkam, langsamer, als sie es von Gertrud erwartete. Während sie Hut und Mantel ablegte und vor einem Spiegel flüchtig ihr Haar ordnete, befahl Gertrud dem Mädchen, den Tee anzugießen, dann betraten die Frauen das Wohnzimmer, einen behaglichen weiten Raum mit einem braunroten Perser, der einen bemalten Kachelofen, den Flügel, ein eichenes Büffet und die überall verteilten Blumen willig in seinen herbstlich warmen Ton aufnahm; nur der kleine, weißgedeckte Teetisch in der Ecke vor dem Sofa entzog sich ihm freundlich.

 

«Seit mehr als einer Woche bist du nicht mehr dagewesen, Mama», sagte Gertrud mit halb ernstlichem, halb scherzhaft kindlichem Vorwurf. Sie war so groß wie die Mutter, nur schlanker, biegsamer, aber nicht mager, eine stattliche Gestalt in einem unauffälligen Hauskleid. Ihr dunkelbraunes Haar floß in wenigen Wellen gelockert nach hinten in einen tiefsitzenden Knoten zusammen, ihr Gesicht war anziehend eigenwillig, ihre bräunlichen Augen hatten einen klugen, vertrauenerweckenden Blick.

«Ja, was meinst du, ich kann daheim auch nicht immer weglaufen», antwortete die Mutter und zählte rasch ein paar Gründe dafür auf, dann fragte sie, gesammelt und eine mehr als oberflächliche Antwort erwartend: «So, wie geht’s?»

«Hm!» machte Gertrud und zuckte die Achseln.

Die Mutter blickte sie forschend an, und wohl niemand außer ihr hätte in diesem aufgeschlossenen, jugendlich frischen Frauenantlitz so genau bestätigt gefunden, was sie vom ersten Augenblick des Wiedersehens an gespürt hatte, nämlich, daß es ihrer Tochter ohne ersichtlichen Grund noch immer an all dem Schwung und der Spannung fehlte, die sie sonst zu jeder gesunden Stunde selbstverständlich geäußert hatte. «Du siehst einfach schlecht aus», sagte sie vorwurfsvoll. «Nach zwei Monaten sollte man sich anders erholt haben.»

«Ach, Mama … ich habe mich wirklich erholt …»

«So geh doch mehr an die frische Luft! Reitest du denn nicht mehr?»

Gertrud schüttelte kurz und entschieden den Kopf, so entschieden, als ob sie überhaupt nie mehr zu reiten gedächte.

«Früher hast du den ganzen Sommer durch Tennis gespielt und bist fast jeden Tag ausgeritten … das hat dir doch so gut getan … man kann nicht nur immer daheim sitzen, Bücher lesen und Klavier spielen …»

Das Mädchen kam mit dem Teebrett, Gertrud erhob sich, nahm ihm die Kanne ab und ordnete den Tisch, während Frau Barbara leise ins Nebenzimmer ging und sich über die Kinder beugte, einen Knaben und ein achtwöchiges Mädchen, die in ihren Bettchen schliefen. Dem Knaben legte sie vorsichtig den Bären auf die Bettdecke. Gleich darauf trat Gertrud neben sie, die zwei Frauen blickten sich einen Augenblick lächelnd an und betrachteten dann mit demselben freudig gerührten Ausdruck den kleinen Schläfer, der ruhig atmend auf dem Rücken lag. «Er wird gleich erwachen», flüsterte Gertrud und zog sich zurück.

Frau Barbara trat zögernd vom Bette weg und schaute flüchtig noch einmal zum Mädchen hinüber, dann blieb sie in einer Ecke des Zimmers vor einem Diwan stehen, den sie hier noch nie bemerkt hatte, hob prüfend seine schwere, goldbestickte Decke und stutzte; unter der Decke erschien Gertruds feines, leinenes Bettzeug. «Wer schläft denn hier?» fragte sie aufblickend.

Gertrud, die schon unter der Tür stand, antwortete unsicher, mit einer Miene, die alles verriet, mit einem müden, hilflos verlegenen Lächeln: «Ich!»

Die Mutter kniff den Mund zusammen und setzte sich mit dem Ausdruck beleidigten Erstaunens an den Teetisch. «Man muß auch nicht gleich zu weit gehen», sagte sie verurteilend. «Ich habe mit Papa früher manchen Streit gehabt, aber deswegen bin ich ihm nie davongelaufen. Nicht häufiger als Albrecht daheim ist …» Sie schüttelte energisch den Kopf.

Gertrud goß umständlich Tee in die Tassen, während sie langsam die Fassung verlor. «Ich streite ja gar nicht mit ihm», erwiderte sie tonlos und setzte sich steif auf das Sofa neben die Mutter; ohne daß sie es verhindern konnte, überliefen ihr die feuchten Augen.

Frau Barbara blickte betroffen auf, dann zog sie die Tochter zu sich heran, und Gertrud barg schluchzend das Gesicht an ihrer Schulter.

Die Mutter blieb lange stumm, halb aus Absicht, halb aus Ratlosigkeit. Endlich aber bat sie leise, in dem behutsamen, raunenden Tone, den nur ihre Kinder kannten: «Du, sag’ es mir, rede!»

Gertrud konnte über das lang Verschlossene nicht so rasch reden, es schien ihr viel zu schwierig, und so begnügte sie sich damit, Mamas schonende Fragen bald zu verneinen, bald mit wenigen Worten undeutlich zu beantworten.

«Bist du auf jemand eifersüchtig?»

Gertrud schüttelte den Kopf.

«Quält er dich?»

«Jetzt nicht mehr!»

«Hm … ich habe Albrecht immer für einen ritterlichen Mann gehalten.»

«Ja … aber er ist nur ein Mann, immer nur der Mann …»

«Ja, Kind, du hast doch mit offenen Augen geheiratet … ein Berufsoffizier, mein Gott, du warst ja vernarrt in ihn, aber du mußt ihn doch gekannt haben …»

«Ja … aber mich nicht!»

Während die Mutter abermals verstummte, richtete Gertrud sich auf und schaute dann, schlaff zurückgelehnt, mit verschleiertem Blick hoffnungslos vor sich hin.

«Weißt du», begann Frau Barbara wieder und ergriff Gertruds Rechte, die kraftlos neben ihr auf dem Sofa lag, «manchmal ist man halt selber auch nicht ganz ohne Schuld … aber wenn man sich ausspricht und beide den guten Willen haben, einander zu verstehen, dann, sollte man wahrhaftig meinen …»

«Mama, ich habe alles versucht … aber … er hat so gar keinen innern Kontakt mit mir … ich lebe wie in einer andern Welt, und ich kann ihm das lange begreiflich machen … er versteht es nicht oder will es nicht verstehen … und dann kommt er doch immer und … und verlangt von mir … ohne Rücksicht …» Sie wurde wieder von innen her geschüttelt, legte die Stirn plötzlich noch einmal an Mamas Schulter und schluchzte laut: «… und ich kann doch nicht, ich kann es doch nicht!»

Die Mutter schwieg. Ihr Gesicht, das den stolz beherrschten Ausdruck sonst wie gestempelt trug, schien von allem Bewußtsein verlassen, ein schmerzlicher Gram, der sich allmählich in Zorn verwandelte, entstellte ihre Züge. Das Elend all der brüchigen Ehen, die sie aus eigener Anschauung kennengelernt oder aus Gesprächen erfahren hatte, stieg vor ihr auf, mit all den unaussprechlich beschämenden Folgen, die sich in jedem Fall ergaben, aus stumpfer Duldung, dauerndem Streit oder endlicher Scheidung; sie war ihm überall begegnet, kopfschüttelnd, verurteilend, mit erhobenem Kinn. Daß nun ihre eigene, liebevoll und sorgfältig erzogene Tochter nicht dem selbstverständlichen Glück in die Arme gelaufen sein sollte, sondern diesem Elend, war eine überraschende und furchtbare Enttäuschung, sie fand es kaum glaublich, und es machte sie wütend.

Inzwischen wurde der Tee vor ihnen kalt, und im Zimmer nebenan erwachte der Kleine. Er schlug die Augen auf, lauschte ein wenig, kroch unter der Decke hervor und entdeckte den Bären. «Es Bärli!» sagte er lächelnd, ergriff ihn und kletterte damit aus dem Bett. Freudestrahlend, den unverhofften Fund weit vor sich hingestreckt, um ihn Mama so rasch wie möglich zu zeigen, trippelte er im Hemd ins Wohnzimmer hinüber. Dort aber stutzte er befremdet und senkte das Ärmchen.