Schweizerspiegel

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Als sie aber nach dem Abschied mit Albin und den Brüdern auf die beleuchtete Straße hinaustrat, stürzte sofort wieder die ganze heillose Wirklichkeit auf sie ein.

Sie drückte den Brüdern flüchtig die Hand, beteuerte noch einmal, daß sie zu Fuß nach Hause gehen wolle und wurde von atemhemmendem Herzklopfen befallen, weil sich jetzt sogleich entscheiden mußte, ob Albin sie begleiten oder verlassen werde. Indessen nahm sie von ihm nicht Abschied, sondern blickte ihn an, ohne sich zu gestehen, daß sie ihn damit zur Begleitung geradezu aufforderte. Der eben noch Unentschiedene bat denn auch wirklich darum. Um ihre Erregung zu verbergen, begann sie, nachdem sie freundlich dankend angenommen hatte, sofort von gleichgültigen Dingen zu reden.

Albin war nach dem unvermittelten Ende jenes Gespräches vor dem Bücherschrank und dem darauffolgenden Abschied, bei dem, wie er meinte, Gertrud ihm die Hand verweigert hatte, zur Überzeugung gekommen, daß die junge Frau sich jede mehr als freundschaftlich-gesellige Annäherung verbitten werde. Er hatte es selbstverständlich gefunden und sich trotz seinem absichtlosen Verhalten geschämt, daß er zu weit aus sich herausgegangen war. Mit dem unbedingten Anstand des völlig lautern Menschen und mit seinem besonderen Stolze hatte er beschlossen, das zweifellose Recht Hartmanns auf die ungeteilte Liebe seiner Frau mit keinem Gedanken anzutasten, die Frau selbst unmerklich zu meiden und mit seinen Gefühlen allein fertig zu werden. Während er jetzt, den Geigenkasten unter dem linken Arm, neben ihr dahinschritt, erlebte er die zwiespältigsten Empfindungen; ihre Gegenwart berückte ihn unweigerlich und gaukelte ihm das aufwachende Verlangen wieder als verheißungsvoll und berechtigt vor, obwohl er wußte, daß es hoffnungslos war. Er brannte und es tat weh; aber statt das Feuer zu fliehen, blieb er ihm nahe. Während ihn diese bittersüße Erkenntnis keinen Augenblick verließ, unterhielt er, um seine Befangenheit zu verbergen, mit allem Eifer das von Gertrud begonnene, harmlos nichtige Gespräch.

Sie hatte für den Heimweg die stilleren Straßen gewählt und bog jetzt in einen menschenleeren Weg ein, der sich bei spärlicher Beleuchtung lang auf gleicher Höhe hinzog und zwischen Villen hindurch immer wieder einen Blick hinab auf die Lichter der nächtlichen Stadt gewährte. Dieser Weg kreuzte die Straße, an der sie wohnte; es war nicht mehr weit dahin. «Ach Gott, er kommt mir mit keinem Wort entgegen», dachte sie verzweifelnd, während sie in mattem Tone davon sprach, wie schön es hier am Abend sei, wenn die Stadt da unten im Zwielicht liege.

«Ja, nicht wahr?» antwortete er. «Das habe ich oft erlebt. Wenn die Häuserformen so langsam zurücktreten … jedes neue Licht vertieft die Dunkelheit … und der See hat dann manchmal ganz merkwürdige Färbungen …»

«Ja.»

«Überhaupt, es gibt hier ringsum wundervolle Aussichtspunkte … und die Stadt hat bei jeder Tageszeit ihren besonderen Reiz. Haben Sie schon gesehen, wie sie erwacht, am frühen Morgen?»

«Ja.»

«Ich hab’ es kürzlich gesehen. Sie trat zuerst etwas grau und nüchtern aus der Dämmerung heraus … aber dann lag sie im hellern Licht eine Weile so herrlich still und frisch da unten … das erste Geräusch kam von einem einfahrenden Zug, der mit seinen Lichtern sonderbar übernächtig wirkte … aber fast genau mit der Sonne wurde es laut … Tram, Milchwagen, Hundegebell, allerlei hörte man jetzt, aber gut unterscheidbar, noch nicht als dumpfes Brausen wie untertags … und die Dächer, die höhern Mauern und die Türme strahlten hellgoldig … schön!»

Sie antwortete nicht, aber bei jedem Schritte zögerte sie etwas mehr, und schließlich blieb sie stehen.

Albin verstummte und blickte sie höflich fragend an.

«Ach, ich dachte … ich bin gleich zu Hause …» Sie begann wieder zu gehen. «Ja … könnten wir nicht einmal nachmittags zusammen musizieren? Ich habe mit Paul manchmal Sonaten gespielt, und wenn Sie Lust hätten …?»

«Ich hätte, offen gestanden, wohl Lust», begann er verlegen, «aber … ich kann ja viel zu wenig … es wäre für Sie kein Genuß …» Da sie schwieg, fuhr er fort, sich zu entschuldigen.

«Ist das der einzige Grund?» fragte sie kleinlaut.

«Nein!» antwortete er nach kurzem Zögern, und sowie er das gestanden hatte, entschloß er sich, des Versteckspielens müde, die Wahrheit zu gestehen, wie sie auch wirken möge. Während er aber bis zu diesem Augenblick mit freundlich schüchterner Miene ruhig, klar und folgerichtig gesprochen hatte, brachte er sein Bekenntnis jetzt nur stoßweise und ohne rechten Zusammenhang heraus, wobei er sich nicht an seine Begleiterin wandte, sondern mit angestrengter Sammlung ein aufgeregtes Selbstgespräch zu führen schien. «Nein, der Hauptgrund … der einzige wirkliche Grund ist der, daß ich … Ich bin es Ihnen und Ihrem Manne schuldig, mich zurückzuziehen … und ich tue es auch wegen mir, weil es keinen Sinn hat, mich einem Erlebnis auszusetzen, das mich … ich meine, ich habe ja dies Erlebnis nicht gesucht, ich habe nur auf einmal gemerkt, daß es so ist, daß ich also … daß ich Sie lieb habe …»

Gertrud spürte, wie ihr Körper von einer heißen Welle durchflutet wurde, die ein gleichsam überstürztes Glücksgefühl war und sie zugleich in die ärgste Beklommenheit versetzte. Mit glühendem Gesichte begann sie, rasch und stoßweise durch die geöffneten Lippen atmend, den Schritt so zu beschleunigen, als ob sie ihrem Begleiter davonlaufen wollte. Albin faßte es als Zeichen des Erschreckens und der Mißbilligung auf, aber er blieb an ihrer Seite und versuchte ihr eindringlich klar zu machen, daß er dies alles nur zu seiner Rechtfertigung gestehe und sie in keiner Weise damit zu belästigen wünsche. Erst vor dem Hause, als sie nicht anhielt, sondern, den Schritt wieder mäßigend, die Straße hinab neben ihm weiterging, erkannte er ihre Bereitwilligkeit, ihn anzuhören.

«Ich habe nie daran gedacht, daß mein Gefühl erwidert werden könnte … oder doch nicht im Ernst … das heißt, ich habe nie damit gerechnet», fuhr er fort, schwer bemüht, seine Lage möglichst genau darzustellen, und zugleich verlegen vor Scham über ein so ungewohntes Bekenntnis. «Ich weiß nur, daß Sie mir sehr freundschaftlich gesinnt sind, sonst weiß ich nichts Bestimmtes. Aber angenommen, daß Sie mehr für mich empfinden als Freundschaft … wo könnte das hinführen? In Ihren Kreisen bin ich eine unglückliche Figur, ein Sonderling ohne Besitz und Einkommen … Sie würden mir gegenüber gewisse bürgerliche Hemmungen niemals verlieren … obwohl Sie nach meiner Meinung weit über dem Durchschnitt stehen. Außerdem … ich würde es mit meinem Gewissen nicht vereinbaren können, mich zwischen Sie und Ihren Mann zu drängen. Es käme nichts Ganzes dabei heraus und … ich habe auch meinen Stolz, ich würde verzichten, wenn ich etwas Halbes vor mir sähe. Ich wäre in jedem Fall Ihnen gegenüber nur der Bettler … und Liebe darf kein Almosen sein … Entschuldigen Sie, daß ich mich so ausdrücke, als ob … als ob überhaupt jemals eine Möglichkeit bestanden hätte … aber ich möchte, daß Sie sich über meinen Rückzug ganz klar sind. Ich will jetzt gehen … es hat keinen Zweck, länger darüber zu reden. Gut’ Nacht!» Er streckte zögernd seine Rechte aus. «Und noch einmal, bitte entschuldigen Sie diese …»

Mit mühsam beherrschter Miene blickte sie ihn an, ergriff seine Hand und drückte sie fest, worauf er, verstummend, sich sogleich abwandte, aber nicht den geraden Heimweg auf der weithin sichtbaren Straße einschlug, sondern wie auf der Flucht vor ihrem Blick im nächsten Seitenweg verschwand.

Gertrud kehrte langsam um, von unüberwindlicher Müdigkeit befallen, so langsam, als ob sie hier geduldig auf jemand wartete. «Alles aus!» dachte sie. «Er hat recht, er kann nicht anders handeln … Liebe darf kein Almosen sein … ach Gott, hätte ich ihn doch nicht … warum mußte ich ihn herausfordern! Jetzt ist für mich alles zu Ende … was noch kommt, hat ja keinen Sinn mehr … wozu gehe ich in dieses Haus zurück?» Sie hielt an, nicht wie man freiwillig anhält, sondern allmählich, schleppend, wie aus Erschöpfung, und jetzt, zum ersten und einzigen Mal in ihrem Leben, kam ihr der Gedanke, zu sterben. Aber sogleich erschrak sie davor, wie sie vor dem Gedanken an die Scheidung erschrocken war. Sie dachte an ihre Eltern, an die Kinder, an ihre geliebte Welt, an die schönern Tage ihres Lebens, und wußte, daß sie es niemals freiwillig tun würde. «Nein, nein, es wäre grauenhaft, ich will weiterleben, mag auch alles noch so trüb und sinnlos sein!» dachte sie tief beunruhigt und stieg von der Straße rasch die Stufen zum Garten hinauf.

6

«Es ist ein Unsinn, ich habe keine Ahnung von einem Schützenfest», sagte Paul gequält. Er stand in lässiger Haltung vor seinem Bruder und blätterte angewidert ein paar Drucksachen auf, Schießplan, Festschrift, Programme.

«Ich habe dir schon gesagt», erwiderte Severin und unterbrach seine Arbeit ärgerlich zum zweitenmal, «wir müssen einen Bericht über das Kantonalschützenfest bringen, und wir haben keinen eigenen Berichterstatter dort …»

In diesem Augenblick kam Schmid mit ein paar Papierstreifen eilig aus der Rauchkammer herüber. «Der Text des Ultimatums!» sagte er lächelnd.

«Endlich!» rief Severin in einem Ton, als ob Schmid an der Verzögerung schuld wäre, nahm die Papiere entgegen und begann sie sogleich zu lesen.

«Scharfer Tabak für eine Wiener Note, in Belgrad werden sie einen schönen Schnupfen bekommen.» Mit diesen Worten verschwand Schmid so eilig wie er eingetreten war.

Paul kehrte ebenfalls in die Nebenstube zurück, schmiß die Drucksachen auf einen Haufen anderer Broschüren und setzte sich vor das Manuskript eines von Severin angenommenen Feuilletonromans, zu dem er ein kurzes Vorwort schreiben sollte. Er befand sich in seiner bittersten Stimmung, das heißt, er fühlte sich auf unerträgliche Weise angeödet, und war schon halbwegs entschlossen, weder dies Vorwort zu schreiben, noch das Schützenfest zu besuchen. Während er mit Überwindung weiterlas, kam unerwartet Severin herüber und lief zum Telefonkasten, den er aus seinem Büro hieher verbannt hatte.

 

Severin läutete die Agentur an und bat um die mündliche Wiederholung einer undeutlich geschriebenen Stelle des Notentextes. «Wenn Sie uns schlechte Abzüge schicken, so ist das nicht unsere Schuld», sagte er trocken verweisend, nachdem er die Antwort stenographiert hatte. «Wir haben hier keine Zeit, Rätsel zu lösen. Und hören Sie! Wenn Sie im Verlauf dieser Stunde noch Auslandnachrichten bekommen, so telefonieren Sie doch bitte sofort, nicht wahr!» Er hatte kaum den Hörer angehängt, als er auf Pauls Tisch das Manuskript bemerkte und mit einem zornig erstaunten Ausdruck stehenblieb. «Das ist doch eine verfluchte Schlamperei!» sagte er heftig, ohne seine Haltung zu ändern. «Der Roman sollte längst im Satz sein. Wenn du keine Einleitung zustande bringst, so laß es bleiben!» Damit trat er entrüstet ab.

Schmid sah sich lächelnd nach seinem jungen Kollegen um.

Paul zerdrückte seine Zigarette im Aschenbecher, ohne eine Miene zu verziehen, dann nahm er ein Blatt Papier vom Block und begann entschlossen zu schreiben: «Die bekannte hochverehrte Autorin unseres neuen Romans schildert die Schweiz im Chaletstil. Es geht so recht behaglich, so recht sauber, so recht freundlich zu. Wir zweifeln nicht, daß unsere Leser sich angeheimelt fühlen werden. Das Kleine bleibt klein, das Große auch. Die Vergangenheit wird anhand von Spinnrädern, Schulbüchern und Großmuttermärchen wachgerufen. Sie erwärmt das Herz. Die Gestalten lieben einander und ihr Ländchen. Ein inniges, sinniges, trautes Beisammensein. Vaterländchen! Heimatchen! Schweizlein!» Mit einem saueren Grinsen erhob er sich und begann rauchend durch den engen Raum zu gehen. «Was meinen Sie, Herr Schmid, könnte man sich in München oder Berlin als freier Journalist einigermaßen durchschlagen?»

Schmid blickte freundlich auf, dann kratzte er sich in den Haaren. «Hm … schwierige Sache, am Anfang wenigstens. Man müßte schon mit ganz gerissenen Dingen kommen … Versuchen Sie lieber zuerst, von hier aus Verbindungen anzuknüpfen. Wenn man Sie nicht kennt, werden Sie nicht so rasch ankommen. Übrigens ist die Luft dort faul, warten Sie ab!»

Paul setzte sich von neuem hin und erwog, was er schon dutzendmal erwogen hatte, ob er nicht doch ohne Papas Geld im Ausland leben könnte, dann warf er sein Vorwort in den Papierkorb und trug den Roman in die Setzerei.

Am Sonntag darauf, zu Hause beim Frühstück, fragte ihn Fred scherzhaft, ob er zum Schützenfest mitkomme.

«Zum Kantonal-Schützenfest? Ja, fährst du denn hin? Du, das ist ja ausgezeichnet! Du könntest mir für den ‹Ostschweizer› einen Bericht schreiben, du bekommst …»

«Ich? Du bist ja verrückt!»

«Warum nicht? Du verstehst offenbar etwas davon und könntest …»

«Quatsch! Ich fahre in den Rusgrund. Am Schützenfest liegt mir eigentlich nichts … aber komm’ mit, dann sehen wir uns den Rummel zusammen an!»

«Hm … ich werde dazu genotzüchtigt, weißt du … wenn ich nicht hingehe, schmeißt mich Severin bei der nächsten Gelegenheit hinaus, und dann hab ich Papa wieder auf dem Buckel. Auf die Dauer werde ich allerdings lieber im Ausland Hobelspäne fressen als zum schweizerischen Festberichterstatter versimpeln.»

«Und ich würde bald lieber Hobelspäne fressen als weiterstudieren. Du kannst wenigstens froh sein, daß du fertig bist. Ich habe nicht das Gefühl, daß ich jemals fertig werde …»

«Ach! Man kann ein Jahr lang froh sein, und dann geht eine neue Schweinerei los … Aber du wirst dich doch irgendwie durchschlängeln können?»

«Du hast eine Ahnung! Als Jurist oder Philologe kann man sich schlängeln, bei uns nicht.»

«Aber Naturwissenschaft wäre doch immerhin …»

«Ja, was? Ha! Zuerst kommt eine Wüste, auf der nur Formeln wachsen … es ist zum Verdursten … und nachher spezialisiert man sich auf die Erforschung eines Fliegendrecks. Ich behaupte ja nicht, besonders viel Talent zu haben, aber entweder bin ich ein dummer Löli, oder dann …»

«Nein nein, weißt du … ich könnte dasselbe von mir sagen. Aber es liegt nicht an uns. Es ist ja alles faul … wir sind nicht die Einzigen, die das riechen. Wir sitzen jetzt da so schön bequem beim Morgenessen, nicht wahr … Porzellan, Silberbesteck, Bedienung, warmer Kaffee, Röllchenbutter, frische Gipfel … nichts zu maulen! Mama ist in der Kirche, es lebe die Christenpflicht! Papa ist noch im Nest … hoch die Freiheit! Und jetzt fahren wir also zum Schützenfest. Wir leben im Paradies, mein Lieber! Aber dieses Paradies stinkt zum Himmel, und wer eine etwas feinere Nase hat, der hält es nicht mehr aus. So liegt die Sache.»

Fred rollte die Serviette zusammen, steckte sie in den Ring und erhob sich lächelnd, ohne zu antworten. Er kannte Pauls Ansicht in dieser Beziehung und hörte sie nicht ungern, sie rechtfertigte auch ihn, doch er traute ihr nur halb und war geneigt, allenfalls ein Teilchen der Schuld, mit der man in Literatenkreisen die Zeit belud, auf sich zu nehmen. «Wir müssen gehen, du! Ich hole noch schnell den Koffer … ich bleibe ein paar Tage im Rusgrund.»

Als die zwei unzufriedenen Brüder sich dem Bahnhof näherten, drang ihnen der rauschende Marsch einer Blechmusik entgegen, die auf dem freien Platz neben dem Gebäude spielte. Die Julisonne strahlte schon mittägliche Wärme aus dem wolkenlosen Himmel. Der Bahnhof war von aufgeräumt plaudernden und lachenden Schützen dicht besetzt.

«Ein prächtiger Morgen!» höhnte Paul. «Es ist ja vorauszusehen, was sich weiter entwickeln wird. Radau, Schweiß und Blechmusik. Wenn du einverstanden bist, nehmen wir Zweite.»

Ein langer Zug fuhr ein, und die Masse der Schützen ging über ein freies Geleise hinweg zerstreut auf die Wagen los. Die Brüder bestiegen ganz hinten ein leeres Abteil zweiter Klasse, aber sie hatten sich kaum niedergelassen, als vom Nachbarwagen her lärmender Andrang einsetzte und ein beleibter Mann die Schiebetür aufriß. «Oha, Zweite!» sagte der Mann wohlgelaunt in tiefem Baß und blieb zögernd stehen, aber die Nachdrängenden schoben ihn vorwärts, besetzten das Abteil unbedenklich und legten ihre Gewehre der Länge nach, den Sitzraum überbrückend, auf die Netzstangen. Neben Paul nahm ein magerer, spitznasiger Sportsmann in Kniehosen Platz, neben Fred ein mürrisch blickender, einfacher Mann mit buschigem Schnurrbart, zwei offenbar ernstlich beflissene Schützen, die auf der ganzen Fahrt ruhig über den Sektionswettkampf sprachen und nur manchmal leise lächelnd nach einem übermütigen Burschen hinsahen, der mit lauten Späßen die Gesellschaft unterhielt. Eine Weile hörte man den dicken Herrn mit dem Baß gutmütig auf die Eisenbahner schimpfen, die zu wenig Drittklaßwagen bereitgestellt hatten, dann ging dort das Gespräch auf die Weltlage über, und der Bassist behauptete, Österreich könne den Krieg gegen Serbien unmöglich eröffnen, wenn Rußland nicht neutral bleibe. Indessen wurde die vordere Tür heftig auf- und zugeschoben, eine trockene Stimme rief: «Alle Billets gefälligst!» Die Schützen griffen nach ihren Fahrkarten, aber es war der Spaßvogel, der gerufen hatte. Ein fröhlicher Lärm entstand, der von keiner Rücksicht auf allfällig mitfahrende Zweitklaßgäste mehr beherrscht wurde.

Bei der Ankunft am Festort dröhnte ein zu schnell gespielter Marsch der Ortsmusik durch die offenen Fenster des Wagens, auf der Bahnhofstraße standen die Vereine mit ihren Fahnen zum Zuge geordnet, und vor der Wartehalle hob sich eine große bunte Gruppe von der Masse des Publikums ab.

Fred zog Paul inmitten der aussteigenden Schützen am Ärmel zu dieser Gruppe hin und erklärte dem widerwillig Folgenden, was «dieser ganze Zauber» zu bedeuten habe. «Das Orrrganisations-Komitee des letzten Kantonalschützenfestes», sagte er mit großen Augen scherzhaft wichtig, «überbringt dem Organisations-Komitee des gegenwärtigen Festes die Kantonalfahne. Aber der Hauptakt spielt, glaub’ ich, auf dem Ortsplatz. Hier wird nur abgeholt. Die Herren im schwarzen Wichs mit den Rosetten sind Komiteemitglieder … es gibt übrigens ein paar hundert Komitees … und die Mädels in den Trachten sind Ehrendamen. Lisi ist auch darunter, soviel ich weiß … dort, dort, zu äußerst rechts, siehst du sie?»

Während beim schneidigen Schmettern der Blechmusik die feierlich aussehenden Herren der beiden Komitees sich begrüßten, die Ehrendamen den Ankömmlingen Wein in silbernen Bechern kredenzten und der Fähnrich mit der Hilfe eines Befrackten die Stangen der Kantonalfahne zusammenschraubte, versuchten die Brüder, näher heranzukommen, aber sie wurden abgedrängt und begaben sich auf den Weg zur nahen Ortschaft.

Die Straße dahin war beflaggt und wurde zwischen den ersten Häusern von einem bunten Triumphbogen überbrückt, auf dessen efeuumranktem Kartonschild ein gereimter Spruch die Schützen «von nah und fern» willkommen hieß. Die Brüder schritten eben unter dem Bogen durch, als der Zug vom Bahnhof her sich in Bewegung setzte, und da sie die Dorfstraße von wartenden Zuschauern gesäumt sahen, traten sie schon hier beiseite. Während in der Nähe eine Kanone Schuß um Schuß zu lösen begann, rückte die festliche Kolonne, von blau und weiß gewandeten Halbartenträgern eröffnet, mit Marschmusik heran. Dröhnend zogen die Bläser vorbei, die Ehrendamen tauchten auf, fest im Schritt, mit einem fröhlich verlegenen Lächeln, und hinter ihnen schwang ein von der Ehrenwache begleiteter mächtiger Fähnrich das kantonale Banner in der unbewegten Sonntagsluft mit ernster Miene hin und her. Neugierig schmunzelnd blickte Fred seiner Base entgegen, und plötzlich sah Lisi auch ihn; mit einer impulsiven Bewegung hob sie, den Becher schüttelnd, die Rechte und rief unbedenklich laut «Salü Fred», indes ihr ohnehin gerötetes lachendes Gesicht unter der Rundhaube noch mehr erglühte und ihre Beine unter dem schwarzseidenen, von einer bunten Schürze bedeckten Rock aus dem Schritt gerieten. Die übrigen Ehrendamen blickten lächelnd nach dem Gegrüßten hin. Fred schaute der Gruppe nach und sah belustigt, wie Lisi, an der Schnürjacke nestelnd, den Schritt wieder suchte, auf irgendwelche Bemerkungen antwortete und sich auf einmal stramm ausschreitend in die Brust warf. Neue Gruppen, neue Banner folgten, und mit angehängtem Gewehr zog die Masse der Zürcher Schützen vorbei.

Immer mehr Zuschauer begannen den Zug zu begleiten. Fred schob den Bruder schlendernd am Arm neben sich her und fragte spöttisch, ob er nicht bald für seinen Bericht Notizen machen wolle. Paul antwortete nur mit einem hämischen Grinsen. Auf dem von Giebelhäusern umstellten, mäßig großen Platze war der feierliche Akt der Fahnenübergabe schon im Gang, aber die Brüder blieben im Gedränge stecken und sahen nicht viel davon. Jemand hielt eine Rede, aus der nur einzelne Brocken verständlich waren. Der nächste Redner jedoch begann unerwartet so laut und energisch, daß die Leute überall lächelnd die Hälse reckten, um den stimmgewaltigen Mann nicht nur zu hören, sondern wenn möglich auch zu sehen. Der Redner versicherte nach einem kurzen lokalhistorischen Rückblick, es sei für die hiesige Schützengesellschaft sowie für die ganze Gemeinde eine hohe Ehre, das Fest durchführen zu dürfen. Jeder Schütze, jeder Einwohner sei sich dieser Ehre bewußt und werde alles daran setzen, das ihm erwiesene Vertrauen zu rechtfertigen. In diesem Sinne nehme er das kantonale Banner entgegen und gelobe im Namen seiner Gesellschaft, es bis zum nächsten Kantonalfest in treuer Obhut zu halten. Die Rede fand kurzen, kräftigen Applaus, die Musik blies einen Marsch, Vereinspräsidenten riefen nach ihren Leuten, die Menge geriet in Bewegung.

«Jetzt ziehen sie auf den Schießplatz, zum Bankett in der Festhütte», erklärte Fred. «Sehr wichtig für dich! Ich meinerseits würde lieber hier im ‹Löwen› essen.»

Paul nickte schweigend, mit einer Miene, als ob ihm jetzt schon alles einerlei sei, und so betraten die Brüder das nahe Gasthaus, wo sie in der voll besetzten Stube mit Not an einem kleinen Winkeltische Platz fanden und erst nach geduldigem Warten von einer Kellnerin hastig bedient wurden. Fortwährend erschienen neue Gäste, blieben eine Weile beratend unter der Türe stehen und entfernten sich wieder. Fred machte, mit einem Auge zwinkernd, den Bruder auf eine Gruppe von Schützen aufmerksam, die offenbar vom Festplatz kamen und ihr Programm geschossen hatten. Sie versperrten mit angehängtem Gewehr den Eingang, indes der vorderste, ein in mittleren Jahren stehender, dem Anschein nach sehr selbstbewußter Mann mit dunklem Schnurrbart, bereits in die Stube getreten war, ohne den Hut abzunehmen; auf dem Hute trug er einen Lorbeerkranz, und da er sich mit gespielt herausfordernder Miene etwas zu lang nach einem Platz umsah, schien es, als ob er hier prahlerisch allen Gästen sein bekränztes Haupt vorführe.

 

Paul nahm zu Freds Vergnügen diesen Auftritt ernst und grinste unverschämt nach dem Manne hin. Fred aber sah dem Schützen an, daß er sich des humoristisch Fragwürdigen seines Auftretens bewußt war und es scherzhafterweise eben deshalb ein wenig übertrieb.

«Einfach unglaublich!» sagte Paul lächelnd, nachdem der Mann abgetreten war. «Ich habe mir ja die ganze Geschichte schon kraß genug vorgestellt, aber …» Er schüttelte den Kopf.

«Ach, das ist nicht so schlimm!» erwiderte Fred und begann dem Bruder zu widersprechen, nicht aus Anteilnahme am Fest, sondern um sich an Pauls heiterem Entsetzen zu weiden.

«Nicht so schlimm! Mein Lieber! Weißt du noch, was es zu bedeuten hatte, wenn bei den antiken Wettkämpfen einem Sieger der grüne Lorbeer gereicht wurde? Und heutzutag brüsten sich alljährlich Hunderte oder wahrscheinlich Tausende von Schweizern mit diesem künstlichen Lorbeerkranz, der als Massenartikel in Fabriken hergestellt wird! Oder vergleiche den alten römischen Triumphbogen, der dem größten und würdigsten Mann errichtet wurde, mit dem für jedermann hingestellten lächerlichen Gerüst da draußen! Das sind Einzelheiten, aber daran läßt sich die Erbärmlichkeit dieser ganzen festlichen Machenschaft ermessen.»

«Ja, wenn du mit solchen Vergleichen kommst … das hier ist doch etwas ganz anderes … der Lorbeerkranz ist geschmacklos, zugegeben, aber was den Triumphbogen betrifft … das ist eine Dekoration wie jede andere.»

«Eben ja! Es ist alles zur Dekoration geworden, alles ist entwertet und für den Massengebrauch zugeschnitten …»

«Aber die Hauptsache ist doch das Schießen!»

«Und die Festrede, der Hurrapatriotismus, der Bechertrunk, die Ehrenmeldung … Übrigens die Ehre, das ist auch so ein Punkt, mein Lieber. Einst war Ehre mehr wert als ein Bändel im Knopfloch oder eine Karte auf dem Hut, Ehre war etwas Hohes, Seltenes, aber dafür auch wirklich Vorhandenes, und geehrt wurde nicht jeder zweite Füdlibürger. Hier aber gibt es Ehrendamen, Ehrenbecher, Ehrenzeichen … Ehrenmeldungen, Ehrenweine … weißt du nicht noch mehr? Ha! Die Ehre ist billig geworden.»

«Du betrachtest das alles von der falschen Seite», wandte Fred ein, während er schmunzelnd ein Stück Fleisch zerkaute.

«Wieso? Ich bin durchaus nicht der einzige, der ein solches Schützenfest für eine grenzenlose Banalität hält. Aber das eigentlich Bedenkliche daran ist, daß man es als Höhepunkt des nationalen Lebens inszeniert. Allerdings …» Er machte, hinterhältig lächelnd, mit Schultern und Armen eine schwankende Bewegung. «… angeblich tritt ja hier dieses sogenannte nationale Leben am sichtbarsten zutage … es wird schon so sein, und das ist nicht mehr nur bedenklich, es ist …» Er hielt einen Augenblick inne, schien aber plötzlich dieser ganzen Erörterung überdrüssig zu werden und schloß, ohne den Satz zu beenden, mit seinem gewohnten müden Lächeln und einer gleichgültig erledigenden Handbewegung: «Ach … es ist ja überhaupt hoffnungslos!»

Fred wiegte kurz den Kopf, halb zustimmend, halb zweifelnd. Die Einwände gegen das Fest schienen ihm nicht unbegründet, obwohl er es einigermaßen bedenklich fand, daß Paul mit seiner Meinung recht haben sollte gegen die Tausende, die das Fest begingen. Das Gefühl der Hoffnungslosigkeit aber vermochte er nicht zu teilen. Ihm schien, Paul urteile immer von den Zuständen aus und verkenne die Menschen, wenn er sie ihnen gleichsetze, oder ziehe sie gar nicht in Betracht, während zwischen den Menschen und den Zuständen doch tausend Vorbehalte möglich waren. Indessen gab er den Widerspruch auf, den er tiefer zu führen und richtig vorzubringen doch nicht hoffen konnte; es lag ihm auch wenig daran.

Sie tranken nach dem Essen einen schwarzen Kaffee, unterhielten sich über die Verwandten im Rusgrund, von denen Paul nur den Onkel Robert seiner bärenhaften Vitalität wegen bemerkenswert fand, und brachen endlich mit ironischer Neugier zum Festplatz auf.

7

Vom Bahnhof, wo ein Zürcher Zug eingefahren war, kamen kurz hintereinander mehrere Wagen dahergerasselt, deren lange Sitzbänke mit Schützen dicht besetzt waren, aber eine zahlreiche Menge von Schützen und Festbummlern zog auch zu Fuß hinaus, und vom Orte selber befand sich familienweise die halbe Einwohnerschaft unterwegs. Die Straße, dieselbe, auf der Christian seinen Vetter Fred in die Ferien gefahren, war nach je fünfzig Schritten mit einer bunten Reihe dreieckiger Wimpel überspannt, von denen der Nachtwind einige über den Draht geworfen hatte. In ihrer mäßigen Breite vermochte sie den Verkehr nicht ganz zu fassen, so daß die den Fahrzeugen ausweichenden Fußgänger und die eiligeren Schützen Seitenpfade in die Wiese zu treten begannen. Fred, dem diese Schändung des Rasens mißfiel, blieb mit dem Bruder absichtlich auf der Straße, aber nachdem sie ein paar Minuten lang geduldig hinter einer breiten kleinen Frau hergeschlendert waren, die mit der Rechten einen Kinderwagen schob, an der Linken ein kleines Mädchen führte, schlug Paul plötzlich mit ärgerlicher Miene doch einen Seitenpfad ein, und Fred folgte ihm unwillig. Von der Straße wälzte sich eine graue Staubschlange träge nach rechts in die Wiese hinaus, die Luft flimmerte in der hochsommerlichen Hitze, und vom Schießstand her knatterten wie trockene Peitschenschläge die Schüsse, die am gegenüberliegenden Hang ein ununterbrochenes brausendes Echo weckten. Zum Staub und zur Hitze gesellte sich bald der wirre Lärm der Budenstadt, der auf dem Festplatz selber dermaßen anschwoll, daß man nicht einmal das nahe Geknatter der Schüsse mehr hörte.

Lächelnd schritten die Brüder an den ersten Bretterständen vorbei, wo man Zigaretten, Türkenhonig, Magenbrot, Appenzeller Fladen und dergleichen kaufen konnte, verweilten einen Augenblick vor einem Karussell und ließen sich dann mit der gestauten Menge langsam zwischen den Buden weitertreiben. Aus einer umfangreichen Tunnelbahn drang hastig und gequetscht die Ouvertüre zu «Dichter und Bauer», in die eine fünfköpfige Blechkapelle vom gegenüberliegenden Zirkus kräftig hineinmusizierte. Das benachbarte Unternehmen stellte einen Glaskasten aus, worin eine halbnackte wächserne Mannsfigur mit regelmäßigen Bewegungen eine hingesunkene Frau erstach, während der Direktor auf dem Podium nebenan das Publikum brüllend darauf aufmerksam machte, daß es hier Gelegenheit habe, einer Dame durch den Leib zu sehen. Vor einem Zelthaus mit der Überschrift «Exotische Schau» rührte ein schwitzender Neger zähnebleckend eine dumpfe Trommel, neben ihm turnte ein Affe herum, und an der Kasse saß eine üppige Mulattin. Fred drängte sich hin, sah dem Affen zu und verlor den Bruder aus den Augen. Paul suchte ihn von der Seite her zu erreichen und geriet dabei vor eine Bude, aus der ihn eine hochblonde Dame anrief. «Schießt der Herr e mal?» rief sie energisch, indes sie hastig ein Luftgewehr spannte und vor einen Schießlustigen hinstellte. Paul ging rasch vorbei, machte sich dem Bruder bemerkbar und wartete ihm dann vor einem Bretterstand, wo ein Schütze im Kreis seiner lachenden Kameraden Bälle nach hölzernen Köpfen warf. Fred folgte, sah sich aber noch einmal nach dem Affen um und stolperte über einen eingerammten Seilpflock, dann schloß er sich vergnügt dem Bruder wieder an.