Bad Human

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Bad Human
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Bad Human

1  Titel

2  Impressum

3  Vorspiel

4  Kapitel 1

5  Kapitel 2

6  Kapitel 3

7  Kapitel 4

8  Kapitel 5

9  Kapitel 6

10  Kapitel 7

11  Kapitel 8

12  Kapitel 9

13  Kapitel 10

14  Kapitel 11

15  Kapitel 12

16  Kapitel 13

17  Kapitel 14

18  Kapitel 15

19  Kapitel 16

20  Kapitel 17

21  Kapitel 18

22  Kapitel 19

23  Prolog

Titel

BAD HUMAN

Ein Roman von Maxima Hampel

Impressum

1. Auflage April 2018

© Copyright by Maxima Hampel Cover by Christoph Paul, primedesign, Hannover

Verlag: Maxima Hampel

Oberfeldstrasse 33 9445 Rebstein

Schweiz

maxi@hampel.cc

Druck: epubli ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Printed in Germany

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar

Vorspiel

“Yesterday I was clever, so I wanted to change the world.

Today I am wise, so I want to change myself.”

Rusi

Kapitel 1

April 6:oo. Mein Wecker schellt. Ich muss in die Schule. Nach einem langen Kampf, zum einen mit meiner Bettdecke, zum anderen mit mir selbst, rolle ich endlich aus dem Bett. Wie jeden Morgen stolpere ich fast über Bloom, unsere alte und vielleicht auch ein bisschen moppelige, Hündin. Wir hatten sie in einem Tierheim in der Nähe von Brighton gefunden und uns sofort in sie verliebt. Okay. Nicht wir alle. Dad hatte natürlich tausend Gründe gefunden, die gegen Bloom sprachen. Allen voran war da zum Beispiel die Tatsache, dass dieses die Luft verpestende Vieh, so nannte und nennt Dad sie, ja noch nicht mal ein Rassehund sei und somit auch keinen nachvollziehbaren Stammbaum besass. Ich war damals noch zu jung, um mich heute noch genau daran erinnern zu können, und mein kleiner Bruder Alec war grade erst frisch auf der Welt, brachte also nicht mehr als Babygeplapper raus. Mom hingegen setzte sich dafür aber umso mehr ein. Letztendlich kehrten wir mit einem neuen Hund im Schlepptau nach London zurück. Unter der Dusche geniesse ich den warmen Wasserstrahl auf meiner Haut. Jetzt, wo ich langsam wach werde, meldet sich auch mein Magen. Ich spüle meine langen blonden Haare aus und geniesse den Duft meines Duschgels. Vanille. Ich liebe Vanille. Ich steige aus der Dusche, eingewickelt in ein grosses Handtuch, und betrachte mich im Spiegel. Mein nasses blondes Haar fällt mir über die blassen Schultern. Ich sehe müde aus. Unter meinen grossen blauen Augen sind dunkle Schatten. In letzter Zeit bekomme ich wenig Schlaf, denn den späten Abend habe ich zur Lernzeit umfunktioniert. Ich stecke gerade mitten in meinem A-Level, welches ich natürlich ausgezeichnet bestehen will. Das liegt in der Familie. Wir sind das, was man als eine klassische englische Anwaltsfamilie bezeichnet. Laut meinem Vater ist es selbstverständlich, diese Tradition aufrechtzuerhalten. Was mein Bruder und ich davon halten, spielt letztendlich keine grosse Rolle. Wer will denn schon dafür verantwortlich sein, dass die eigene Familie auf der Leiter der angesehensten Familien Londons eine Stufe herab steigt. Ich definitiv nicht. Ich bete dafür, dass ich dieses Drama nie erleben werde. Meiner Familie ist es sehr wichtig, wie wir von Aussenstehenden betrachtet werden. Mir auch. Deshalb gibt es bei uns auch keine Diskussion darüber, was ich oder Alec später werden. Unsere Familie besteht aus Anwälten, wir haben also quasi einen reservierten Platz an der Oxford University. Und das ist etwas, worauf man stolz sein kann. Meine Eltern sind es auf jeden Fall, und das ist doch das Wichtigste. Sie wollen das Beste für mich und meinen Bruder. Das haben sie immer schon gewollt. Und deswegen will ich sie stolz machen. Und das werde ich auch. Ich ziehe mich an, lege ein leichtes Make-up auf und verlasse das Badezimmer. In der Küche sitzen meine Eltern, während Alec wie jeden Morgen seinen Toast mit Butter isst. Ich gehe auf direktem Weg zur Kaffeemaschine und lasse mir einen dreifachen Espresso raus, denn ich mit einem Schluck Milch aufgiesse. Meine Mom predigt mir immer, dass so viel Kaffeekonsum mit meinen siebzehn Jahren total ungesund sei und ich mir damit doch nur meine schönen weissen Zähne ruinieren würde. Die Zähne kann man bleichen lassen. Ich weiss allerdings nicht, was ich ohne mein Koffein machen würde, besser gesagt, nicht machen würde. Ich würde wahrscheinlich den grössten Teil des Tages im Land der Träume versinken. Auf dem Weg zu meiner Tasche schnappe ich mir mit einer Hand einen Müsliriegel, während ich in der anderen mein braunes Lebenselixier, diesen Spitznamen habe ich mit der Zeit wirklich lieb gewonnen, halte. Kurz darauf bin ich durch die Tür verschwunden.

Kapitel 2

Ethan „Die Menschen glauben, dass die Spezies Mensch von Natur aus gut ist. Dass nicht der Mensch schlecht ist, sondern die Umgebung ihn schlecht macht. Doch das stimmt nicht. Der Mensch ist böse. Und er ist es, der seine Umgebung schlecht macht. Nicht die Luft ist schlecht, sondern die Abgase, die wir mit unseren Autos produzieren, machen sie schlecht. Nicht das Wasser ist schmutzig, sondern der Dreck, der ins Wasser gelangt, verschmutzt es. Nicht die Tabakpflanze ist schlecht, sondern die Zigarette, die durch Menschenhand daraus entsteht. Und auch Tiere sind nicht schlecht, sondern der Mensch macht sie schlecht, indem er Versuche an ihnen durchführt, nur um sicherzugehen, dass ihm selbst keine Gefahr droht, wenn er ein Medikament nimmt oder sich die Haare wäscht. Wieso hat sich die Weltbevölkerung noch nicht gegenseitig umgebracht, wenn doch jeder das Böse in sich hat? Ganz einfach. Stellen wir uns das Gute mal als eine Fähigkeit vor, und das Böse als eine Charaktereigenschaft, ähnlich wie zum Beispiel den Egoismus. Wir können Fähigkeiten lernen. Wir können unseren Charakter trainieren und formen. Doch eine Fähigkeit wird nie zu unserem Charakter, und die Tatsache, dass wir so veranlagt sind, wie wir es nun mal sind, können wir ebenso wenig ändern. Wir wissen, wie man sich ordentlich und höflich benimmt, genauso wie wir wissen, dass wir ins Gefängnis kommen, wenn wir jemanden umbringen. Wir haben gelernt, dass man alten Menschen über die Strasse hilft. Die Erfahrung lehrt uns, unseren Mitmenschen nicht immer unsere ungefilterte Meinung zu allem mitzuteilen. Die Erfahrung verändert folglich unsere Gewohnheiten. Nicht aber unseren Charakter! Ehepartner oder fest vergebene Menschen sind für unser Begehren tabu. Das alles und noch vieles mehr haben wir gelernt. Wir haben es gelernt. Aber es hat unseren wahren Charakter nicht verändert. Hinterfragen wir uns doch einmal selbst: Wieso tragt ihr die Einkaufstüten für eine alte Dame? Ist es, weil sie uns leidtut, oder weil uns ein schlechtes Gewissen plagt, wenn wir es nicht tun? Tun wir jemandem einen Gefallen, weil unser Herz es uns sagt? Oder tun wir diesen Gefallen, weil wir wissen, dass es richtig und höflich ist?“ Unser Lehrer, Mr. Smith, tritt ein paar Schritte auf mich zu. Seine Hände stützt er auf meinem Schreibtisch ab. Er hat die Ärmel seines dunkelroten Hemdes hochgekrempelt, deswegen kann ich seine muskulösen Arme sehen. Die blauen Adern sind deutlich sichtbar, ein Zeichen dafür, dass er seine Muskeln anspannt. Gerade hält er uns einen Vortrag über die Ideologie des Britisch World Service. Wir alle haben seine Worte schon Dutzende Male zuvor gehört, und doch fasziniert es jeden Einzelnen von uns immer wieder aufs Neue. Mittlerweile ist er mir so nahe, dass ich mir sicher bin, das Waschmittel seines dunkelgrünen Pollunders, welchen er über seinem Hemd trägt, riechen zu können. Lavendel. Mit der einen Hand fährt er sich über seinen stoppeligen Dreitagebart, während er fortfährt: „Ich tue all dies nicht, weil ich ein guter Mensch bin, sondern weil ich ein guter Mensch sein will. Wäre ich ein guter, müsste ich kein guter sein wollen. Der Mensch ist von Natur aus böse. Und genau das hat der British World Service erkannt. Wenn wir die Welt also zu einem besseren oder wenigstens halbwegs erträglichen Ort machen wollen, so müssen wir zu den bösen Menschen dieser Welt ein Gleichgewicht schaffen. Doch wie soll das gehen, wo doch das Gegengewicht zum Bösen das Gute ist und es auf der Welt zu wenig davon gibt, um das viele Böse aufzuwiegen? Es klingt gewagt, aber so, wie man Bakterien mit Schimmelpilzen bekämpfen kann, kann man Böses der einen Art durch Böses der anderen Art aufwiegen und neutralisieren. Das ist unsere Philosophie. Die Philosophie des Gleichgewichts. Wer kann mir ein Beispiel für politisches Gleichgewicht nennen?“ Ich liebe dieses Thema und strecke meine Hand schneller als einen Karate-Fauststoss in die Höhe. „Ethan?“ Mr. Smith erteilt mir das Wort. „Das atomare Wettrüsten während des Kalten Kriegs ist ein Beispiel für politisches Gleichgewicht, welches seinen Zweck erfüllte“, schiesse ich ihm meine Antwort entgegen. „Ja“, Mr. Smith lächelt, „es hat funktioniert. Hätte aber auch daneben gehen können. Doch du hast recht, Ethan. Es ist ein gutes Beispiel, und es war alternativlos. Ungleichgewicht hätte den Kapitalismus zu Erpressern und den Kommunismus zu Erpressten gemacht. Wer kann mir ein aktuelles Beispiel für fehlendes Gleichgewicht nennen?“ Dieses Mal schiesst keine Hand nach oben. Und es findet sich auch keine Hand, die sich nur zögerlich und mit kleinen unsicheren Trippelschritten den Weg nach oben sucht. Es findet sich genau keine Hand, die bereit ist, sich zu melden. In unserer Klasse voller junger, enthusiastischer und wissbegieriger Rekruten des British World Service hat das eine hohe Aussagekraft. Denn keiner von uns hat einen IQ von unter 130. Mr. Smith scheint diesen Moment auszukosten. Er lässt seinen Blick durch die Klasse schweifen. Von links nach rechts, dann wieder zurück von rechts nach links. Von vorne bis hinten und wieder zurück nach vorne. Er lächelt. Ein ganz klein wenig provokativ. „Keiner von euch eine Idee?“ Wir sind nicht die Art von Klasse, die ernsthafte Fragen mit dummen Witzen beantwortet. Wir haben gelernt, dass alles seine Zeit hat. Und wir haben gelernt, ganz genau nachzudenken, bevor wir reden. Es ist uns in Fleisch und Blut übergegangen, die Zeit des anderen nicht mit Unnötigem oder gar mit Dummheit zu vergeuden. Und es sieht so aus, als sähe sich keiner von uns dazu im Stande, eine kluge und konstruktive Antwort beizutragen. „A-me-ri-ca first.“ Mr. Smith betont die Worte mit Genuss, Genauigkeit und Drama. Nicht zu viel. Und nicht zu wenig. „Was fällt den jungen Herren und Damen zu diesen Worten ein?“ Auch dieses mal schiessen oder kriechen keine Hände in die Höhe. Nicht, weil die Frage zu schwierig ist. Das genaue Gegenteil ist der Fall, und niemand von uns will den Eindruck erwecken, durch die Beantwortung einer derart leichten Frage Wissen vorzutäuschen. Schliesslich und ohne sich vorher zu melden, fragt Brian aus der ersten Reihe: „Trump, das ist uns allen klar. Und wer ein solches Übergewicht hat, dem fehlt es natürlich an Gleichgewicht. Aber ich fürchte, ich erkenne die politische Dimension nicht, auf die Sie sicher anspielen.“ Nun also doch ein dummer Witz, wenn auch klug verpackt. Mr. Smith verzieht den rechten Mundwinkel um einige Millimeter. Was man aber nur erkennt, wenn man ganz genau hinschaut. Lächeln in homöopathischer Dosis nennen wir das. Mit langsamen Schritten positioniert er sich genau in der Mitte des Klassenzimmers. Mit Bedacht und ohne Hetze oder Emotionen nimmt er zwei Atemzüge und setzt dann zu seiner Erklärung an: „Während sich der Kommunismus als Gegenentwurf zum Kapitalismus in den letzten Jahrzehnten nahezu auf der gesamten Welt bis zur Bedeutungslosigkeit abgeschafft hat, hat der Kapitalismus vereinzelt sehr bizarre Blüten hervorgebracht. Donald Trump, der heutige Präsident der Vereinigten Staaten, ist ein gutes Beispiel dafür. Als Geschäftsmann, der seine erste Millionen von seinem Vater geschenkt bekam, glänzt er weder durch intelligente Strategie noch durch atemberaubende Erfolge. Seinen im US-Wahlkampf als Argument benutzten milliardenschweren Reichtum kann er nicht belegen. Für Fleiss ist er ebenso wenig bekannt wie für ehrliches Geschäftsgebaren. Schlagzeilen hat er auch vor seiner Präsidentschaft nur mit grossmäuligen Versprechungen ohne jegliche Substanz gemacht. Durch von ihm angepriesene Investments haben Tausende von Anlegern Milliarden von Dollar verloren. Meine jungen Herren, verstehen Sie mich nicht falsch. Gegen den Kapitalismus ist nichts einzuwenden, gegen einige seiner zu Krebsgeschwüren mutierten Vertreter allerdings sehr wohl. Eine starke Nation wie die USA hält derart charakter-, stil- und skrupellose Geschäftemacher ohne Probleme aus. Gefährlich wird es erst, wenn ein solcher Mensch die amerikanischen Präsidentschaftswahlen gewinnt und nicht davor zurückschreckt, die Position des mächtigsten Mannes der Welt zu seinem eigenen geschäftlichen Vorteil zu nutzen. Er unterhält Verbindungen zu korrupten Partnern und Geschäftsbeziehungen zu Gewaltherrschern auf der ganzen Welt. Als privater Geschäftsmann hat er millionenschwere Schulden bei Staaten und Regimen, die Feinde jener Regierung sind, die er in seiner offiziellen Funktion als Präsident vertritt. Er verbindet Geschäft und Politik in einer Weise, deren geringste Übel noch die Abwesenheit von Scham und Moral sind. Seine unstillbare Gier nach dem eigenen Vorteil ist eine Gefahr für die USA und die gesamte Welt.“ Mr. Smith schweigt. Wir schweigen. Und da gerade in diesem Moment auch kein anderes Geräusch zu hören ist, erweckt es fast den Eindruck, als schwiege ganz London. Mr. Smith ist ein Meister des Redens, ein Meister des Schweigens und ein Meister darin, für beides die richtige Zeit und die wirkungsvollste Dosis zu erkennen. Wir hatten uns gerade in eine kollektive Lähmung geschwiegen und aus Furcht vor unangebrachter Ruhestörung selbst das Atmen eingestellt, als Mr. Smith den genau richtigen Moment findet, die Stille mit einem silbenverliebt, sehr sorgfälltig betonten Wort zu beenden: „Gleichgewicht.“ Wir nutzen diesen kurzen Moment zum Atmen. Denn als gute Schüler dieses hervorragenden Lehrers erahnen wir bereits die nächste Pause. Mr. Smith schaut uns in die Augen. Jedem von uns. Der Reihe nach. Als würde kein nervöser Zeiger uns Sekunde und Sekunde von unserer Lebensuhr abziehen. Mit aller Zeit der Welt schaut er jedem von uns so tief in die Augen, als könne er zwei Zentimeter dahinter unsere Gedanken von einem Teleprompter ablesen. „Ohne Gleichgewicht wird es einseitig und brandgefährlich. Darum haben wir vom British World Service es uns zur Aufgabe gemacht, Ungleichgewichte zu suchen und durch kleine Änderungen oder Eingriffe zu korrigieren. Wenn sie klug ausgedacht sind, können schon kleine Aktionen sehr grosse Wirkung erzielen. Idealerweise sind diese Aktionen so klein, dass kaum jemand sie wahrnimmt. Im Gegensatz zu ihren Folgen.“ Gebannt durch seine Worte, habe ich dieses Mal unwillkürlich die Luft angehalten, bis Mr. Smith zu mir sagt: „Sie könne jetzt wieder atmen. Die Stunde ist hiermit beendet.“ Ich bleibe noch einen Moment sitzen und beobachte unseren Lehrer dabei, wie er zu seinem Schreibtisch zurückgeht und seine Unterlagen durchblättert. Ich packe meine Sachen ein und stehe von meinem Platz auf. Sobald ich meinen Rucksack über die Schulter geworfen habe, streiche ich mein weisses Hemd glatt. Hier im BWS trägt jeder das Gleiche: weisses Hemd, dazu eine schwarze Anzughose, und für besondere Tage haben wir ein passendes Jackett. Unser Outfit wird durch unsere graue Krawatte und die braunen Budapester abgerundet. Stil ist unser Markenzeichen. Eines davon. Ein anderes ist, dass niemand unsere Markenzeichen kennt. Denn wir und unsere Arbeit sind für die Weltöffentlichkeit unsichtbar. Nicht einmal der MI6 weiss über uns Bescheid. Wenn man mich fragt, ist da einiges schiefgelaufen. Der offizielle britische Geheimdienst hat das Gefühl, Bescheid zu wissen, nur weil er im Zweiten Weltkrieg mit Erfolg den Verschlüsselungsmechanismus der deutschen Geheimbotschaften geknackt hat. Genau genommen ist dieser Erfolg nicht dem Mi6 zuzuschreiben, sondern einer einzelnen Frau. Einer Frau, die damals vom BWS ins MI6 eingeschleust wurde. Also kam noch nicht mal dieser Erfolg wirklich vom Secret Intelligent Service. Aber das ist eine andere Geschichte.

 

Kapitel 3

April Ich wickle mir eine Haarsträhne um den Finger. Mrs. McCarthy hält mal wieder einen Vortrag über irgendwelche Zusammensetzungen von irgendwelchen Molekülen, die in Verbindung mit irgendwelchen anderen Molekülen irgendetwas Neues ergeben. Eigentlich sollte ich zuhören und mir die Sachen merken, denn an meiner Abschlussprüfung komme ich nicht vorbei. Letztendlich gebe ich es auf und schweife mit den Gedanken ab. Ich kann mich heute nicht konzentrieren. Ich denke an mein Bücherregal zu Hause und daran, wie gerne ich jetzt dort wäre, um meine Nase in eines meiner Bücher zu stecken. Und wenn ich näher darüber nachdenke, muss es auch gar kein Buch aus meinem Bücherregal sein. Die Bibliothek unserer Schule würde mir reichen. Eigentlich bin ich nicht der Typ Mädchen, der ständig Mist baut und Regeln missachtet. Im Gegenteil, ich bin mit Regeln aufgewachsen, und würde es normalerweise gar nicht wagen, etwas Unerwünschtes oder gar Verbotenes zu tun. Aber heute ist das irgendwie anders, und ein unsichtbares Navigationssystem dirigiert mich aus dem Klassenzimmer, während ich im Vorbeigehen die Toilettenausrede in Mrs. McCarthys Richtung murmle. Wenige Minuten später befinde ich mich in der Bibliothek. Bücher hatten mich schon immer beeindruckt. Und eine ernsthaft grosse Menge an Büchern hatte mich schon immer in einem ernsthaft grossen Mass beeindruckt. Seitdem ich lesen kann, ist das so. Und ein Gefühl sagt mir, dass sich das bis an mein Lebensende nicht ändern wird. Bücher geben mir das gute Gefühl, mir auf ehrliche und herkömmliche Weise Wissen anzueignen. Ob es eine unehrliche Weise gibt? Ich weiss es nicht, um ehrlich zu sein. Ich weiss nur, dass ich zu Wissen ein gespaltenes Verhältnis habe, dessen Ursache ich nicht erklären kann. Manchmal glaube ich, nahezu körperlich spüren zu können, wie sich in meinem Gehirn einzelne Erfahrungen zu neuen Wissensinseln vernetzen. Ich kann darin nichts Unnormales erkennen, und trotzdem fühlt es sich so an, als sei es eben das: unnormal. Ich stelle mir das Verhältnis von Wissen und Gehirn so vor wie die Räume eines Hauses und die Einrichtungsgegenstände, welche die Räume ausfüllen. Auf der einen Seite habe ich das Gefühl, ein unendlich grosses Haus mit unzählbar vielen Räumen zu besitzen. Selbst wenn ich den Rest meines Lebens mit Einkaufsorgien in Möbelhäusern verbrächte, so würde ich doch die vielen Räume meines Hauses nie ausfüllen können. Auf der anderen Seite kann ich mich von dem Eindruck nicht befreien, beim Durchschreiten meines Hauses hin und wieder an verschlossenen Räumen vorbeizugehen. Der Gedanke, nicht zu wissen, was sich hinter diesen verschlossenen Türen befindet, quält mich nicht. Aber er beschäftigt mich. Regelmässig und andauernd. Wenn ich dann ein Buch zur Hand nehme, ändern meine Gedanken ihre Richtung. So, als würde ich von einer Autobahn abfahren und mich binnen weniger Sekunden in einer vollkommen anderen Landschaft befinden. Ich nehme mir das erstbeste Buch, das ich finden kann. Hotel New Hampshire. Ich sitze in der hintersten Ecke des Raumes, kann mich aber kein bisschen auf die Wörter vor mir konzentrieren. Eigentlich sollte ich zurück ins Klassenzimmer, aber irgendetwas in mir sträubt sich gegen den Gedanken, in den Klassenraum mit all seinen Molekülen und deren sonderbare Veränderungen zurückzugehen. Das mit dem Lesen habe ich spätestens jetzt aufgegeben. Ich klappe also mein Buch zu und lege es weg. Es schellt zur nächsten Stunde. Wenn alle Schüler auf den Gängen sind, komme ich bestimmt unbemerkt aus diesem Gebäude, auf das ich heute irgendwie besonders schlecht zu sprechen bin.

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