Max Weber: Parlament und Regierung im neu geordneten Deutschland – gelbe Buchreihe – bei Jürgen Ruszkowski

Text
Author:
From the series: gelbe Buchreihe #188
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

Die Bürokratie ist aber gegenüber anderen geschichtlichen Trägern der modernen rationalen Lebensordnung ausgezeichnet durch ihre weit größere Unentrinnbarkeit. Es ist kein geschichtliches Beispiel dafür bekannt, dass sie da, wo sie einmal zur völligen Alleinherrschaft gelangt war – in China, Ägypten, in nicht so konsequenter Form im spätrömischen Reich und in Byzanz – wieder verschwunden wäre, außer mit dem völligen Untergang der ganzen Kultur, die sie trug. Und doch waren dies noch relativ höchst irrationale Formen der Bürokratie: „Patrimonialbürokratien.“ Die moderne Bürokratie zeichnet sich vor allen diesen älteren Beispielen durch eine Eigenschaft aus, welche ihre Unentrinnbarkeit ganz wesentlich endgültiger verankert als die jener anderen: die rationale fachliche Spezialisierung und Einschulung. Der alte chinesische Mandarin war kein Fachbeamter, sondern im Gegenteil ein literarisch-humanistisch gebildeter Gentleman. Der ägyptische, spätrömische, byzantinische Beamte war wesentlich mehr Bürokrat in unserem Sinne. Aber die Staatsaufgaben, welche in seiner Hand lagen, waren gegenüber den modernen unendlich einfach und bescheiden, sein Verhalten teils traditioralistisch gebunden, teils patriarchal, also irrational, orientiert. Er war ein reiner Empiriker, wie der Gewerbetreibende der Vergangenheit. Der moderne Beamte ist entsprechend der rationalen Technik des modernen Lebens stetig und unvermeidlich zunehmend fachgeschult und spezialisiert. Alle Bürokratien der Erde gehen diesen Weg. Dass sie ihn vor dem Kriege noch nicht zu Ende gegangen waren, bedingte unsere Überlegenheit über die anderen. Der alte amerikanische Parteipatronagebeamte z. B. war zwar ein fachlicher „Kenner“ des Wahlkampfplatzes und der ihm entsprechenden „Praxis“, aber in keiner Art ein spezialistisch gebildeter Fachmann. Darauf, nicht auf der Demokratie als solcher, wie unsere Literaten dem Publikum vorreden, beruhte die dortige Korruption, die dem universitätsgebildeten Fachbeamten des jetzt erst sich dort entwickelnden „civil service“ ebenso fremd ist wie der modernen englischen Bürokratie, welche jetzt zunehmend an die Stelle des Selfgovernment durch Honoratioren („Gentlemen“) tritt. Wo aber der moderne eingeschulte Fachbeamte einmal herrscht, ist seine Gewalt schlechthin unzerbrechlich, weil die ganze Organisation der elementarsten Lebensversorgung dann auf seine Leistung zugeschnitten ist. Theoretisch wohl denkbar wäre eine immer weitergehende Ausschaltung des Privatkapitalismus, – wennschon sie wahrlich keine solche Kleinigkeit ist, wie manche Literaten, die ihn nicht kennen, träumen, und ganz gewiss nicht die Folge dieses Krieges sein wird. Aber gesetzt, sie gelänge einmal: – was würde sie praktisch bedeuten? Etwa ein Zerbrechen des stählernen Gehäuses der modernen gewerblichen Arbeit? Nein! Vielmehr: dass nun auch die Leitung der verstaatlichten oder in irgendeine „Gemeinwirtschaft“ übernommenen Betriebe bürokratisch würde. Sind etwa die Lebensformen der Angestellten und Arbeiter in der preußischen staatlichen Bergwerks- und Eisenbahnverwaltung irgendwie fühlbar andere als in den großen privatkapitalistischen Betrieben? Unfreier sind sie, weil jeder Machtkampf gegen eine staatliche Bürokratie aussichtslos ist und weil keine prinzipiell gegen sie und ihre Macht interessierte Instanz angerufen werden kann wie gegen jene. Das wäre der ganze Unterschied. Die staatliche Bürokratie herrschte, wenn der Privatkapitalismus ausgeschaltet wäre, allein. Die jetzt neben und, wenigstens der Möglichkeit nach, gegeneinander arbeitenden, sich also immerhin einigermaßen noch gegenseitig im Schach haltenden privaten und öffentlichen Bürokratien wären in eine einzige Hierarchie zusammengeschmolzen. Etwa wie in Ägypten im Altertum, nur in ganz unvergleichlich rationalerer und deshalb: unentrinnbarerer Form.

Eine leblose Maschine ist geronnener Geist. Nur dass sie dies ist, gibt ihr die Macht, die Menschen in ihren Dienst zu zwingen und den Alltag ihres Arbeitslebens so beherrschend zu bestimmen, wie es tatsächlich in der Fabrik der Fall ist. Geronnener Geist ist auch jene lebende Maschine, welche die bürokratische Organisation mit ihrer Spezialisierung der geschulten Facharbeit, ihrer Abgrenzung der Kompetenzen, ihren Reglements und hierarchisch abgestuften Gehorsamsverhältnissen darstellt. Im Verein mit der toten Maschine ist sie an der Arbeit, das Gehäuse jener Hörigkeit der Zukunft herzustellen, in welche vielleicht dereinst die Menschen sich, wie die Fellachen im altägyptischen Staat, ohnmächtig zu fügen gezwungen sein werden, wenn ihnen eine rein technisch gute und das heißt: eine rationale Beamtenverwaltung und -versorgung der letzte und einzige Wert ist, der über die Art der Leitung ihrer Angelegenheiten entscheiden soll. Denn das leistet die Bürokratie ganz unvergleichlich viel besser als jegliche andere Struktur der Herrschaft. Und dies Gehäuse, welches unsere ahnungslosen Literaten preisen, ergänzt durch die Fesselung jedes einzelnen an den Betrieb (Anfänge dazu: in den sogenannten „Wohlfahrtseinrichtungen“), an die Klasse (durch zunehmende Festigkeit der Besitzgliederung) und vielleicht einmal künftig an den Beruf (durch „leiturgische“ staatliche Bedarfsdeckung, das heißt: Belastung berufsgegliederter Verbände mit Staatsaufgaben), würde nur um so unzerbrechlicher, wenn dann auf sozialem Gebiet, wie in den Fronstaaten der Vergangenheit, eine „ständische“ Organisation der Beherrschten der Bürokratie angegliedert (und das heißt in Wahrheit: ihr untergeordnet) würde. Eine „organische“, d. h. eine orientalisch-ägyptische Gesellschaftsgliederung, aber im Gegensatz zu dieser: so streng rational wie eine Maschine es ist, würde dann heraufdämmern. Wer wollte leugnen, dass derartiges als eine Möglichkeit im Schoße der Zukunft liegt? Es ist das schon oft gesagt worden, und die verworrene Vorstellung dieser Möglichkeiten zieht ihre Schatten in die Produktionen unserer Literaten. Nehmen wir nun einmal an: gerade diese Möglichkeit wäre ein unentrinnbares Schicksal, – wer möchte dann nicht lächeln über die Angst unserer Literaten davor, dass die politische und soziale Entwicklung uns künftig zu viel „Individualismus“ oder „Demokratie“ oder dergleichen bescheren könnte und dass die „wahre Freiheit“ erst aufleuchten werde, wenn die jetzige „Anarchie“ unserer wirtschaftlichen Produktion und das „Parteigetriebe“ unserer Parlamente beseitigt sein werden zugunsten „sozialer Ordnung“ und „organischer Gliederung“ – das heißt: des Pazifismus der sozialen Ohnmacht unter den Fittichen der einzigen ganz sicher unentfliehbaren Macht: der Bürokratie in Staat und Wirtschaft!

Angesichts der Grundtatsache des unaufhaltsamen Vormarsches der Bürokratisierung kann die Frage nach den künftigen politischen Organisationsformen überhaupt nur so gestellt werden:

1. Wie ist es angesichts dieser Übermacht der Tendenz zur Bürokratisierung überhaupt noch möglich, irgendwelche Reste einer in irgendeinem Sinn „individualistischen“ Bewegungsfreiheit zu retten? Denn schließlich ist es eine gröbliche Selbsttäuschung, zu glauben, ohne diese Errungenschaften aus der Zeit der „Menschenrechte“ vermöchten wir heute (auch der konservativste unter uns) überhaupt zu leben. Diese Frage soll uns aber diesmal nicht interessieren; denn daneben gibt es eine andere, die uns hier angeht:

2. Wie kann, angesichts der steigenden Unentbehrlichkeit und der dadurch bedingten steigenden Machtstellung des uns hier interessierenden staatlichen Beamtentums, irgendwelche Gewähr dafür geboten werden, dass Mächte vorhanden sind, welche die ungeheure Übermacht dieser an Bedeutung stets wachsenden Schicht in Schranken halten und sie wirksam kontrollieren? Wie wird Demokratie auch nur in diesem beschränkten Sinn überhaupt möglich sein? Aber auch das ist nicht die einzige Frage, die uns hier beschäftigt. Denn 3. eine dritte Frage, und zwar die wichtigste von allen, ergibt sich aus einer Betrachtung dessen, was die Bürokratie als solche nicht leistet. Leicht ist nämlich festzustellen, dass ihre Leistungsfähigkeit auf dem Gebiet des öffentlichen, staatlich-politischen Betriebes ganz ebenso wie innerhalb der Privatwirtschaft feste innere Grenzen hat. Der leitende Geist: der „Unternehmer“ hier, der „Politiker“ dort, ist etwas anderes als ein „Beamter“. Nicht notwendig der Form, wohl aber der Sache nach. Auch der Unternehmer sitzt auf dem „Büro“. Auch der Heerführer tut es. Der Heerführer ist ein Offizier und formell also nichts anderes als alle anderen Offiziere. Und ist der Generaldirektor eines großen Unternehmens ein angestellter Beamter einer Aktiengesellschaft, so ist auch er in seiner Rechtsstellung von anderen Beamten nicht prinzipiell unterschieden. Ebenso steht es auf dem Gebiete des staatlichen Lebens mit dem leitenden Politiker. Der leitende Minister ist formell ein Beamter mit pensionsfähigem Gehalt. Der Umstand, dass nach allen Verfassungen der Erde er jederzeit entlassen werden und Entlassung fordern kann, unterscheidet seine Dienststellung äußerlich von derjenigen der meisten, aber nicht aller anderen Beamten. Weit auffälliger ist dagegen die Tatsache: dass für ihn und für ihn allein keinerlei Fachbildungsqualifikation vorgeschrieben ist wie für andere Beamte. Das deutet an, dass er eben doch dem Sinn seiner Stellung nach etwas ähnlich Verschiedenes von den anderen Beamten ist wie der Unternehmer und Generaldirektor innerhalb der Privatwirtschaft. Oder vielmehr richtiger: dass er etwas anderes sein soll. Und so ist es in der Tat. Wenn ein leitender Mann dem Geist seiner Leistung nach ein „Beamter“ ist, sei es auch ein noch so tüchtiger: ein Mann also, der nach Reglement und Befehl pflichtgemäß und ehrenhaft seine Arbeit abzuleisten gewohnt ist, dann ist er weder an der Spitze eines Privatwirtschaftsbetriebes noch an der Spitze eines Staates zu brauchen. Wir haben leider innerhalb unseres eigenen Staatslebens das Exempel darauf zu machen gehabt.

Der Unterschied liegt nur zum Teil in der Art der erwarteten Leistung. Selbständigkeit des Entschlusses, organisatorische Fähigkeit kraft eigener Ideen wird im Einzelnen massenhaft, sehr oft aber auch im Großen von „Beamten“ ebenso erwartet wie von „Leitern“. Und gar die Vorstellung: dass der Beamte im subalternen Alltagswirken aufgehe, nur der Leiter die „interessanten“, geistige Anforderungen stellenden Sonderleistungen zu vollbringen habe, ist literatenhaft und nur in einem Land möglich, welches keinen Einblick in die Art der Führung seiner Geschäfte und die Leistungen seiner Beamtenschaft hat. Nein – der Unterschied liegt in der Art der Verantwortung des einen und des anderen, und von da aus bestimmt sich allerdings weitgehend auch die Art der Anforderungen, die an die Eigenart beider gestellt werden. Ein Beamter, der einen nach seiner Ansicht verkehrten Befehl erhält, kann – und soll – Vorstellungen erheben. Beharrt die vorgesetzte Stelle bei ihrer Anweisung, so ist es nicht nur seine Pflicht, sondern seine Ehre, sie so auszuführen, als ob sie seiner eigensten Überzeugung entspräche, und dadurch zu zeigen: dass sein Amtspflichtgefühl über seiner Eigenwilligkeit steht. Ob die vorgesetzte Stelle eine „Behörde“ oder eine „Körperschaft“ oder „Versammlung“ ist, von der er ein imperatives Mandat hat, ist gleichgültig. So will es der Geist des Amtes. Ein politischer Leiter, der so handeln würde, verdiente Verachtung. Er wird oft genötigt sein, Kompromisse zu schließen, das heißt: Unwichtigeres dem Wichtigeren zu opfern. Bringt er es aber nicht fertig, seinem Herrn (er sei der Monarch oder der Demos) zu sagen: entweder ich erhalte jetzt diese Instruktion oder ich gehe, so ist er ein elender „Kleber“, wie Bismarck diesen Typus getauft hat, und kein Führer. „Über den Parteien“, das heißt aber in Wahrheit: außerhalb des Kampfes um eigene Macht, soll der Beamte stehen. Kampf um eigene Macht und die aus dieser Macht folgende Eigenverantwortung für seine Sache ist das Lebenselement: des Politikers wie des Unternehmers.

 

Deutschland wurde seit dem Rücktritt des Fürsten Bismarck von „Beamten“ (im geistigen Sinne des Wortes) regiert, weil Bismarck alle politischen Köpfe neben sich ausgeschaltet hatte. Deutschland behielt nach wie vor die an Integrität, Bildung, Gewissenhaftigkeit und Intelligenz höchststehende militärische und zivile Bürokratie der Welt. Die deutsche Leistung im Kriege draußen und im Großen und Ganzen auch in der Heimat hat gezeigt, was mit diesen Mitteln auszurichten ist. Aber – die Leitung der deutschen Politik in den letzten Jahrzehnten? Noch das Freundlichste, was man über sie gesagt hat, war: dass „die Siege der deutschen Heere ihre Niederlagen wieder wettgemacht“ haben. Mit welchen Opfern – davon soll geschwiegen und vielmehr nach den Gründen dieser Misserfolge gefragt werden.

Das Ausland bildet sich ein: die deutsche „Autokratie“ sei der Fehler. Im Inland glaubt man, dank den kindlichen Geschichtsspekulationen unserer Literaten, vielfach umgekehrt: eine Verschwörung der internationalen „Demokratie“ gegen Deutschland habe die unnatürliche Weltkoalition gegen uns zustande gebracht. Das Ausland arbeitet mit der heuchlerischen Phrase von der „Befreiung der Deutschen“ von jener Autokratie. Im Inland arbeiten die Interessenten des bisherigen Systems – wir werden sie noch kennenlernen – mit der ebenso heuchlerischen Phrase von der Notwendigkeit, den „deutschen Geist“ vor der Befleckung durch die „Demokratie“ zu schützen, oder sucht nach anderen Sündenböcken.

Es ist z. B. üblich geworden, auf die deutsche Diplomatie zu schelten. Vermutlich mit Unrecht. Im Durchschnitt war sie wahrscheinlich genau so gut wie die anderer Länder. Es liegt da eine Verwechslung vor. Was fehlte, war: die Leitung des Staatswesens durch einen Politiker – nicht etwa: durch ein politisches Genie, was man nur alle Jahrhunderte einmal erwarten kann, nicht einmal durch eine bedeutende politische Begabung, sondern: durch einen Politiker überhaupt.

Damit sind wir schon bei der Besprechung jener beiden Mächte, die allein neben dem alles umspinnenden Beamtentum im Leben des modernen konstitutionellen Staates eine Rolle als kontrollierende und richtungweisende Instanzen zu spielen in der Lage sind: dem Monarchen und dem Parlament. Zunächst: von dem ersteren.

Die Stellung der deutschen Dynastien wird aus dem Kriege unerschüttert hervorgehen, es sei denn, dass sehr große Unklugheiten begangen und aus den Mängeln der Vergangenheit gar nichts gelernt würde. Schon lange vor dem 4. August 1914 konnte, wer Gelegenheit hatte, mit deutschen Sozialdemokraten – ich spreche hier nicht von „Revisionisten“, auch nicht von Abgeordneten der Partei oder Gewerkschaftlern, sondern gerade von teilweise sehr radikal gesinnten Parteibeamten – längere Zeit zusammenzusitzen, nach eingehenden Erörterungen fast stets zugestanden erhalten, dass „an sich“ für die besondere internationale Lage Deutschlands die konstitutionelle Monarchie die gegebene Staatsform sei. Man braucht in der Tat nur einen Augenblick jetzt nach Russland zu blicken, um zu sehen: dass der von den liberalen Politikern gewünschte Übergang zur parlamentarischen Monarchie einerseits die Dynastie erhalten, andererseits die nackte Bürokratenherrschaft beseitigt und im Resultat ebenso viel zur Stärkung Russlands beigetragen hätte, wie jetzt diese Form der Literaten-„Republik“, allem subjektiven Idealismus der Führer zum Trotz, zu seiner Schwächung.


Alexander Fjodorowitsch Kerenskij (* in Simbirsk; † 11. Juni 1970 in New York, USA) war ein russischer Politiker der Trudowiki bzw. Sozialrevolutionäre.

[Da von russischer Seite mir gegenüber behauptet wurde, Herr Kerenskij habe diesen Satz aus der „Frankfurter Zeitung“ in Versammlungen zitiert, um die Notwendigkeit seiner Offensive als Beweis der „Stärke“ darzutun, so sei für diesen Totengräber der jungen russischen Freiheit ausdrücklich bemerkt: Eine Offensive kann veranstalten, wer über die sachlichen Kriegsmittel verfügt, z. B. über die Artillerie um die vor ihr liegende Infanterie in den Schützengräben niederzuhalten, und über die Verkehrsmittel und Vorräte, um die in die Schützengräben gebannten Soldaten überdies die Abhängigkeit ihrer Ernährung von sich fehlen zulassen. Die „Schwäche“ der sogenannten sozialrevolutionären Regierung des Herrn Kerenskij aber lag in ihrer Kreditunwürdigkeil, wie anderwärts dargelegt wurde, und in der Notwendigkeit, um Kredit zur Erhaltung der eigenen Herrschaft im Inland zu erhalten, seinen Idealismus zu verleugnen, mit der bürgerlichen imperialistischen Entente zu paktieren und also Hunderttausende seiner eigenen Landsleute als Söldner fremder Interessen bluten zu lassen, wie es seither geschehen ist. Ich glaube, mit dieser wie mit anderen Voraussagen, die ich an anderer Stelle über Russlands Haltung machte, leider Recht behalten zu haben. (Ich lasse die vor vielen Monaten geschriebene Stelle auch. jetzt stehen. W.)] Alle Stärke des britischen Parlamentarismus hängt, wie man in England sehr gut weiß, mit der Tatsache zusammen, dass die formell höchste Stelle im Staat ein- für allemal besetzt ist. Worauf diese Funktion der bloßen Existenz eines Monarchen beruht, ist hier nicht zu erörtern. Ebenso nicht, ob dies unvermeidlich überall gerade nur ein Monarch zu leisten vermöchte. Für Deutschland ist jedenfalls die Lage in dieser Hinsicht gegeben. Es kann uns nicht nach einem Zeitalter der Prätendentenkriege und Gegenrevolutionen gelüsten; dazu ist unsere Existenz international zu bedroht.

Allein: ein Gegengewicht und ein Kontrollmittel gegen die alles umfassende Macht des Fachbeamtentums ist der Monarch als solcher unter den Verhältnissen des modernen Staates niemals und nirgends und kann es auch gar nicht sein. Er kann die Verwaltung nicht kontrollieren. Denn diese Verwaltung ist fachgeschulte Verwaltung und ein moderner Monarch ist, außerhalb allenfalls des militärischen Gebiets, nie ein Fachmann. Vor allem aber – das geht uns hier an – ist er als solcher niemals ein im Getriebe des Parteikampfes oder der Diplomatie geschulter Politiker. Seine ganze Erziehung nicht nur, sondern vor allem seine staatliche Stellung wirkt dem schlechterdings entgegen. Nicht im Kampf der Parteien gewann er seine Krone, und nicht der Kampf um die Macht im Staat ist seine natürliche Lebensluft, wie sie die des Politikers immer ist. Er lernt die Bedingungen des Kampfes nicht durch eigenes Hinabsteigen in die Arena am eigenen Leibe kennen, ist vielmehr durch sein Privileg den Rücksichtslosigkeiten des Kampfes entrückt. Es gibt: den geborenen Politiker, – aber er ist selten. Der Monarch aber, der das nicht ist, wird dann seinen eigenen und den Staatsinteressen sehr gefährlich, wenn er versucht, wie es der Zar tat, „selbst zu regieren“, oder mit den Mitteln des Politikers: „Demagogie“ im weitesten Sinn des Wortes, durch Rede und Schrift zur Propaganda der eigenen Ideen oder der eigenen Persönlichkeit auf die Welt zu wirken. Dann spielt er nicht nur um seine Krone – das wäre seine Privatangelegenheit –, sondern um die Existenz seines Staates. Und in jene Versuchung, ja geradezu Notwendigkeit, gerät ein moderner Monarch unweigerlich immer wieder, wenn ihm niemand anders als nur die Beamten im Staate gegenüberstehen, wenn also das Parlament machtlos ist, wie es in Deutschland jahrzehntelang der Fall war. Schon rein technisch hat das schwere Nachteile. Der Monarch ist heute, wenn kein machtvolles Parlament neben ihm steht, zur Kontrolle der Amtsführung der Beamten auf die Berichte anderer Beamter angewiesen. Alles dreht sich dabei im Kreise herum. Der beständige Krieg der verschiedenen Ressorts gegeneinander, der z. B. für Russland typisch war und auch bei uns bis in die Gegenwart hinein herrscht, ist die selbstverständliche Folge einer solchen angeblich „monarchischen“ Regierung, bei welcher ein leitender Politiker fehlt. Denn es handelt sich ja bei diesem Satrapenkampf in erster Linie meist nicht nur um sachliche, sondern um persönliche Gegensätze: der Kampf der Ressorts dient deren Chefs als Konkurrenzmittel um die Ministerstellen, wenn diese lediglich als Beamtenpfründen behandelt werden. Nicht sachliche Gründe oder politische Führerqualitäten, sondern höfische Intrigen entscheiden dann darüber, wer sich in den leitenden Stellungen behauptet. Jedermann weiß, dass persönliche Machtkämpfe die parlamentarischen Staaten erfüllen. Der Irrtum ist nur: zu glauben, es sei in Monarchien irgendwie anders. Dort tritt ein anderes Übel hinzu. Der Monarch glaubt, selbst zu regieren, während in Wahrheit das Beamtentum sich des Privilegs erfreut, gedeckt durch ihn, unkontrolliert und verantwortungslos schalten zu können. Dem Monarchen wird geschmeichelt und ihm, weil er die Person des leitenden Ministers nach persönlichem Belieben wechseln kann, der romantische Schein der Macht gezeigt. In Wahrheit haben Monarchen wie Eduard VII. und Leopold II., obwohl gewiss keine idealen Persönlichkeiten, weit mehr reale Macht in Händen gehabt, obschon und weil sie in streng parlamentarischer Form regierten und niemals oder doch nie anders als in diesen Formen öffentlich hervortraten. Es ist Ignoranz, wenn die moderne Literatenphrase solche Monarchen als „Schattenkönige“ hinstellt, und eine Dummheit, wenn sie den moralischen Klatsch der Spießbürger zum Maßstab des politischen Urteils über sie macht.


Eduard VII. (englisch „Edward VII,“ gebürtig Kronprinz Albert Edward; * 9. November 1841 im Buckingham Palace, London; † 6. Mai 1910 ebenda) war vom 22. Januar 1901 bis zu seinem Tod König des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Irland und Kaiser von Indien


Leopold II. (* 9. April 1835 in Brüssel; † 17. Dezember 1909 auf Schloss Laeken, Brüssel; eigentlich „Leopold Ludwig Philipp Maria Viktor“, französisch „Léopold Louis Philippe Marie Victor“, niederländisch „Leopold Lodewijk Filips Maria Victor“) aus dem Haus Sachsen-Coburg und Gotha war bis 1865 Herzog von Brabant und Prinz von Belgien und folgte seinem Vater Leopold

Die Weltgeschichte wird anders urteilen, auch wenn ihr Werk – wie so manches andere große politische Projekt – letztlich scheitert. Eine weltumspannende Koalition hat der eine, der selbst seine Hofbeamten je nach den Parteikonstellationen wechseln musste, ein riesenhaftes Kolonialreich (verglichen mit unseren Koloniefragmenten!) der andere, der einen Kleinstaat regierte, zusammengefügt. Wer, als Monarch oder Minister, politisch führen will, muss auf den modernen Instrumenten der Macht zu spielen wissen. Nur den politisch unbegabten Monarchen schaltet das parlamentarische System aus – zum Heil der Macht des Landes! Und ist das ein „Nachtwächterstaat“, der es verstand, der eigenen, an Zahl eng begrenzten Nation die besten Teile aller Kontinente anzugliedern? Welch spießerhaftes Literatengeschwätz ist doch diese recht stark nach dem Ressentiment des „Untertanen“ schmeckende, abgegriffene Redensart! –

 

Nun zum Parlament.

Die modernen Parlamente sind in erster Linie Vertretungen der durch die Mittel der Bürokratie Beherrschten. Ein gewisses Minimum von innerer Zustimmung mindestens der sozial gewichtigen Schichten der Beherrschten ist ja Vorbedingung der Dauer einer jeden, auch der bestorganisierten, Herrschaft. Die Parlamente sind heute das Mittel, dies Minimum von Zustimmung äußerlich zu manifestieren. Für gewisse Akte der öffentlichen Gewalten ist die Form der Vereinbarung durch Gesetz nach vorheriger Beratung mit dem Parlament obligatorisch, und zu diesen gehört vor allem: der Haushaltsplan. Heute wie seit der Zeit der Entstehung der Ständerechte ist die Verfügung über die Art der Geldbeschaffung des Staates: das Budgetrecht, das entscheidende parlamentarische Machtmittel. Solange freilich ein Parlament nur durch Verweigerung von Geldmitteln und Ablehnung der Zustimmung zu Gesetzesvorschlägen oder durch unmaßgebliche Anträge den Beschwerden der Bevölkerung gegenüber der Verwaltung Nachdruck verleihen kann, ist es von positiver Anteilnahme an der politischen Leitung ausgeschlossen. Es kann und wird dann nur „negative Politik“ treiben, d. h.: den Verwaltungsleitern wie eine feindliche Macht gegenüberstehen, von ihnen als solche mit dem unentbehrlichen Minimum von Auskunft abgespeist und nur als Hemmschuh, als eine Versammlung impotenter Nörgler und Besserwisser gewertet. Die Bürokratie andererseits gilt dann dem Parlament und seinen Wählern leicht als eine Kaste von Strebern und Bütteln, denen das Volk als Objekt ihrer lästigen und zum guten Teil überflüssigen Künste gegenüberstehe. Anders, wo das Parlament durchgesetzt hat, dass die Verwaltungsleiter entweder geradezu aus seiner Mitte entnommen werden müssen („parlamentarisches System“ im eigentlichen Sinn) oder doch, um im Amt zu bleiben, des ausdrücklich ausgesprochenen Vertrauens seiner Mehrheit bedürfen oder wenigstens der Bekundung des Misstrauens weichen müssen ( parlamentarische Auslese der Führer) und aus diesem Grunde, erschöpfend und unter Nachprüfung des Parlaments oder seiner Ausschüsse, Rede und Antwort stehen ( parlamentarische Verantwortlichkeit der Führer) und die Verwaltung nach den vom Parlament gebilligten Richtlinien führen müssen (parlamentarische Verwaltungskontrolle). In diesem Fall sind die Führer der jeweils ausschlaggebenden Parteien des Parlaments notwendig positive Mitträger der Staatsgewalt. Das Parlament ist dann ein Faktor positiver Politik neben dem Monarchen, der dann nicht oder wenigstens nicht vorwiegend, jedenfalls nicht ausschließlich, kraft seiner formalen Kronrechte, sondern kraft seines unter allen Umständen sehr großen Einflusses die Politik mitbestimmt, verschieden stark also je nach seiner politischen Klugheit und Zielbewusstheit. In diesem Fall spricht man, einerlei ob mit Recht oder Unrecht, vom „Volksstaat“, während ein Parlament der Beherrschten mit negativer Politik gegenüber einer herrschenden Bürokratie eine Spielart des „Obrigkeitsstaats“ darstellt. Uns interessiert hier die praktische Bedeutung der Stellung des Parlaments.

Man mag den parlamentarischen Betrieb hassen oder lieben, beseitigen wird man ihn nicht. Man kann ihn nur politisch machtlos machen, wie Bismarck es mit dem Reichstag getan hat. Die Machtlosigkeit des Parlaments aber äußert sich außer in den allgemeinen Konsequenzen der „negativen Politik“ in folgenden Erscheinungen. Jeder parlamentarische Kampf ist selbstverständlich ein Kampf nicht nur um sachliche Gegensätze, sondern ebenso: um persönliche Macht. Wo die Machtstellung des Parlaments es mit sich bringt, dass der Monarch in aller Regel den Vertrauensmann der entschiedenen Mehrheit mit der Leitung der Politik betraut, richtet sich dieser Machtkampf der Parteien auf die Erlangung dieser höchsten politischen Stellung. Es sind dann die Leute mit großem politischem Machtinstinkt und mit den ausgeprägtesten politischen Führerqualitäten, welche ihn durchfechten und welche also die Chance haben, in die leitenden Stellungen zu kommen. Denn die Existenz der Partei im Lande und alle die zahllosen ideellen und zum Teil sehr materiellen Interessen, welche damit verknüpft sind, erheischen dann gebieterisch, dass eine mit Führereigenschaften ausgestattete Persönlichkeit an die Spitze kommt. Es besteht dann, und nur dann, der Anreiz für die politischen Temperamente und politischen Begabungen, sich der Auslese dieses Konkurrenzkampfes zu unterziehen.

Ganz anders, wenn unter der Firma: „monarchische Regierung“ die Besetzung der höchsten Stellen im Staate Gegenstand des Beamtenavancements oder höfischer Zufallsbekanntschaften ist, und wenn ein machtloses Parlament diese Art der Zusammensetzung der Regierung über sich ergehen lassen muss. Auch dann wirkt sich natürlich innerhalb des parlamentarischen Kampfes neben den sachlichen Gegensätzen der persönliche Machtehrgeiz aus. Aber in ganz anderen: subalternen, Formen und Richtungen. In der Richtung, welche er seit 1890 in Deutschland eingeschlagen hat. Neben der Vertretung von lokalen wirtschaftlichen Privatinteressen einflussreicher Wähler ist dann die kleine, subalterne Patronage ausschließlich der Punkt, um den sich letztlich alles dreht.


Bernhard Heinrich Martin Karl von Bülow, ab 1899 Graf, ab 1905 Fürst von Bülow (* 3. Mai 1849 in Klein Flottbek; † 28. Oktober 1929 in Rom), war ein deutscher Politiker und Staatsmann. Seit 1897 war er Staatssekretär des Äußeren und von Oktober 1900 bis Juli 1909 Reichskanzler des Deutschen Kaiserreichs

Der Konflikt zwischen dem Reichskanzler Fürsten Bülow und dem Zentrum z. B. entstand nicht über sachliche Meinungsgegensätze, sondern es war wesentlich der Versuch des damaligen Kanzlers, sich jener Ämterpatronage des Zentrums zu entziehen, welche noch heute der Personalzusammensetzung mancher Reichsbehörden in starkem Maße das Gepräge gibt. Und das Zentrum steht darin nicht allein. Die konservativen Parteien haben das Ämtermonopol in Preußen und suchen den Monarchen mit dem Gespenst der „Revolution“ einzuschüchtern, sobald diese Pfründeninteressen bedroht werden. Die von den Staatsämtern durch sie dauernd ausgeschlossenen Parteien aber suchen für sich Entschädigung in Gemeinde- oder Krankenkassen-Verwaltungen und treiben, wie früher die Sozialdemokratie, im Parlament eine staatsfeindliche oder staatsfremde Politik. Dies ist selbstverständlich. Denn jede Partei erstrebt als solche: Macht, das heißt: Anteil an der Verwaltung und also: am Einfluss auf die Ämterbesetzung. Den haben die herrschenden Schichten bei uns in einem Maße wie nur irgendwo sonst. Nur dass sie der Verantwortung dafür entzogen sind, weil die Stellenjagd und Patronage hinter den Kulissen vor sich geht und sich auf die unteren, für die Personalien nicht verantwortlichen Stellen erstreckt. Das Beamtentum aber findet bei uns seine Rechnung dabei, seinerseits persönlich unkontrolliert zu schalten, dafür aber den maßgebenden Parteien in Gestalt jener kleinen Pfründenpatronage die erforderlichen Trinkgelder zu zahlen. Dies ist die selbstverständliche Folge davon, dass die Partei (oder Parteikoalition), in deren Hand jeweils tatsächlich die Mehrheitsbildung für oder gegen die Regierung im Parlament liegt, nicht als solche offiziell zur Besetzung des verantwortlichen höchsten politischen Postens berufen wird.

You have finished the free preview. Would you like to read more?