Pechpilz

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Pechpilz

Ein schräger Vogel auf Glückssuche

Matthias Naas

Roman


Impressum

Texte: 2018 © Copyright by Matthias Naas

www.matthias-naas.de

Umschlag &

Zeichnung: 2017 © Copyright by Julian Bock Kontakt: deafman@gmx.de

Verleger: Matthias Naas

Karlsbader Str. 36, 64295 DA mail@matthias-naas.de

Druck: epubli ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Zu diesem Buch

Philip und seine Zukünftige, Steffi, erwarten ein Kind. Doch der vom Pech verfolgte Ehemann interessiert sich weiterhin wesentlich mehr für seine Kumpel, seinen Fußballverein und den damit verbundenen Trinkeskapaden, wodurch er ständig am Feuer löschen ist.

Das neue Familienleben bis hin zum Erwachsenwerden seiner Kinder, treibt Philips jugendliche Männlichkeit an den Rand des Abgrunds. Noch versteht er nicht, warum auf einmal Schluss sein soll mit lustig und warum das Glück an ihm vorbeizieht.

Bis zu dem Tag, als seine Tochter den ersten Freund nach Hause bringt.

Matthias Naas, geboren 1969 in Darmstadt lebt dort noch heute mit seiner Familie.

Durch die Lehre zum Schriftsetzer und den damit verbundenen Berührungen mit Buchstaben aus Blei wuchs der Drang, eigene Sätze zu formen und zu Papier zu bringen.

Seit dem Jahr 2000 selbständiger Unternehmer. Somit blieb vom Bleisatz nur der Bleistift, der unermüdlich im Hinterhof seiner Gedanken weitertobte.

Der Autor reist viel durch die Welt, legt Wert auf Familie und Freunde, die er gerne im Fußballstadion oder am Tresen trifft. Mit diesen Eindrücken im Gepäck formt der Bleistift Buchstaben zu Sätzen, welche nun in gebündelter Form, nach HENRY – Ein Abgesang, als sein zweiter Roman mit dem Titel PECHPILZ ans Licht der Öffentlichkeit drängen.

Bisherige Veröffentlichungen:

1992 Gedichtband des Verlag Freidhof:

Deutschlands neue Dichter & Denker

2015 Roman: HENRY – Ein Abgesang, M&V Verlag

2015 Filmtrailer zum Buch / Grünewald Buchtrailer

2018 PECHPILZ – Ein schräger Vogel auf Glückssuche

Autorenwebsite: www.matthias-naas.de

Für alle Siegersamen

Das Glück besteht nicht darin,

dass du tun kannst, was du willst,

sondern darin, dass du immer willst,

was du tust.

Leo (Lew) Nikolajewitsch Graf Tolstoi

I

Zu Recht plagten mich Selbstzweifel, während meine zittrigen Finger die kalten Eisenstangen umklammerten. Dafür lächelte mein Opa Karl glückselig und entspannt, rücklings auf der steifen Hartschaummatratze liegend, zur Decke empor.

Die Polizeibeamten auf der städtischen Station schenkten meinem seichten Wimmern keinerlei Beachtung mehr. Aber was will man um sechs Uhr morgens erwarten, wenn man die Nacht hindurch das gesamte Darmstädter Präsidium auf Trab gehalten hatte. Obendrein schienen die Polizisten hauptsächlich damit beschäftigt, unsere Angehörigen ans Telefon zu bekommen, in der Hoffnung, dass diese uns abholen würden.

Ein 84jähriger, im Leichtsinn lebender Greis und ich, sein Enkel, der eifersüchtige Vater einer jungen Tochter, hatten uns diese verfahrene Situation eingebrockt. Zusammen mit dem bei mir in vertrauensvoller Obhut geglaubten, verängstigten Pseudo-Kampfhund meines Freundes, sowie einem unschuldigen Opfer und einer entführten Schnappschildkröte.

Wie hatte ich Opa nur da mit reinziehen können, fragte ich mich? Und warum nur, hatte ich erneut solch einen Mist verzapfen müssen? Hatte mein Umfeld durch die Fußballleidenschaft und die unzähligen Missgeschicke der vorangegangenen Jahre nicht genug gelitten?

Doch ich hatte ebenfalls eingesteckt, obwohl ich mich abgemüht hatte, den Fettnäpfen nach Möglichkeit aus dem Wege zu gehen. Hatte doch alles mit den zwei Sätzen meiner vierzehnjährigen Tochter begonnen: »Papa, heute kommt mein Freund Ali zu uns, um mich abzuholen. Sei nett zu ihm, okay?«

Diese Sätze raubten mir den letzten Atem, wie ich ihn des Öfteren von Steffi, meiner Gattin, geraubt hatte. Die unvergleichliche Frau, die dem jahrelangen Chaos wacker standgehalten hatte. Zumindest bis gestern, als ich noch in Freiheit war!

Alles hatte mit unseren scheinbar so harmlosen Zukunftsplänen angefangen. Doch bestand das wahre Glück in einer Vorzeige-Hochzeit und aus einem modernen Einfamilienhaus? Oder lag das Glück nicht doch wo anders? Wüsste ich es, würde ich jetzt wie Opa Karl, zufrieden daliegen mit einem Lächeln auf den Lippen.

Einen Löwenanteil an diesem Scherbenhaufen trug sicher unser Architekt Christian mit seiner neu erbauten siebener Reihenhauskette! Dort, wo wir supergünstig das letzte freie Haus erworben hatten, gab es unterm Dach für zwei Kinder ein eigenes Zimmer mit Gemeinschaftsbad. Ein Geschoss tiefer lag unser Schlafzimmer mit Platz für ein klassisches Ehebett und daneben ein zusätzliches Badezimmer. Außerdem Steffis Arbeitszimmer, in welchem sie nach der Geburt plant, ihre Anwaltsfälle zum Thema Familienrecht zu bearbeiten. Das war zumindest in deshalb klasse, weil diese mittlere Etage meine TV-Fußballwelt im Wohnzimmer des Erdgeschosses von der der Kinder trennte. Ergo reichlich Ruhe für mich!

Wie ich einige Jahre später einsehen musste, war dies ein überlebenswichtiger Puffer zwischen mir und dem geschmacksfreien Musikgruppen-Wandposter-Cocktail in dem Zimmer meiner Tochter. Der bestand aus dem Blondschopf von Sunrise Avenue, dem Sänger und Traum aller Schwiegermütter von Revolverheld sowie den Vollblut-Gangstern Bushido und Kay-One. Dafür schien die Kommunikation wie abgeschnitten. Hier die Welt der Kinder, dort das Reich der Eltern.

Und für den Fall, dass das gemeinsame Familienleben eskalieren drohe oder die Familienbrut eines Tages zusätzlich das Wohnzimmer für sich in Beschlag nehmen würde, so könnte ich im Notfall die ungenutzten Kellerräume beziehen. Oh ja, einen Keller hatten wir ebenfalls. Den hatte uns damals der Architekten-Christian, der gleichzeitig Bauherr und Grundstückseigentümer in einer Person war, für günstige zwanzigtausend Euro zusätzlich aufgeschwatzt. Steffi fand den dufte ich weniger. Jeder seiner Vorschläge war sooo toll und alles ergab ja sooo einen Sinn.

Eine vierköpfige Familie in einem Haus ohne Keller, das wäre doch eine mittlere Katastrophe, hatte der verkaufstüchtige Tausendsassa gemeint. Das war schlau von ihm. Steffi war zu dem Zeitpunkt mit Isabell schwanger gewesen. An ein zweites Kind hatte ich nicht einmal gedacht. Wohl aber Steffi. Wo wir denn sonst die vielen Sachen verstauen wollten, wenn nicht im Keller, hatte er geschickt gefragt. Da das Reihenmittelhaus zwar in dritter von drei Reihen voll Hasenhütten lag, kam bei der Reihenhausversion mit Keller dafür kostenfrei eine Fußbodenheizung hinzu. Steffi war liebenswert in ihrer offenen Art und unbegrenzt begeisterungsfähig. Ein Traum für jeden GEZ-Vertreter. Trotzdem Eigenschaften, die ich bedingungslos an ihr liebte, die aber zu meinem Leidwesen meist zu kostspieligen Entscheidungen führten.

Aber damit war der Kostensteigerungsspießrutenlauf keineswegs am Ende angelangt, denn die dicken Fliesen aus Spanien vom Fliesen-Wunsch seien doch bedeutend empfehlenswerter. Da diese in der Lage wären, Wärme einzulagern, im Gegensatz zu solch dünnen, günstigen vom Baumarkt. Und durch die Kombination mit den vorteilhafteren Upgrade-Fenstern in Vierfachverglasung, würden wir im Haus enorme Energiekosten einsparen. Das alles für lediglich dreißigtausend Euro extra, was erst später zur Sprache hatte kommen sollen. Im Gegenzug erhielten wir seinerzeit das Ausstattungspaket mit dem Namen Green Earth anstatt Basic. »Freund« Christian hatte es eine Investition in die Zukunft genannt, die sich in ein paar Jahren bezahlt machen würde. Das hatte meiner grün angehauchten Steffi gefallen. Im Besonderen, da er uns hatte versprechen können, dass alles innerhalb von vier Wochen nach der Kaufvertragsunterzeichnung fertiggestellt sein würde rechtzeitig vor unserer geplanten Hochzeit und der Geburt unseres Babys. Ein Widerspruch wäre zwecklos! Umweltschonend, wie sie beide versuchten, mir zu erklären. Mit Erfolg.

 

Mittlerweile überkam mich das Gefühl, dass Christian selbst wesentlich dufter sei als ich. Klar, er hatte diese von Frauen geliebten Einmeterzweiundneunzig, war gebildet, erfolgreich, blond und stets gleichmäßig gebräunt. Dazu täglich sportlich aktiv, was ihn in meinen Augen nicht sympathischer darstellte. Obendrein seine charmante Art mit Frauen zu plaudern – Hölle! Jammern half da nichts, gegen den sah ich mich außerstande anzustänkern. Dafür würde er niemals, so wie ich einmal, Darts-Weltmeister werden, oder herausfinden, wie man mit einem Feuerzeug eine Flasche Bier öffnet.

Letzten Endes spielte meine Meinung keine Rolle. Steffi hörte ausschließlich auf Mr. Dufte. Ich sagte, lass uns die braunen Fliesen vom Bauhaus, die klassischen Armaturen vom Praktiker sowie ein paar Eimer Alpina-Weiß kaufen. Dann fragen wir mal im Bekanntenkreis, wer uns das verarbeiten kann, fertig wäre das Haus. Nein, meine Gattin meinte, Christian hätte einen besseren Geschmack. Was kam dabei heraus? Terrakotta-Fliesen, die extra für uns gebrannt wurden, Villeroy & Boch-Armaturen, Modell Classico und eine Innenwandfarbe mit dem behaglichen Namen Casa Ala Blanca. Zumindest weiß. Ansonsten gleicher Käse, nur dreimal so teuer!

Ich steckte zu diesem Zeitpunkt in einer Zwickmühle, weswegen es mir klüger erschien, mich unauffällig und gehorsam zu verhalten. Wir suchten schon einige Monate erfolglos ein gemeinsames Heim. Dort zu klein, da zu teuer, miese Lage, kein Kindergarten und Supermarkt in der Nähe. Das übliche Wunschkonzert von angehenden Eltern, die planten zusammenzuziehen, um eine Familie zu gründen. Ein freistehendes Haus mit Fußballfeldgroßem Garten, auf dessen Rasenfläche die Kinder kicken könnten, war meine Ansage. Bezahlen, so tönte ich, sei für mich kein Problem. Ersparnisse und ein sicherer Job ergäben eine Wahnsinns-Bonität, erklärte ich ebenso Steffis Vater, der seit er mich das erste Mal traf, an mir gezweifelt hatte und sich um seine Tochter sorgte.

Und die finsterste Realität holt einen spätestens dann wieder ein, wenn man vor dem Finanzberater seiner Hausbank sitzt. Hoffend auf den besten Deal, denn man ist ja schon über dreißig Jahre Kunde bei der Bank. Da half einem das sorgfältig aufbewahrte Jeans-Sparbuch nichts, wie ich feststellen musste. Und dabei sah meines tipptopp gepflegt aus. Als ich es mit geschwellter Brust dem Berater auf den Tisch legte, war ich der Meinung, dass er mir ein günstiges Finanzierungsangebot machen würde. Doch ich verstand umgehend, dass ich mich irrte. Dieser Typ mit Mitte zwanzig hatte eindeutig keinen Schimmer, wie kostbar das Jeans-Sparbuch für unsere Generation gewesen war.

Als dieser daraufhin was von zwanzig Prozent Eigenkapital faselte, schrie ich ihn an: »Damals bekam man wenigstens noch Zinsen!« Er erwiderte trocken, mein Sparbuch habe mit einem damaligen Guthaben von 1.898 D-Mark weitaus weniger Zinsen in den vergangenen zwei Jahrzehnten eingebracht, wie ich es womöglich annehmen würde.

Meine Unmutsäußerung war dann das Letzte, was ich zu dem Thema sagte, bevor Steffi mir Redeverbot auferlegte und daraufhin das Betteln um Geld übernahm, indem sie mit Papi telefonierte, der uns unter Auflagen rettete. Für mich bedeutete es, dass ich Verträge unterschrieb, die mich dazu verdammten, dass ich die kommenden dreißig Jahre fünfunddreißig Prozent meines monatlichen Gehalts an die Bank abzuführen hatte. Dazu weitere fünf Prozent für einen erstklassigen Bausparvertrag, der das alles ablösen sollte, wenn ich ergraut sein würde. Das Haus dafür im Anschluss aber unser Eigentum wäre und das klang vernünftig. Doch das Beste: Meine Ersparnisse mussten nicht geopfert werden. Steffi empfand den Jeans-Sparbuch-Versuch ziemlich megapeinlich. Zumal der Bankmann zu allem Überfluss fragte, ob ich es auflösen wollen würde, um das Guthaben dem Girokonto gutzuschreiben. Dezent zickig verneinte ich das mit den Worten, dass ich plane, es für »schwere Zeiten« aufzuheben.

»Kannst du mir mal verraten, wie du mit nicht einmal eintausend Euro ein Haus kaufen wolltest?«, schrie Steffi lauthals, als wir auf den Stufen vor dem Sparkassenpalast standen und das war bei genauer Betrachtung eine durchaus berechtigte Frage. Ich hatte zwar knapp fünftausend Euro auf meinem Girokonto übrig, aber selbst zusammen reichte es nicht mal dafür, einen gebrauchten Kleinwagen zu kaufen.

Steffis Vater ermöglichte uns ein privates Darlehen, dass das benötigte Eigenkapital für die Bank abdecken sollte. Dafür musste unser Haus aber auf Steffis Namen eingeschrieben werden. Nur so zur Absicherung, wie der Herr Papa versicherte. Nicht, dass ich mich mit dem Haus unterm Arm absetzen würde, dachte er womöglich insgeheim. Obendrein sollte aber nur ich als Familienernährer das Darlehen der Bank, wie seines, monatlich bedienen. Ich habe in meinem Leben wahrlich schlauere Deals fabriziert, aber dieser war unverzeihlich. Andererseits, Unterhaltszahlungen hätten sich ähnlich verheerend auf mein Einkommen ausgewirkt, wo ich doch bald Vater werden sollte.

Schlaue Menschen behaupten, man habe immer eine Wahl. Ich hatte keine. Obendrein stand unsere Hochzeit an, für die mein restliches Erspartes draufgehen sollte. Außerdem kristallisierte sich langsam heraus, dass mein überaus geliebter Fußballverein, die Darmstädter Lilien, es in die Relegationsspiele schaffen würden. Und das bedeutete für mich letztendlich, dass das Rückspiel der beiden Aufstiegsspiele zur Zweiten Bundesliga auf den Tag vor unserer standesamtlichen Trauung fallen würde. Deshalb war ich gut beraten, ausreichend Pluspunkte bei Steffi im Vorfeld zu hamstern, denn es kam so, wie vorhergesehen.

Spielbeginn zwanzig Uhr dreißig, aber leider in Bielefeld. Das erforderte eine sorgfältige Reiseplanung von Darmstadt aus, damit ich Steffi glaubhaft versichern konnte, rechtzeitig zur Trauung zurück zu sein. Dies bedurfte nicht nur Mutes, sondern ebenso einer durchdachten Strategie. Es wurde in meinem Fall vor allem eines: kostspielig.

Ich weiß, was Frauen jetzt denken werden. Alles nur wegen eines doofen Fußballspiels und so. Aber das war etwas anderes. Etwas von größerer Bedeutung, denn es ging um das fast aussichtslose Rückspiel in der Relegation. Das Hinspiel in unserem Stadion drei Tage zuvor stellte kein Problem dar, aber eben dieses Rückspiel. Verpassen wollte ich keines der beiden. Eher hätte ich mich im nahegelegenen Woog-See ertränkt. Und so bat ich meine Freunde, den Junggesellenabschied auf den Tag des Rückspiels zu legen. Die Idee fand ich genial, zumal die sich im Zweifel etwas Dämliches hätten einfallen lassen. Sowas wie in einem Teletubby-Kostüm durch unsere Innenstadt zu laufen und lustige Trinkspielchen zu machen. Niemals hätten die mir beispielsweise eine Stripperin organisiert, die nackt aus einer Riesentorte springt, um sich anschließend auf meinem Schoß zu räkeln. Der Kniff: Über einen Junggesellenabend würde Steffi nicht meckern können, war man für die Pläne Anderer doch offensichtlich machtlos wie unwissend, was die Freunde planten.

Um Steffi weiter milde zu stimmen, lobte ich Christian in den Himmel, der mir im Verlaufe des Deals etwas zu eng mit Steffi wurde. Aber sie meinte, ich bräuchte mir bei ihm gar keine Sorgen zu machen, der interessiere sich nicht für das weibliche Geschlecht. Ich schluckte die Pille der Ungläubigkeit, verbeugte mich demütig vor ihr und fand die Auswahl der Innenwandfarben passend. Selbstredend benötigten wir dazu einen Keller, keine Frage. Zu dem Preis schien der gar geschenkt.

Zu jenem Zeitpunkt wurde mir verschwiegen, wie viel unser Baby zusätzlich zu den horrenden Lebenshaltungs und Darlehenskosten verschlingen würde. Als ich mich später einmal darüber auslassen sollte, meinte Steffi lapidar, dass ich doch gerne einmal auf meine Dauerkarte fürs Stadion verzichten könnte. Ebenso auf die kostspieligen Fahrten zu den Auswärtsspielen. Das saß! Ehrlich. Lieber hätte ich mir einen Arm abgehackt oder mir eine Niere oder die Leber herausschneiden lassen und in Rumänien vertickt.

Mein Plan mit Blick auf das Relegationsspiel am Vorabend der Trauung schien dafür brillant. Fand ich zumindest. Für mich und meine Freunde buchte ich den letztmöglichen Zug von Bielefeld zurück, um elf Uhr abends, und gegen zwei Uhr sollten wir daheim sein! Ich rechnete bis zu vier Minuten Nachspielzeit ein, Gedränge beim Rauslaufen, ebenfalls den Fußweg zur Haltestelle. Das alles sollte man in vierzig Minuten locker schaffen können. Sollte. Das verlorene 1:3 beim Hinspiel zu Hause trübte die Stimmung keinesfalls. Wir müssten drei Tore schießen. Und da wir in unserem Stadion nur eines in des Gegners Netz geballert hatten, schien die Hürde extrem hoch, aber die. Daher war davon auszugehen, dass es nichts zu Feiern gäbe. Ergo, wir locker den letzten Zug erreichen würden.

Im Grunde genommen klappte die Vorbereitung für den gefakten Junggesellenabschied spitze, quasi wie am Schnürchen. Thomas, mein alter guter Sportsfreund aus einem körperlich fitteren Lebensabschnitt, war Teil unserer Freundesgruppe und erhielt von mir klare Instruktionen, vier Tage vor dem geplanten Junggesellenabschied Steffi anzurufen. Er schien mir für diese Aufgabe der am geeignetste meiner Jungs, da er, bevor wir es überhaupt in Erwägung gezogen hatten, einmal verheiratet und geschieden war. Außerdem war er körperlich so robust, dass er nicht gleich einknicken würde, sollte Steffi losmotzen. Das Ziel war eindeutig. Er sollte ihr beibringen, dass sie mich demnächst zwecks eines Junggesellenabschieds entführen würden.

»Ihr habt wohl den Arsch offen, das ist ein Tag vor unserer Hochzeit!«, hörte ich sie nach anfänglicher Stille empört in den Hörer rufen.

Ich saß im Wohnzimmer und wusste: Das war der Anruf! Er hatte einen von mir vorgeschriebenen Text erhalten, den er nur abzulesen brauchte. Unter den jeweiligen Ansagen, die Thomas zu machen hatte, notierte ich die infrage kommenden Antworten von Steffi, damit er nicht gänzlich unvorbereitet dastand. Mein Tipp hatte gelautet: »Ihr spinnt doch völlig, das ist jetzt nicht euer Ernst!«

Ok, sie kam gleich mit dem offenen Arsch, was eine leichte Verschärfung darstellte. Als Nächstes sollte er sagen, dass sie sich dieser Verantwortung vollkommen bewusst wären und es ihnen ungemein leidtäte, es so kurzfristig arrangiert zu haben. Die Arbeit halt. Und sie würden ihr hoch und heilig schwören, mich rechtzeitig in der Nacht zurückzubringen. Wir würden eh nicht viel trinken. Zugegeben, den letzten Satz hätte ich mir sparen können. Der war riskant. Meine vorgefertigte Antwort lautete: »Ja klar, wie immer trinkt ihr nicht so viel. Fürwahr, ihr sauft trinken kann man das nicht mehr nennen.«

Aber hier lag ich vollkommen daneben. Der Zettel, den Thomas in der Hand hielt und der ihm vermutlich im nächsten Moment aus den Fingern glitt, war nicht mehr die Tinte wert.

»Thomas, du versuchst nicht ernsthaft mir das so zu verkaufen, oder? Und sage jetzt besser keinen Ton, sonst bekommen wir Streit, bevor ich mir gleich meinen Zukünftigen vorknöpfen werde. Ihr Schlaumeier meint ernsthaft, dass ihr mir das als Junggesellenabschied unterjubeln könnt? Wo ihr doch alle nach Bielefeld fahrt, um eure Lilien zu sehen?« Kurze Atempause. »Da brauchst du jetzt nicht rumzustammeln. Euer Noch-Junggeselle hat dümmlicherweise vorgestern die Bahntickets ausgedruckt und über Nacht im Drucker liegen lassen. Da habe ich mich gefragt, wann er geplant hat mir von Euren Plänen zu erzählen. So viel zum Thema Entführung!«, sprach sie in kernigem Ton.

Früher, als es keine mobilen Telefone gegeben hatte, hätte Steffi an diesem Punkt den Hörer auf die Gabel geknallt. So drückte sie nur die Auflegentaste und warf das Handteil geräuschvoll in die Schale. Jetzt saß ich da, zusammengesunken auf dem Sofa, im hintersten Eck unseres Wohnzimmers des neuen Hauses, in das wir frisch eingezogen waren. Ich wünschte mir in diesem Moment den duften Christian herbei, dass er mir mal geschwind einen Hinterausgang plant und sofort einbauen lässt. Aber wo kein Christian, da keine Tür. Und wo keine Tür, da hatte mich Steffi genau dort, wo sie mich haben wollte. In der Sofafalle. Ohne Möglichkeit zu entkommen.

Wie hatte ich nur vergessen können, die Bahntickets aus dem Drucker zu nehmen? Das war selten blöd.

Das war vermutlich der Hintergrund zum Sprichwort: »Lügen haben kurze Beine«, dachte ich für mich, als Steffi mich zur Rede stellte. Sie war nur einmeterneunundfünfzig groß. Dafür hatte sie einen langen Oberkörper. Folglich etwas kürzere Beine, die dennoch echt schnell bei mir waren. Trotzdem sah sie umwerfend aus, insbesondere wenn sie wütend war. Dann kamen die kleinen Grübchen prägnanter als beim Lachen zur Geltung, was ich normalerweise an ihr mochte. Dabei schleuderte ihr zum Pferdeschwanz gebundenes brünettes Haar peitschend von links nach rechts. Das stellte diese Art von Exzessen nicht minder sexy dar im Gegenteil. Mit ihrer ultrahippen Brille und dem erhobenen Zeigefinger hatte das etwas von einer strengen Lehrerin. Und Christian kam in jenem Moment erwartungsgemäß nicht. Es wäre seine einzige Chance gewesen, sich bei mir positiv zu verewigen.

 

Als sie auf mich zuschoss, waren die ersten Worte, die mir ins Gesicht schlugen, unsagbar laut. Es hörte sich an wie: Was ich denken würde, wie beschränkt sie sei, und sowas. Danach verstand ich kein Wort mehr, da sich ihre Stimme regelrecht überschlug. Daher interpretierte ich darin etwas Friedfertiges. Sowas in der Art, dass alles halb so wild wäre. Denn ich war überzeugt davon, mit dem Kauf des Hauses und meinem Kotau vor ihr sowie dem duften Architekten, mir jede Menge Vorschusslorbeeren erarbeitet zu haben.

Mir blieb keine andere Wahl, als meine Fehler einzugestehen und zustimmend zu nicken. Aber letztendlich hätte sie drohen und sagen können, was sie wollte. Sie wusste, ich würde trotzdem wegfahren, um das Spiel live zu erleben. Dabei träumte ich vor mich hin, wie wir in der siebten Minute in Führung gehen würden, während Steffi weiterhin ein Wortgeschwür nach dem anderen über mich ergoss. Ich hätte an Wortlepra erkranken müssen, aber meine Abwehrkette stand. Ihre sich überschlagende Stimme hallte so nach, dass ich erst gar nicht bemerkte, dass sie sich mittlerweile von mir abgewandt hatte. Ich fragte mich, ob ich die gesamte Zeit mit eingezogenem Pimmel dagesessen hatte, mit samt ein paar abgelassenen Angsttröpfchen. Doch es kamen kein Verbot, keine Drohungen. Steffi schien verständnisvoll und gönnte mir meine Fußballliebe, glaubte ich zumindest. In Wahrheit wollte sie sich der Schwangerschaft wegen nicht weiter aufregen. Was uns letztendlich beiden half, künftig in einer gewissen Eintracht zusammenleben zu lernen.

Vor Meinen Freunden im Zug erzählte ich logischerweise nichts von meinen Angsttröpfchen. Dafür lehnte ich mich bei der Bahnfahrt zum Spiel lässig aus dem Fenster und prahlte, wie arg verliebt ich in meine Zukünftige bin. Dass sie die Richtige für mich ist. Eine, die mich sein ließ, wie ich bin und mich nicht zu verbiegen plante. Das meinte ich sogar so. Ich war davon überzeugt, die Probleme, die ich von anderen Pärchen hörte, würden bei uns nicht aufkeimen. Sven, der mir direkt gegenüberstand, und von ähnlichen schrägen Eheverläufen wie Thomas zu berichten wusste, schüttelte nur mit dem Kopf und fragte, ob er mir das alles nicht tausendfach erklärt hätte.

»Doch, natürlich, aber der Kerl ist ja beratungsresistent!«, schallte es mir um die Ohren, als würde ich nicht anwesend sein. Woraufhin sich die anderen Mitfahrer zu Wort meldeten, wenn auch nur zustimmend mit einer Kopfbewegung. So Andreas und Harry, unsere beiden Top-Manager. Harry, tätig als Produktentwickler beim Haarmittelkonzern Wella, dem es dem Anschein nach bis heute nicht gelungen ist, ein funktionierendes Haarwuchsmittel zu erfinden. Und im gleichen Unternehmen Andreas, der Laborleiter, der all das austesten musste, was Harry so Neues erfand. Nur, dass bei Andreas die Haare, im Gegensatz zu Harry, bis weit über die Schulter wuchsen. Aber ansonsten erfreuten sich beide an ihrem derzeitigen Singledasein. Mit ziemlicher Sicherheit, zumindest in solchen Momenten. Generell weiß man sowas ja nie genau. Dafür hatten sie wesentlich mehr Kohle als ich und benötigten keinen Schwiegervater, um ein Haus über die Bank zu kaufen. Und Michael kloppte hinterher: »Das war der schon immer!« Er war in der Position sich das zu erlauben zu sagen. Als einziger von uns in einer stabilen Ehe, wusste er, wie so eine Ehe funktioniert. Obendrein hatte er das gewisse Etwas, was ebenfalls Christian ausmachte. So einer, der alles fertigbrachte und sich nebenbei vorbildlich für frierende Seehundebabys einsetzte.

Aber das ließ mich alles kalt. Ich tönte sogar während der Hinfahrt, nach dem achten Bier im Speisewagen an der kleinen Theke, dass ich mich bei Dieter Bohlens DSDS anmelden würde, im Falle des Aufstiegs. Die Hoffnung stirbt ja zuletzt.

Die Stimmung im Stadion war sensationell. Und man glaubt es kaum, aber, unsere Spieler hatten einen eigenen Plan. Sie besaßen den eisernen Willen, den Aufstieg in die Zweite Bundesliga zu meistern. Diese Mannschaft Schoss das halbe Stadion mit jedem weiteren Treffer in Ekstase. Es endete in einem Relegationskrimi, der über ein 3:1 für uns in der regulären Spielzeit in die Verlängerung ging, wir darin den unbedeutenden 3:2Anschlusstreffer fingen, aber in der Nachspielzeit das 4:2 für uns erschossen.

Es war ein Wunder geschehen! Weniger aber wunderte es, das muss man der historischen Objektivität halber so festhalten, dass nach dem Wahnsinn niemand das Bielefelder Stadion verlassen wollte – wir eingeschlossen.

So kam es nicht nur zum Aufstieg, sondern gleichzeitig zum grandiosen Zusammenbruch meiner minutiösen Heimreisepläne. Es war der Zeitpunkt einzugestehen, ich hatte, anders als der Bösewicht im Sonntags-Tatort nicht nur einen Fehler begangen, nein, ganze drei Fehler waren mir vorab unterlaufen. Und jetzt hatte sich mit dem unerwarteten Sieg der vierte Fehler eingeschlichen: Das war unverzeihlich.

Den letzten Zug aus Bielefeld hatten wir nach der großartigen Stadionfeier logischerweise verpasst. Andere Fans fuhren schlauerweise die vier Stunden mit gecharterten Bussen. Für uns, hauptsächlich für mich, bedeutete das, in banger Sorge auszuharren bis zum Morgengrauen. Angekündigte Abfahrt des ersten Morgenzugs um sechs, Ankunft um zehn Uhr. Taxi nach Hause, duschen, Anzug anziehen, zum Standesamt fahren, um elf Uhr »Ja« sagen, dazu freudig nicken. Schien mir im Freudentaumel machbar – und war es dennoch nicht.

An einem Bahnhof zu stehen, um festzustellen, dass es generell an Rückfahrt-Alternativen mangelt, war schwer zu verdauen. Von jedem Bielefelder, der vorbeilief, angepöbelt zu werden, war dagegen nichts. Unsere ratlosen Blicke glichen in diesem Moment mehr jenen der gegnerischen Fans im Stadion nach dem Abpfiff. Niemand sagte einen Ton, bis ich vorschlug, erstmal ein paar Bier zu holen, bevor ich Steffi anrufen würde. Alle stimmten zu, woraufhin wir mit hängenden Köpfen einige Straßen bis zur nächsten Tankstelle schlichen, zwei Sixpacks kauften und auf der Stelle austranken. Dann rief ich sie an. Dieses Mal wollte ich Thomas nicht vorschicken. Ich schaute ihn zwar kurz hilfesuchend an, doch er guckte verzweifelt woandershin, wissend, was mich erwarten würde.

»Hallo mein Schatz!«, jauchzte ich leicht überschwänglich in mein Handy, nachdem sie sich gleich nach dem ersten Klingeln meldete.

»Ist der Zug pünktlich?«

»Steffi, Mensch, wir sind aufgestiegen – unfassbar, oder?« Ich unternahm den Versuch, ihrer Frage auszuweichen.

»Aha!«

»Wie? Mehr hast du nicht dazu zu sagen?«

»Okay, toll, freut mich für euch! Und was bedeutet das jetzt?«, fragte sie und gab mir unmissverständlich zu verstehen, dass sie der Aufstieg wenig interessierte.

»Nun ja, dass wir nächste Saison in der Zweiten Bundesliga spielen!«, dabei erhob ich nochmals die Stimme, um meine Euphorie mit ihr zu teilen.

»Ich meinte mit Bedeutung so etwas wie, dass die Auswärtsspiele zukünftig weiter weg sein könnten? Aber bitte, kannst du jetzt meine Frage beantworten, ob du pünktlich ankommst?«

Das war das Blöde mit Steffi. Sie hatte ein untrügbares Gefühl für die Schwachpunkte.

»Ja, also, weißt du, es gab ja Verlängerung, und dann haben wir noch in der Nachspielzeit das Ding gedreht, und dann …«, weiter kam ich nicht.

»Verdammt nochmal, Philip wann kommst du an?«, schrie sie in den Hörer.

»Tja, ähm, sofern alles problemlos läuft, ungefähr …«

Erneut unterbrach sie mich.

»Vergiss es, ich will deine Ausreden nicht mehr hören. Um zehn Uhr fahren wir zu Hause los, ohne Wenn und Aber!«

»Warum schon um zehn? Die Trauung beginnt um elf Uhr. Wir benötigen nur eine knappe Viertelstunde zum Standesamt.«

»Philip, wie du weißt, müssen wir davor das Blumenband fürs Auto beim Floristen abholen.«

»Was für ein Blumenband? Davon weiß ich nichts, steht das wieder im Kalender?«

Der Antwort vorweg ließ Steffi ein gereiztes Atemgeräusch erklingen.

»Ich hatte dich vor zwei Wochen gefragt, ob wir unseren Wagen mit Blumen schmücken wollen. Du saßt auf dem Sofa und warst einverstanden. Warum sollte ich das in den Kalender schreiben ist doch kein Familienevent?«