Franziskus im Heiligen Land

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Pastorales Leben: Lateinisches Patriarchat und Franziskanerkustodie

Obwohl die lateinische Kirche zahlenmäßig klein ist, hat sie sich bis heute entscheidend in der karitativen und schulischen Arbeit im Heiligen Land engagiert und profiliert. Das Jurisdiktionsgebiet des Patriarchats umfasst seit 1949 die Länder Israel, Jordanien, Ägypten (Gazastreifen) und Zypern. Insgesamt lassen sich die Beziehungen des Patriarchats zur staatlichen Hierarchie vor allem in Jordanien und Israel als gut bezeichnen. Der Kirchenleitung ging es um das Wohlergehen der Gemeinden, die vor allem den karitativen Herausforderungen der Bewältigung des Flüchtlingselends begegnen mussten. Durch geschicktes Taktieren gelang es dem Lateinischen Patriarchen Alberto Gori (1949 – 1970), der als Ausländer kaum arabische Sprachkenntnisse besaß, sich mit entsprechendem Personal vor Ort tatkräftig um die Gemeinden zu kümmern: Einheimische Priester, eine solide Priesterausbildung und die Delegation der Arbeit an zwei Generalvikare – einen für den jordanischen, den anderen für den israelischen Teil der Jurisdiktion – ermöglichten ein Aufblühen des Lateinischen Patriarchats.36 Um die finanziellen Herausforderungen bewältigen zu können, war und ist das Patriarchat auf Spenden angewiesen. Vor allem forcierte Johannes XXIII. die bereits unter Leo XIII. und Benedikt XV. eingeführte Karfreitagskollekte für die katholischen Christen im Heiligen Land. Insgesamt wird man für die Zeit der Fünfziger- bis Siebzigerjahre für das Lateinische Patriarchat festhalten können, dass wesentliche theologische Akzente oder politische Äußerungen kaum auszumachen sind – im Gegensatz zur Kustodie der Franziskaner, die aufgrund ihrer Sonderstellung insbesondere bei Grundstücksfragen an den heiligen Stätten zu politischem Handeln gezwungen war.

Die Franziskanerkustodie, die bis auf Franziskus von Assisi zurückgeht, macht sich bis heute zur Aufgabe, die pastorale Grundversorgung im Heiligen Land und den Nachbarstaaten zu garantieren. Am 21. November 1342 erhielt sie ein offizielles päpstliches Mandat von Clemens VI., demzufolge sich die Kustodie um die heiligen Stätten ebenso wie um die Versorgung der Pilger kümmert. Bis zur Wiedererrichtung des Lateinischen Patriarchats 1847 oblag den Franziskanern die jurisdiktionelle Hoheit über den Diözesanklerus und die katholische Bevölkerung, die zum Patriarchatsbezirk gehörte. Heute nimmt die Kustodie nach wie vor die Verantwortung – auch in jurisdiktioneller Hinsicht – an den heiligen Stätten wahr, womit der Franziskanerkustos faktisch an diesen Orten einflussreicher ist als der Lateinische Patriarch.

Die katholische Kirche umfasst heute achtzig Pfarreien mit 408 Priestern (inkl. Ordenspriestern) und elf ständigen Diakonen. Fast 1100 Ordensleute sind für die katholische Kirche tätig, die 53 karitative und soziale Zentren in Israel und Palästina anbietet.37

Das Lateinische Patriarchat entwickelte sich zu einer auch im politischen Kontext sichtbareren Größe, als Koadjutor-Bischof Giacomo Beltritti Ende 1970 die Nachfolge des verstorbenen Patriarchen Gori antrat. Beltritti verfügte über hervorragende arabische Sprachkenntnisse. Bereits mit 16 Jahren war er in das Priesterseminar von Beit Jala eingetreten und im palästinensischen Umfeld groß geworden, sodass die Bevölkerung – über die katholische Konfession hinweg – in ihm einen der Ihren sah, der kaum eine Gelegenheit ausließ, um auf die Lage des palästinensischen Volkes öffentlich aufmerksam zu machen. Die Karfreitagskollekte wurde nicht zuletzt aufgrund seiner genauen Informationen an Paul VI. von diesem 1974 als regelmäßige Maßnahme angeordnet. Sie sicherte den Erhalt zahlreicher Gemeindeeinrichtungen im Heiligen Land, wobei Beltritti gerade in der Anfangsphase seines Patriarchats die humanitäre Hilfe für Flüchtlinge im Auge hatte.

Innerer Konflikt: Die Krise um die griechisch-katholische Kirche

Problematisch war in den Sechzigerjahren die Entwicklung des Verhältnisses zwischen dem Lateinischen Patriarchat in Jerusalem und dem melkitischen (griechisch-katholischen) Patriarchat in Damaskus. Dabei ging es um die Frage der rechtmäßigen Vertretung von Ansprüchen der katholischen Kirche im Heiligen Land. Die teilweise scharfe Auseinandersetzung gipfelte in gegenseitigen Vorwürfen des Proselytismus, in der Verurteilung von Priesterausbildungskonzepten und darin, dass man sich gegenseitig die intellektuelle Grundlegung von Glaubenswahrheiten absprach. Die Teilnahme der griechisch-katholischen Vertreter am Zweiten Vatikanischen Konzil unter Führung von Patriarch Maximos IV., der in Damaskus residierte, führte zu einer Intervention der Melkiten, um das Lateinische Patriarchat in Jerusalem abzuschaffen. Auf dem Konzil kam hierfür, nicht zuletzt aufgrund des Einflusses der Ostkirchenkongregation, keine Mehrheit zustande. Dem Patriarchen folgte 1967 der bisherige melkitische Erzbischof von Akko, George Hakim, der den Titel Maximos V. Hakim annahm, aufgrund seiner Vergangenheit in Israel sehr gute Beziehungen zum Staat hatte und den Gemeinden Galiläas zu neuer Blüte verhalf.

Schwierig gestaltete sich das innerkirchliche Leben der griechisch-katholischen Kirche in Jerusalem, was mit der Person des melkitischen Erzbischofs Hilarion Capucci zusammenhing. Die rasante Entwicklung forderte den Heiligen Stuhl immer mehr heraus. Seit 1965 war Capucci melkitischer Patriarchalvikar in Jerusalem. Am 18. August 1974 nahm ihn das israelische Militär unter der Anschuldigung fest, am Waffenschmuggel für palästinensische Widerstandskämpfer aus dem Libanon nach Israel beteiligt gewesen zu sein; bereits zuvor war er durch häufige anti-israelische Predigten aufgefallen. Seine Inhaftierung sorgte für Protestmärsche innerhalb der palästinensischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten, aber auch auf den Straßen von Amman, Damaskus und Beirut. Der Heilige Stuhl wartete zunächst vorsichtig ab, denn er durfte die allmähliche Annäherung an Israel durch dieses Problem nicht gefährden. PLO-Chef Yassir Arafat bezeichnete Capucci als Symbol des palästinensischen Widerstands und sandte ihm während einer Rede vor den Vereinten Nationen einen Gruß. Patriarch Maximos V. erklärte während einer Bischofssynode in Rom: „Wenn dieser Bischof es als seine Pflicht empfunden haben sollte, Waffen zu transportieren oder den palästinensischen Widerstandskämpfern zu helfen […] wäre das verwerflich? In der Geschichte hat es schon andere Bischöfe gegeben, die Waffen geschmuggelt haben […], um Juden vor der Nazi-Besatzung zu retten.“38 Am 9. Dezember 1974 erfolgte die Verurteilung zu zwölf Jahren Haft, der Heilige Stuhl nahm das Urteil in einem Pressekommuniqué mit „tiefem Schmerz“ auf, wollte sich aber nicht weiter vorwagen, was scharfe palästinensische Proteste auch der einheimischen katholischen Bevölkerung im Heiligen Land gegen den Vatikan und den Papst zur Folge hatte.

Auf diplomatischem Weg gingen die Palästinenser auf den Papst zu, der Anfang November 1977 ein Gnadengesuch an den israelischen Staatspräsidenten Efraim Katzir schickte. Dieser hatte im Sinne einer schnelleren Anerkennung durch den Heiligen Stuhl selbst ein Interesse daran, das Kapitel Capucci abzuschließen. Bereits am 6. November traf Capucci in Rom ein, Mitte Dezember empfing ihn Paul VI. in Privataudienz, um mitzuteilen, dass er fortan für die Visitation der melkitischen Gemeinden in Südamerika zuständig sei. Damit hatte Capucci nicht gerechnet, ordnete sich aber dem Willen des Papstes unter und führte eigenwillig den Titel des Patriarchalvikars für Jerusalem weiter. Die PLO unterstützte ihn fortwährend als einen der engsten Mitstreiter, die Teilnahme an politischen Veranstaltungen der PLO wurde von ihr großzügig finanziell gefördert. So war Capucci unter anderem im Januar 1979 als Ehrenmitglied bei einer Sitzung des Palästinensischen Nationalrats in Damaskus zugegen. Erneut kam es zu diplomatischen Verwicklungen zwischen Israel und dem Heiligen Stuhl, denn die vorzeitige Haftentlassung Capuccis war unter der Maßgabe ermöglicht worden, dass jede weitere politische Aktivität des Erzbischofs durch den Vatikan ausgeschlossen würde. Im Mai 1979 empfing Johannes Paul II. Capucci und Patriarch Maximos V. Die Visitation in Lateinamerika war bereits abgeschlossen, und so hoffte Capucci auf eine Rehabilitierung durch den neuen Papst. Doch Johannes Paul II. beauftragte Capucci mit der Visitation der melkitischen Gemeinden Westeuropas. Tief getroffen, beugte sich der Erzbischof erneut dem Willen des Papstes, wirkte aber im Hintergrund weiter, um hochrangige Vertreter der PLO mit dem vatikanischen Staatsekretariat zusammenzubringen. Die Folge war, dass der Vatikan Capucci mehrfach zu Gesprächen in den Iran schickte. Negativ muss man konstatieren, dass durch Capucci die melkitische Gemeinde Jerusalems über mehrere Jahre im Heiligen Land vernachlässigt worden war. Zwar kümmerten sich die Priester und auch Generalvikare der melkitischen Kirche um die Pfarreien, aber die Gemeinschaft war weitgehend führungslos, zumal Capucci nicht bereit war, den Titel des Patriarchalvikars abzugeben. Die griechisch-katholische Synode hatte bereits Ende der Siebzigerjahre Pater Lutfi Laham zusätzlich zum Patriarchalvikar für Jerusalem bestimmt. Der Papst ernannte ihn darüber hinaus einige Jahre später, am 9. September 1981, zum Titularbischof. Die Weihe wurde aufgrund massiver palästinensischer Proteste in Jerusalem und Umgebung um einige Wochen verschoben, da man mit der Bestellung eines Patriarchalvikars im Bischofsamt die endgültige Entmachtung Capuccis durch den Vatikan vermutete. Als Yassir Arafat am 15. September 1982 erstmals von Johannes Paul II. in Privataudienz empfangen wurde, war es Capucci, der Arafat am Flughafen abholte. Während der Intifada von 1987 forderte Capucci mit anderen palästinensischen Demonstranten auf dem Petersplatz die Freiheit seines Volkes. Nach einer längeren Phase der Ruhe trat Capucci in den letzten Jahren immer wieder als Friedensaktivist auf. Zuletzt begleitete er im Mai 2010 einen Schiffskonvoi der Free-Gaza-Bewegung, der jedoch von israelischem Militär aufgehalten wurde.

 

Während sich die Episode Capucci vornehmlich auf das melkitische Vikariat von Jerusalem auswirkte, blieb die pastorale und organisatorische Lage der weitaus größeren griechisch-katholischen Gemeinde in Galiläa problemlos. Hier war von 1975 bis 1997 Maximos Salloum griechisch-katholischer Erzbischof von Akko und damit kirchenrechtlich und protokollarisch – insbesondere gegenüber dem Staat Israel – über den Patriarchalvikar von Jerusalem gestellt. Daher kann der melkitische Erzbischof von Akko als Oberhirte der gesamten melkitischen Gemeinschaft in Israel und Palästina bezeichnet werden. Ihm folgte Pierre Mouallem, der das Amt bis zur Erreichung der Altersgrenze im Jahr 2002 innehatte. Seitdem blieb der Bischofsstuhl vier Jahre vakant, bis die Synode am 7. Februar 2006 den in Nordisrael geborenen Elias Chacour zum Nachfolger wählte. Er gehörte bis zu seinem überraschenden Rücktritt am 27. Januar 2014 zu den profiliertesten Kirchenvertretern im Heiligen Land. Als Jugendpfarrer und aufgrund vielfältiger pastoraler Tätigkeit, vor allem in dörflichen Gemeinden Galiläas, kannte er die Nöte der Menschen. Um der jungen Generation Perspektiven zu vermitteln, gründete er 1982 in Ibbilin ein Gymnasium, das 2003 zur ersten israelisch-arabischen christlichen Mar-Elias-Universität ausgebaut wurde.

Die Übernahme der Amtsgeschäfte der griechisch-katholischen Kirche in Jerusalem durch Lutfi Laham war nicht nur ein Lichtblick für die Gemeinde, sondern leitete eine entscheidende und wesentliche Wende im innerkirchlich zerrütteten Leben der melkitischen Kirche ein. Durch sein persönliches Engagement und ein Netzwerk von internationalen Kontakten – ideell wie materiell – gelang es Laham, die eigene innere Krise im Heiligen Land zu überwinden. Dabei verhielt sich der Syrer und Palästinenserfreund äußerst geschickt. Er unterstützte die griechisch-katholischen Christen in den besetzten Gebieten, aber er bemühte sich auch, keine allzu einseitigen politischen Äußerungen zu tätigen. Das brachte ihm internationale Sympathien, auch bei den Israelis, ein. Auf Katholikentagen in Deutschland warb er in den Achtziger- und Neunzigerjahren unermüdlich für einen Frieden der Völker, ohne dabei die Besatzungspolitik Israels allzu scharf zu verurteilen. Der greise Patriarch Hakim in Damaskus nahm die Aktivitäten zur Kenntnis, ohne in die Richtungskompetenz einzugreifen; die hatte Laham längst in Jerusalem für seine Kirche erfolgreich übernommen. Folgerichtig wurde er von der griechisch-katholischen Synode am 29. November 2000 zum Patriarchen seiner Kirche und Nachfolger Hakims gewählt. Er nahm den Namen Gregoir III. Laham an und besetzte seine alte Stelle in Jerusalem zunächst mit einem Erzpriester, Mtanios Haddad, der im ökumenischen und internationalen Geschehen so gut wie nicht auffiel. Am 9. Februar 2006 hatte die Synode Georges Bakar zum neuen Patriarchalvikar von Jerusalem gewählt. Nach nur zwei Jahren versetzte Patriarch Gregoir III. Bakar nach Ägypten, in Jerusalem folgte Joseph Jules Zereyh. Seitdem Gregoir III. Oberhaupt der Melkiten geworden ist und damit eine weltweite Autorität genießt, macht er aus seiner politischen Auffassung einer ungerechten Besatzungsmacht Israels keinen Hehl. Er ist politischer geworden, oft auch mutiger, wenn er jetzt die Verantwortung für die universale Kirche wahrnimmt.39

Weiterer Aufbruch: Pontifikats- und nahöstlicher Paradigmenwechsel

Die katholischen Gemeinden bemühten sich Mitte der Siebzigerjahre weiter um einen Konsolidierungskurs. Nicht zuletzt der Friede zwischen Israel und Ägypten hatte bei vielen Christen die Hoffnung auf eine Stabilisierung in der Region gestärkt. Gleichzeitig erlebte die katholische Kirche im Nahen Osten mit Papst Johannes Paul II. ein neues Kirchenoberhaupt, das sich vom ersten Moment an aktiv in die Nahostpolitik einschaltete. In Kontinuität zu seinen Vorgängern verurteilte er neben zahlreichen Interventionen im Libanonkrieg auch die jüdische Siedlungspolitik und den Terror palästinensischer Einheiten. Bei seiner Rede am 2. Oktober 1979 vor den Vereinten Nationen forderte Johannes Paul II. erneut einen besonderen Status für die Stadt, eine „gerechte Lösung des Problems der Palästinenser […] und die territoriale Integrität des Libanon“. Gleichzeitig wurde seitdem häufiger als noch in den Sechzigerjahren das Existenzrecht Israels betont bzw. die Formulierung „Staat Israel“ verwendet. Johannes Paul II. fügte hinzu: „Ich wünschte mir auch ein besonderes Statut, das unter internationalen Garantien […] den Respekt vor der einzigartigen Natur Jerusalems sichern soll“, eines Erbes der drei monotheistischen Religionen der Region.40

Insbesondere die Lösung der Jerusalemfrage hat Johannes Paul II. zeit seines Pontifikats bewegt. Bereits zwei Monate nach der Rede in New York übergab der Vertreter des Heiligen Stuhls bei den Vereinten Nationen, Erzbischof Giovanni Cheli, den dortigen Delegationen eine Erklärung zur Jerusalemfrage, die die religiöse Vielfalt und Parität der Gemeinschaften ebenso hervorhebt wie die Definition Jerusalems als deren religiöses Zentrum. Die internationalen Garantien bedürften einer eigenen Definition, gleichzeitig sei der territoriale Geltungsbereich eines solchen Statuts noch nicht festgelegt. Deutlicher als unter Paul VI. erlebten nun die katholischen Gemeinden im Heiligen Land, wie sich auf der diplomatischen Ebene der Heilige Stuhl in den auch letztlich sie selbst betreffenden Fragen profilierte. Vor allem ging es darum, den von Paul VI. eingeleiteten Paradigmenwechsel fortzusetzen. Aber auch Übergriffe blieben nicht aus, als es im Januar 1980 zu einer Serie von Anschlägen durch jüdische Extremisten gegen christliche, darunter zahlreiche katholische, Institutionen kam. In dieser schwierigen Situation legte der Heilige Stuhl – unmittelbar vor dem Beschluss des israelischen Parlaments zum Jerusalemer Hauptstadtgesetz am 30. Juli 1980 – seine Position zur Jerusalemfrage erneut dar. Erzbischof Cheli ergänzte die Position vor den Vereinten Nationen in einem Beitrag für den L’Osservatore Romano.41 Demnach müssten die drei Religionen an der Zukunft Jerusalems beteiligt werden. „Der Universalismus der […] Religionen […] fordert eine Verantwortung, die weit über die Grenzen der Staaten dieser Region hinausgeht.“ Mit diesem Hinweis auf internationale Handlungsnotwendigkeit betonte der Heilige Stuhl gleichzeitig den längst vollzogenen Abschied vom „corpus separatum“: „Die ,territoriale Internationalisierung‘ Jerusalems wurde bekanntlich nicht verwirklicht“, deshalb müsse der universale Charakter Jerusalems „gleich welche Macht die Souveränität über die Heilige Stadt ausübt“, gewahrt bleiben. Die heiligen Stätten und die Gemeinschaften der Stadt seien zu schützen „auf der Basis eines angemessenen Rechtssystems, das von einer höheren internationalen Instanz gewährleistet wird“. Dem Heiligen Stuhl war die Frage der politischen Souveränität zu diesem Zeitpunkt also nebensächlich; vielmehr sah er in dem international garantierten Statut ein sicheres Mittel für den religiös motivierten Zweck zum Schutz der heiligen (nicht nur christlichen) Stätten. Konsequenterweise wurde die Annexion Ostjerusalems vom Heiligen Stuhl abgelehnt.

Noch war es aber für den Papst zu früh, sich in der Hauptstadtfrage endgültig zu positionieren. Deshalb ist es von palästinensischer Seite kurzsichtig gewesen, hier bereits eine Kapitulation des Heiligen Stuhls vor den israelischen Hauptstadtfakten zu sehen. Umso intensiver bemühten sich die Palästinenser um einen Zugang zum Papst, der im Sommer 1980 erstmals mit einem offiziellen Vertreter der PLO, dem römisch-katholischen Afif Safieh, zusammentraf. Es blieb in der Folge ein gegenseitiges Austarieren, was sowohl durch die Audienz für den israelischen Außenminister Yitzak Shamir am 7. Januar 1982 als auch durch die gleichzeitige Verurteilung des israelischen Einmarschs in den Libanon am 6. Juni im Zuge der Operation „Frieden für Galiläa“ deutlich wurde. Andererseits wurde diese Pendeldiplomatie in der ersten von dann zahlreichen Privataudienzen für PLO-Chef Yassir Arafat am 15. September des gleichen Jahres deutlich, bei der Johannes Paul II. ein eigenes Vaterland für die Palästinenser forderte. Während der Besuch den Palästinensern als Volk und damit auch den katholischen Gemeinden ein bemerkenswertes Selbstbewusstsein vermittelte, verurteilte der israelische Staat dieses Entgegenkommen des Heiligen Stuhls auf das Schärfste.

Für die Christen vor Ort war neben diesen diplomatischen Entwicklungen allerdings auch der Alltag von Bedeutung. Der wurde durch den Paradigmenwechsel in der islamischen und damit auch nahöstlichen Welt 1978/79 spürbar, als der Schah von Persien gestürzt und durch die islamische Revolution in Teheran ein muslimisches Mullah-Regime eingesetzt wurde. In muslimischen Ländern verstand man mit einem Mal, dass eine Revolution durch Religion möglich ist. Die Konsequenz war ein Erstarken der zahlreichen Muslimbruderschaften, vor allem in Ägypten, in Syrien, aber auch unter den Palästinensern. Gleichzeitig bemühten sich die katholischen Bildungseinrichtungen in Israel und den besetzten Gebieten, eine „Gegentheologie“ von Verständigung und Toleranz zu entwickeln. Die palästinensische Theologie lag zwar noch in ihren Anfängen, hat aber durch diese Entwicklung wesentlichen Aufschwung erfahren. Dabei ging der Blick der katholischen Gemeinschaften – dann oft auch im ökumenischen Sinne geeint – nach Rom, denn mit Interesse verfolgte man, wie sich der Heilige Stuhl und vor allem der Papst zu den aktuellen politischen Fragen positionieren würde. Wichtig erschien es der Ortskirche, als Vermittler aufzutreten und mehr praktische Lösungen für den Alltag vorzuschlagen, als die vatikanische Diplomatie von der Natur der Sache her in der Lage gewesen wäre.

In dieser Zeit entwickelte Johannes Paul II. seine eigene Jerusalem-Theologie, die er mit dem Apostolischen Schreiben Redemptionis anno vom 20. April 1984 der Öffentlichkeit vorstellte und in der er politische und religiös begründete Forderungen zum Schutz der heiligen Stätten artikulierte.42 Jerusalem sei das geistige Erbe der ganzen Menschheit, allerdings stelle man auch fest, dass die Stadt „Anlass zu fortdauernder Rivalität, zu Gewalt und Ausschließlichkeitsansprüchen ist“. Deshalb müsse eine baldige Lösung für das Problem gefunden werden, um den „heiligen, einzigartigen und unvergleichlichen Charakter der Stadt zu bewahren“. Die religiöse Identität Jerusalems und die gemeinsame monotheistische Glaubensüberlieferung könnten einen Weg zum Frieden bahnen. Hier wird von vatikanischer Seite die religiös-theologische Dimension betont und die politische Option in der Jerusalemfrage angefügt. In dem Schreiben wird zusätzlich das Existenzrecht zweier Völker betont: „Für das jüdische Volk, das im Staat Israel lebt […], müssen wir um die gewünschte Sicherheit und die gerechte Ruhe bitten, die das Vorrecht jedes Volkes und die Voraussetzung für Leben und Fortschritt jeder Gesellschaft sind. Das palästinensische Volk […] hat aus gerechtem Grund das natürliche Recht, wieder eine Heimat zu finden …“ Einige Äußerungen sorgten auf israelischer Seite für Irritationen, sodass die weiteren Kontakte zunächst schleppend verliefen, wie Diplomatenkreise berichten. Daran konnte auch der Besuch von Premierminister Shimon Peres 1985 im Vatikan nichts ändern.

Der Heilige Stuhl setzte insgesamt in den Achtzigerjahren sein Bemühen fort, die Rechte der Palästinenser anzumahnen, vor allem auch, um die eigenen katholischen Gemeinschaften zu schützen. Allerdings kann die Behauptung, der Vatikan sei grundsätzlich palästinenserfreundlicher gewesen, kaum stimmen, da es der Diplomatie der Apostolischen Delegatur und des Staatssekretariats ein Anliegen war, Ausgleich nach internationaler Rechtswahrnehmung und nicht einseitiger religiöser Beanspruchung zu schaffen. Die Mitte der Achtzigerjahre war vor allem vom Engagement Johannes’ Pauls II. für den interreligiösen Dialog geprägt, das sich entsprechend – mit verschiedensten Initiativen in den katholischen Gemeinden des Heiligen Landes – auch auf den Nahen Osten und meist auf der theologischen Ebene mit neuen Gesprächsangeboten auswirkte. Hier sei an den historischen Besuch des Papstes in der römischen Synagoge am 13. April 1986 und das wenige Monate später, am 27. Oktober 1986, erstmals in Assisi stattfindende interreligiöse Gebetstreffen erinnert.43