Mine-Dine-Use und andere Generationengeschichten

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Mine-Dine-Use und andere Generationengeschichten
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Mine-dine-use*

Tempo

Vaters Fest

Hätte ich dich gekannt ...

Ferragosto in Altamura

Sanfte Wellen

Und ich weiß

Pistazien und so

Schöne Neue Welt

Die Macht der Gewohnheit

Sieben Minuten

Vaterliebe

Im Zug

Abschied

Eisblumen

Flakhelfer

Reise zurück

Heather

Wiedergutmachung

Oma, ich habe viele Fragen

Winter

Auf einem Hof im Hinterland

Eine Generation ist kein Gendefekt

Wenn die Goldenen Zwanziger enden

Aus dem Rahmen

Es ist wieder Frühling

Mine-Dine-Use

und andere Geschichten

Buchbeschreibung:

Mine-Dine-Use und andere Generationengeschichten

Der zweite Band aus der Ausschreibung Generationen des Baltrum Verlages.

Mine-Diese-Use ist ein plattdeutscher Begriff für eine Patchworkfamilie. Hier erleben Sie einzelnen Geschichten aus den Spannungsfeldern der Generationen, zusammengefügt wie eine Patchworkfamilie, ein Buch mit nachdenklichen Geschichten, aber auch mit Humor.

Über den Autor:

In dieser Anthologie haben wir Autor*innen, die eine komplette Generation abbilden. Die einen beschreiben ihre Sicht auf ein Leben, auf das die anderen schon zurückblicken.

Impressum

© 2021 Baltrum Verlag GbR

BV 2132 – Mine-Dine-Use und andere Generationengeschichten

Umschlaggestaltung: Baltrum Verlag GbR

Illustration: Baltrum Verlag GbR

Lektorat, Korrektorat: Baltrum Verlag GbR

Herausgeber: Baltrum Verlag GbR

Verlag: Baltrum Verlag GbR, Weststraße 5, 67454 Haßloch

Internet: www.baltrum-verlag.de

E-Mail an info@baltrum-verlag.de

Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Mine-Dine-Use

und andere Generationengeschichten

Von Herausgeber

Carsten Böhn und Matthias Deigner

Baltrum Verlag

Weststraße 5

67454 Haßloch

Mine-dine-use*

Ann-Cristin Ney

*plattdeutsch: Patchworkfamilie

Ich strickte für meine drei Töchter in meinem Leib Jacken für den Winter, damit sie keine Zündhölzer anzünden und Maronen für ihre kalten Hände kaufen müssten.

Für die Erste strickte ich aus der schönsten Wolle, die ich auf dem Dachboden finden konnte, eine warme Jacke, die ihre Wangen rosig und ihre Lippen rot machten. Für ihre Schönheit würde sie stadtbekannt werden und es würde ihr alles in den Schoß fallen. Von Freundschaft, Liebe bis hin zu den Äpfeln aus Nachbars Garten. Er war im Krieg, musst Du wissen. Die Frauen erschoss er am liebsten mit Genickschuss.

Dein Vater kam in der Nacht. Er war der Jäger. Das Blut an seinen Händen kam vom Zerwirken. Er schlug mich aus der Decke.

Für die zweite Tochter strickte ich aus Honiggelb und Korngelb einen Mantel, der sie so strahlen ließ, wie die Sonne. Du warst wie Dein Vater – er kam am Mittag.

Jeder mochte ihn, war er doch herzlich, warm, und als Du jedem Deine Wärme abgegeben hattest, starbst Du mit maisgelben Zähnen.

Für meine letzte Tochter, für die ich fast am Kindbett starb, für sie nähte ich ein Mantel aus den stärksten Leinen und legte sie auf ihre knochigen Schultern.

Sie war die Ärmste von allen. Kam ihr Vater am Abend von der Arbeit zu uns ins Bett. Ich betete drei Rosenkränze und eine Bibel, dass Daddy mich heute Abend nicht besuchen kommt. Ich betete, dass mein Kinderzimmer ein Krankenhaus war – die Besuchszeiten schon längst vorbei. Und als ich in ihre pechschwarzen Augen sah, so wusste ich, dass sie die Ärmste von allen sein wird, denn schwach sein ist ein Luxus, der ihr in diesem Leben nicht vergönnt sein wird. Ich legte ihr den Mantel um, bevor ich ihr die Augen schloss und tiefstem Schnee davon ging.

Wir lassen den Sarg auf.

Ich möchte keine Lilien als Sargschmuck.

Wird es in meinem Herzen nie wieder Frühling. Tränen fallen wie das Laub von den Bäumen im Herbst.

Im Sommer gehen wir wieder ins Freibad, ja.

Tempo

Susanne Speth

Menschenskind. Immer diese alten Frauen in der Schlange. Um die Kasse zu blockieren. Mit voller Absicht möchte man meinen. Schließlich könnten sie auch in der Mittagszeit einkaufen. Oder besser Home Service. Die kommen in der modernen Welt sowieso nicht mehr zurecht. Werden alle Nase lang umgemöbelt von Fahrrädern, Scootern oder was weiß ich. Also daheimbleiben, schön fernsehgucken und auf den Enkeltrick reinfallen. Das war jetzt nicht freundlich. Aber zu mir ist auch keiner nett. Und in zehn Minuten geht die Bahn.

Aber nein, einkaufen um 18 Uhr. Genau dann, wenn die arbeitende Bevölkerung zackzack ihre Sachen erledigt. »Könnten Sie bitte mit dem Kleingeld helfen? Die Augen. Oh, das Wiegen hab' ich vergessen, tut mir leid.« Und dann endloses Verkramen von Katzenfutter, Margarine und Hakle-Feucht in der übergroßen Tasche. Die Kassiererin ist gefasst. Gute Schulung. Das hier ist Minuten-Akkord. Deshalb wurden die großen Ablagen für den Einkauf extra abgeschafft an den Kassen.

Alte Männer sehe ich nicht so oft beim Einkaufen. Meistens sind das die Ungewaschenen mit den Pfandflaschen. Essen alte Männer nicht mehr? Nur noch saufen? Oder sind das die Ehemänner der Blockade-Frauen? Kriegen das Essen seit 50 Jahren von der Frau hingestellt. Kommt sie nicht zurück, flott erwischt vom E-Bike, fallen sie einfach irgendwann tot vom Stuhl. Dieser Generation ist nicht mehr zu helfen. Meiner müsste mir mal so kommen.

Alte Männer sterben früher. Sie können also gar nicht massenhaft Zonen und Schalter besetzen. Das machen die Witwen. Sie zwingen den Rest der Welt in die Zeitlupe. Wie soll das erst in ein paar Jahren werden? 70 % Alte, 20 % Pfleger, 10 % unter vierzig. Einfach erschießen geht nicht. Das leuchtet mir ein. Aber irgendwas muss sich irgendwer ausdenken. Sonst wird irgendwann die Ungeduld übermächtig, das kann ich Euch sagen.

»Ich glaube, Sie sind dran, junge Frau.« Die Omma hinter mir. Frech, oder? Jürgen hat nur kurz gesimst wegen der Chips.

Vaters Fest

Gergana Ghanbarian-Baleva

Also findet die Jubiläumsfeier zum 70. Geburtstag meines Vaters doch statt. Der isländische Vulkan, dessen Namen ich weder richtig schreiben noch aussprechen kann (Eyjafjallajökull), hat allen, die aus dem Ausland einfliegen sollten, einen dicken Strich durch die Rechnung gemacht. Wir sind zwar nicht vollzählig, aber meinem Vater zu Liebe wird doch ein Tisch in einem Restaurant reserviert.

Die älteste Tochter, der Schwager und der dritte Enkel meines Vaters sind in Bilbaó geblieben. Seine Schwester und Ihr Sohn haben niemanden gefunden, der die Tiere auf ihrem kleinen Bauernhof in den Bergen versorgen konnte. Also feiern wir nur mit der Familie meines Halbbruders, dem Sohn meines Vaters aus erster Ehe. Die Namen seiner Söhne kenne ich nicht einmal. Seine Frau habe ich schon mal gesehen und sie scheint sympathisch zu sein.

 

Am Tisch nimmt auch mein Onkel mütterlicherseits zusammen mit seiner schwererziehbaren, puber- tierenden Tochter Platz. Mit ihren blondierten Haaren, den üppigen Brüsten und den viel zu kurzen Rock sieht sie wie eine drittklassige Erotiktänzerin aus.

Mein Mann, der kein Wort bulgarisch spricht, und ich vervollständigen die unvollständige Geburtstags- feiergesellschaft.

Mein Vater ist traurig, obwohl er wie üblich versucht, mit Scherzen davon abzulenken. Denn sein Name ist Spaß.

Er ist traurig, weil seine älteste Tochter - sein ganzer Stolz – nicht dabei sein kann. Genau so wie er nicht an der Verleihung Ihres Doktortitels, bei der Geburt seines dritten Enkels und bei ihrer Hochzeit sein konnte.

Meine Mutter ist ebenso traurig, denn es wird mindestens ein Jahr vergehen, ehe sie ihren ersten Enkel sehen kann. Und fliegen fällt ihr immer schwerer, Flugangst hatte sie schon immer, aber seitdem sie zunehmend Herzbeschwerden hat, ist es schlimmer geworden.

Mein Onkel beobachtet mich und meine Eltern und das, was er sieht, macht ihn traurig. Denn es erinnert ihn daran, dass er seit Jahren den Kontakt zu seinem Sohn verloren hat. Dass die Frau, für die er seine Musikkarriere an den Nagel gehängt hat, mit einem Griechen durchgebrannt ist. Ihm ist nur seine freche, faule und frühreife Tochter geblieben.

Mein Mann wird traurig, wenn er uns so zusammen am Tisch sitzend sieht. Das erinnert ihn an seiner großen Familie im Iran, die er zuletzt vor 18 Jahren so zusammen um einem Tisch herum sitzend gesehen hat. Besonders schlimm ist es für ihn, da dieses Jahr seit langem die Menschen auf die Straßen gehen, für ihr Recht demonstrieren und schon von den ersten Toten in den Nachrichten berichtet wird. Seine Neffen und Nichten, die ein, zwei Jahre alt waren, als er das Land verließ, gehören der Studentenschaft an, von der aus die Proteste ausgehen.

Mein Halbbruder, der etliche Jahre älter ist als ich, beobachtet meinen Vater und wird traurig, dass er so viele Jahre auf ihn verzichten musste, dass er als Kind ohne ihn aufwuchs. Seine Söhne langweilen sich zu Tode, denn sie kennen keinen hier und würden viel lieber skaten oder Playstation zu Hause spielen.

Ich befinde mich, als geborener Diplomat, in meiner üblichen »Spagatposition«. Ich bemühe mich, zwischen fernen Ufern eine Brücke zu bauen, eine harmonische Stimmung dort herbeizuzaubern, wo nichts zueinander passt.

Die Feier hat längst begonnen, auch wenn keiner dies merkt und etwas dazu beisteuern will. Das türkische Restaurant wurde uns als vorzüglich empfohlen. Tatsächlich schmeckt das geschmorte Lamm mit Okra hervorragend und der schwere Wein aus Südbulgarien betäubt die schwarzen Gedanken der nahen und fernen Verwandten. Mein Hals ist wie zugeschnürt, kein einziges Wort kann ich über die Lippen mehr bringen. Langsam rollen die Tränen, heiß wie Lava, meine Wangen hinunter. Dieser Anblick von einzelnen Menschen, die nur wegen meines Vaters hier sitzen, aber unter einander nichts mehr und nie etwas Gemeinsames hatten, machte mich traurig. Und wenn ich morgen meine schweren Koffer mit bulgarischen Köstlichkeiten zum Flughafen schleppe, werde ich nie gewiss sagen können »Bis bald!«. Denn jedes Treffen kann unser Letztes sein.

Hätte ich dich gekannt ...

Sabine Riedel

Bühler war der Fahrer unseres Schulbusses.

Er war stets pünktlich auf die Minute und hatte in all der Zeit, seit ich ihn kannte, nicht einen Tag gefehlt.

Und gerade das, hatte es mir damals so unerträglich gemacht.

Bühler.

Wenn ich heute an meine Schulzeit zurückdenke, erinnere ich mich, wie ich jeden Morgen die Hoffnung hegte, dass ich sein Gesicht nicht sehen müsste. Oder besser: dass er mich nicht sah, wenn ich die Stufen des Busses erklomm.

Aber immer war er es, der auf dem Fahrersessel saß.

Klein und so dick, dass sein Bauch ihn beim Lenken behindern musste. Er hatte kaum Haare auf dem Kopf, dafür aber einen üppigen Schnurrbart, der sich mit den Jahren von braun zu grau verfärbte.

Kein Tag ohne ihn, seit der Grundschule.

Jeder Mensch, musste doch auch einmal krank werden, dachte ich damals oft. Oder Urlaub haben?

Er nicht.

Alle gingen unbehelligt an ihm vorbei.

Mareike, Nadine, Julia. Keine würdigte er eines Blickes. Aber kaum war ich eingestiegen, erfassten mich seine feuchten, roten Augen.

Sofort verzog sich sein, unter Schnurbarthärchen halb versteckter Mund, zu einem Grinsen. »Morgen Mathilda.«

Ich kochte vor Wut. Jedes Mal!

Am Anfang habe ich noch versucht, den Irrtum richtigzustellen.

»Ich heiße Leonie!«, habe ich mit Kleinmädchen- stimme zurück gepiepst.

Aber mit den Jahren war ich fest davon überzeugt, dass es pure Absicht war, nur um mich zu ärgern.

Hätte ich einen richtigen Vater gehabt, er hätte Bühler bestimmt eine reingehauen.

Das habe ich mir zumindest immer vorgestellt.

Warum ausgerechnet ich es war, die Bühler immerzu ärgern musste, wusste ich nicht.

Lag es an meiner Brille? Den Sommersprossen?

Sah mein brauner Lockenkopf komisch aus?

Jedenfalls habe ich vieles versucht, damit er aufhörte.

Ich fauchte ihn an, dass Mathilda nicht mein Name sei; ich zischte, er solle mich in Ruhe lassen. Unzählige böse Blicke habe ich ihm in den Jahren geschenkt, bis ich einfach nur noch resigniert an ihm vorbei trottete und mir wünschte unsichtbar zu sein. Aber er sah mich immer.

»Ist der Rock nicht ein bisschen zu kalt heute, Mathilda?« Ich habe ihn gehasst!

Schließlich aber, kam der erste Schultag nach den Sommerferien, als ich in die zehnte Klasse kam.

Ich wappnete mich geistig, als ich in den Bus stieg und setzte ein finsteres Gesicht auf, als ich meine Fahrkarte vorzeigte.

Aber Bühler war nicht da!

Erschrocken blieb ich stehen.

Hinter dem Steuer saß ein junger, schlaksiger Mann mit blondem Pferdeschwanz unter seiner Fahrermütze.

Er sah mich an und wünschte mir einen guten Morgen.

F. Neumann, stand auf seinem Namensschildchen.

»Äh, alles ok bei dir?«

Ich erwachte aus meiner Starre und wurde rot, weil ich ihn mit offenem Mund angestarrt hatte.

»Ja«, sagte ich und eilte meinen Freundinnen hinterher.

Den ganzen Weg über, beobachtete ich den Fahrer misstrauisch durch den Rückspiegel und grübelte.

War Bühler krank? Oder – ich rechnete im Geiste die Jahre – konnte es sein, dass er schon in Rente gegangen war?

Ich schätze ihn auf Mitte Fünfzig, aber im Schätzen war ich noch nie gut gewesen.

»Was glaubst du, wie alt Bühler ist?«, fragte ich Julia neben mir.

»Wer?«

Als wir an der Schule hielten, ging ich noch einmal zu Neumann.

»Entschuldigung.« Ich nestelte an einem Knopf meiner Jeansjacke. »Wo ist denn Herr Bühler heute?«

Der junge Mann nahm seine Mütze ab und kratzte sich am Hinterkopf. »Tja, er ist tot.« Er setzte die Mütze wieder auf und zuckte die Schultern.

»Hat sich schon länger gequält. Ist trotzdem immer arbeiten gekommen, bis er nicht mehr diensttauglich war«, fügte er hinzu, als ich weder antwortete, noch Anstalten machte, den Bus zu verlassen.

»Hast du ihn gekannt? Die Beerdigung war vor zwei Wochen.«

Noch immer antwortete ich nicht. Statt dessen stolperte ich mit zitternden Knien aus dem Bus. Um ein Haar wäre ich gefallen.

»Leonie, was ist denn los?«, fragte Julia besorgt. »Du bist ja leichenblass!«

Aber ich wusste selbst nicht, was mit mir los war.

Ich ließ meine Freundin einfach stehen und rannte weg.

Weg von dem Bus, weg von der Schule, einfach weg.

Zum Friedhof.

Meine Beine trugen mich wie von selbst dorthin.

Ich irrte zwischen den Gräbern umher und versuchte zu verstehen, warum mich sein Tod so sehr traf.

Ich habe ihn gehasst! Warum breitete sich jetzt eine dunkle Leere in mir aus?

Da war es, das frische Grab. Aber die Blumen begannen schon zu welken.

Ich ließ mich davor ins Gras fallen und atmete schwer, als ich den Grabstein näher betrachtete.

Ein schlichter grauer Stein mit blasser Gravur.

Meine Augen füllten sich mit Tränen.

Ich fühlte mich so mies.

Es tat mir leid, dass ich ihm so viel Böses gewünscht hatte.

Hätte ich dich doch nur besser gekannt …

Ich saß noch lange vor dem Familiengrab und starrte mit verschwommenen Blick auf den Schriftzug.

»Hier ruhen Maria und Hannes Bühler

mit ihrer geliebten Tochter Mathilda,

die viel zu früh entschlafen ist.«

Ferragosto in Altamura

David Johann Lensing

Der Hund sprang auf und huschte unter dem Küchentisch hervor. Ein schmutzbrauner Mischling mit Stupsschwanz und Hängeohren. Haltlos rutschten seine Krallen über die Terrakottafliesen, als er aus dem Raum flüchtete. Vielleicht erschrak ihn das Ächzen des Stuhls. Oder er spürte, wie Hunde eben sind, schneller als alle anderen, dass die Stimmung umschlug, in dem Moment, da Paolo sich auf dem ächzenden Stuhl niederließ. Am Kopfende des Tisches. Sofern ein Tisch zwei Kopfenden haben konnte.

Denn am anderen, am eigentlichen Kopfende saß bereits, und davon gab es nur einen, der Herr des Hauses. Das war hier, in dem Obergeschoss eines Reihenhauses gleich, über der Bäckerei Pani di Alfi mitten in Altamura, immer noch der alte Alfredo – ein grobschlächtiger Mann. Der sein Leben damit verbracht hatte, Säcke zu schultern und mit einem Brotschieber, gleich einer mittelalterlichen Lanze die Öfen zu bestücken, zu entleeren und wieder zu bestücken. Ritter der Backwaren. Brandnarben übersäten seine kräftigen Arme bis hoch zu den Ärmeln seines Poloshirts, das er nur zu besonderen Anlässen anzog, wie dem heutigen. Ferragosto, Italiens Sommerwende. Von Alfredos schon früh schlohweiß gewordenem Haar behaupteten die einen, es sei bei der Maloche in der mehlverhangenen Hitze gebleicht, die anderen meinten, es käme von dem Stress, den ein Ernährer von sechs Töchtern plagte. Seine Augen waren über die Jahre, von denen Alfredo nunmehr sechzig und fünfe auf dem Buckel hatte, schlecht geworden – doch den Mann, der sich ihm frontal gegenüber niederließ, den sah er klar und deutlich.

Aurora entging der Blick nicht, den ihr Vater rüberschickte, quer über den Tisch, von Kopfende zu Kopfende, zu Paolo, dem unverschämten Gast. Selbst der junge Francesco, der die Finger nicht vom Tafelmesser lassen konnte, hielt beim Spielen inne. Der Platz neben ihm, für Papà Paolo angedacht, war noch frei – und der Raum plötzlich ohrenbetäubend still. Der Junge ließ die Klinge neben den Teller sinken. Unter dem Tisch legte Mamma Aurora, sonst sehr sparsam mit Berührungen, ihre Hand auf des Burschen Knie. Sein Herz klopfte, die Stimmung drückte. Francesco rührte sich nicht, zählte stumm bis zehn.

Und der Moment verstrich. Was auch immer der alte Alfredo Rossi seinem Gast und Schwiegersohn an den Kopf werfen wollte, es blieb ihm im Halse stecken. Paolo saß ihm Aug' in Aug' gegenüber, stellte sich in seiner Platzwahl mit dem Hausherrn auf eine Höhe – und so war es. Aurora wusste, dass sich niemand trauen würde, den in diesem Hause gehegten Groll gegen Paolo auszusprechen. Sie hatte bloß gehofft, dass er ihre Familie nicht provozieren würde. Doch ihre Hoffnungen baute Aurora auf einen Mann, der ihr selbst ein Fremder war.

»Vorsicht, heiß!«, brach Teresa das Schweigen. Auroras ältere Schwester schwang eine dampfende Schüssel von der Anrichte, die einem Schlachtfeld glich, auf einen Korkunterleger in der Tischmitte und setzte damit den Wirbelwind, der seit Stunden durch die Küche fegte, wieder in Bewegung. »Wie kann das Essen heißer sein, als die Luft drum herum?«, krächzte Nonna Carolina, Francescos Großmutter, »ist ja nicht auszuhalten, dieser Sommer.« Sie löste die Schleife des Schürzenriemens in ihrem Nacken, wo sich ein paar lose Härchen kräuselten, die dem Dutt entflohen waren. Der Dutt, in dem Carolina gerne mal ihren Bleistift vergaß, mit dem sie auf Einkaufszettel und Rezepte kritzelte. Auch jetzt steckte der Stift noch in ihrer Haarpracht und ließ sie vollkommen aussehen.

Carolina warf ihre Schürze über die Rückenlehne des Stuhls, auf den sie stöhnend niederplumpste – an der Ecke zur Rechten ihres Mannes Alfredo und links von der Bediensteten Monica, die schwarzgelockte Jungfrau Ende zwanzig mit der Plastiknase und dem wenig schmeichelhaften Rufnamen »Pipa«.

 

Wortlos, voll des Eifers einer Magd unter der Fuchtel ihres Herrn, machte diese sich daran, die Öhrchen-Nudeln aus der von Tante Teresa gereichten Schüssel mit einer Kelle auf die Teller zu verteilen, und ein Häppchen auf ein Extra-Tellerchen für Urgroßmutter Tilda, die nebenan schlief. In einem Bett, aus dem sie seit vier Jahren nicht aufgestanden war. Das Tellerchen mit der halben Portion stellte Monica hinter sich auf die Fensterbank, für später. Carolina behielt sie dabei im Auge und schwafelte weiter über die Hitze, die sämtliche Bewohner aus dem Ort vertrieben hatte. Wie jedes Jahr, Mitte August. Die saisonale Völkerwanderung führte von dem Städtchen im trockenen Inland an die Südküste, oder – noch näher – die Adriaküste im Osten. Hauptsache Meer. An keinem anderen Tag waren die Strände Italiens so gut besucht, wie zu Ferragosto.

»Woher kommt der Fisch?«, bemühte sich Silvio Pedrone mit Blick auf die Filetplatte um einen Beitrag zur Plauderei. Doch sein dialektfreies Hochitalienisch kam wie eine Radioansprache daher. Plötzlich hörten alle zu. Dem Radio antwortet man nicht.

»Ist der etwa«, Silvio sah von einem Augenpaar zum nächsten, »selbst gefangen?«

Silvio war als Gast des Gastes mitgekommen, ein enger Vertrauter Auroras und der engste Paolos, mit dem er eigentlich nichts gemeinsam hatte, außer einem Hang zur Gesetzlosigkeit. Die beiden Männer waren einander im Gefängnis begegnet: Paolo, einst der stattliche Bursche mit dem Eisenherz, inzwischen ein Gangsterboss mit Globusbauch, doch damals wie heute fähig, einem Mann den Schädel einzuschlagen – und Silvio, der seine Lesebrille im Hemdkragen einhängte und lieber seinen eigenen Kopf zermarterte, als den eines anderen zu zertrümmern. So wie es Paolos Schläge waren, die ihn hinter Gitter gebracht hatten, war es bei Silvio sein Hirn. Er stimulierte es gerne mit komplexen Aufgaben.

Zuletzt Fördergeldbetrug.

»Den Fisch haben wir einem Nachbarn abgekauft«, sagte Tante Teresa, deren sonnengegerbte Haut mehr Falten warf, als es ihren dreißig-irgendwas Lebensjahren gerecht wurde, »der war heut' Morgen in aller Herrgottsfrühe noch in Bari, zum Glück. Nun dürften die Straßen dicht sein.« Sie setzte sich auf den freien Platz zwischen dem jungen Francesco und Silvio, jener Platz, der für Paolo angedacht war und nur eine klagende Lücke hinterlassen hätte. Teresa füllte diese Lücke und stattdessen blieb der Stuhl zwischen Monica und Nico frei, dem Bäckergesellen. Damit ließ sich leben.

Zum Gebet senkten alle, die sie um den Tisch versammelt saßen, ihre Köpfe. Für eine Minute wurde es ruhig in der Küche der Familie Rossi – so ruhig wie im Rest der Geisterstadt. Von draußen drang kein Laut, kein Lüftchen herein. Die Gardinen hingen schlaff in der offenen Balkontür. Nichts außer dem gelegentlichen Knacken der abkühlenden Herdplatten und Paolos schwerem Schnaufen.

Francesco – Kosename Franco – beobachtete seinen Vater aus dem Augenwinkel, ihn, der so wenig nach dem Helden aussah, zu dem seine Mutter ihn manchmal erkor – denn er hatte sie gerettet, damals, mehrmals, hatte auch die Bäckerei gerettet, später, und somit sie alle, die sie hier beisammensaßen ..., ja, ja. Wie er jedoch da auf dem Küchenstuhl hing, das Doppelkinn auf der haarigen Brust ruhend, über dem halboffenen Hemd mit Schweißflecken unter Armen und Männerbusen, machte er keinen heldenhaften Eindruck. Er sah müde aus.

»Amen«, setzte Nonna Carolina dem Tischgebet ein Ende und breitete die Arme aus: »Greift zu, meine Lieben. Lasst es euch schmecken.« Sie streichelte die Schulter Alfredos, der seinen Kopf hob, fragte ihn: »Öffnest du den Wein, tesero?« Die Flasche, eine von drei edlen Tropfen, die Paolo und Silvio als Gastgeschenk mitgebracht hatten, wurde zu ihm herübergereicht. Ohne einen Blick auf das Etikett, ja auch nur auf die Flasche zu werfen, griff Alfredo nach dem Korkenzieher und öffnete den Wein mit einer routinierten Bewegung, schenkte in die Gläser seiner Nächsten, Carolina und Aurora aus. Das Gluckern des tiefroten Weines wurde übertönt von einer dunklen Stimme:

»Danke«, sprach Paolo, über den Tisch hinweg, mit schwerer Zunge und Atempausen, »vielen Dank Ihnen, Frau Rossi – und Ihren Töchtern – für das Festmahl«, Luft holen, »und Ihnen, Herr Rossi, für die Gastfreundlichkeit – in Ihrem Hause.«

Es reichte nicht, um in Alfredos Gunst höher zu rücken, den Tag aber rettete es allemal. Der Hausherr hob das Glas, nickte und sagte: »Salute!«

Als das Festmahl im Gange war, vollen Mundes leere Worte gesprochen wurden, Konversation um der Konversation willen, kaute Franco jeden Bissen dreißig, vierzig Mal, mit den Gedanken weit weg von dem Fisch auf seinem Teller, von dem er sich blind bediente.

Sein Blick haftete an dem seltenen Gast.

Papà Paolo sah anders aus, als im harten Licht der Besucherräume. Es waren einige Wochen vergangen, seit der Junge seinen Vater gesehen hatte, bei ihrem jüngsten Ausflug nach Lecce. Seitdem schien er zugenommen und gleichzeitig abgebaut zu haben. Einmal ließ Franco sein Tafelmesser fallen, um heimlich unter den Tisch linsen zu können: Tatsächlich quoll der Hintern Papàs regelrecht über den Stuhl. Und auf den Terrakotta-Fliesen zwischen dessen Füßen lagen Erbsen, die sein stoßartiges Schnaufen vom Teller gepustet hatte. Erbsen, die dieser Mann vermutlich nicht eigenhändig aufheben könnte, weil sein Körper dabei vornüberkippen und der Aufprall ihm seine Rippen brechen würde. Wieder über dem Küchentisch musterte der kleine Franco seinen Papà mit kritischer Miene.

Dieser Typ sollte laut Mamma allen Ernstes ein Held sein, dessen Eingreifen sie vor einem schmierigen Kerl gerettet hatte? Dessen Vermögen die Bäckerei vor dem Ruin bewahrt hatte? Dieser Typ sollte laut Onkel Silvio wirklich wahr dessen wichtigster Partner sein, der ihn im Gefängnis damals beschützt hatte und dessen viele Freunde dem Onkel bei der Arbeit halfen?

Dieser Typ sollte laut tuschelnder und hänselnder Mitschüler gar der Boss einer 'Heiligen Liga' sein? Der Junge wusste, dass ihm viel Mist erzählt wurde. Als Kind gewöhnte man sich daran. Die Erwachsenen taten sich schwer damit, Dinge einfach so zu erklären, wie sie waren. Mal hielten sie das Kind für zu dumm, mal die Welt für zu übel – deshalb erzählten die Großen oft Schwachsinn. Manche Kinder nahmen das hin, Franco dachte nicht daran. Er war zwölf Jahre alt und hatte sich vorgenommen, endlich zu verstehen, was um ihn herum geschah und warum alles so war, wie es war.

»Wenn du nicht bald aufisst«, drängte sich Tante Teresa von links in seine Gedanken, »dann haben die Fliegen bald Eier in deinen Fisch gelegt.« Und schon wieder Schwachsinn.

Es reichte! Nach dem Essen trat Franco raus auf den Balkon, wohin sich Paolo und Silvio verzogen hatten, in der Hoffnung, ein laues Lüftchen abzufangen. Alfredo war schlafen gegangen. Carolina, Aurora und Teresa saßen am Bett der Urgroßmutter Tilda. Pipa räumte die Küche auf, bemüht, Nico nicht zu wecken, der beim Nachtisch eingenickt war und am Küchentisch hing. Silvio döste in seinem Liegestuhl, im Schatten eines eingetopften Strauchgewächses, einen Strohhut aufs Gesicht gelegt.

Das war sie also, die Gelegenheit, seinen Papà mal unter vier Augen zu sprechen. Franco fürchtete, man würde ihm sein Herzklopfen durch das labbrige T-Shirt ansehen. Als sich die Gardinen hinter ihm schlossen, blieb er mit dem Rücken zur Balkontür stehen.

Paolo hatte sich Weinkisten zu einem breiten Hocker zusammengeschoben. Darauf saß er, nah am Geländer, und lugte durch die Stäbe runter in die Gasse. In einer Pranke hielt er, wie Puppenspielzeug, ein Tässchen Espresso. Mit der anderen kraulte Paolo den Nacken des Mischlingsrüden, der zu seinen Füßen ruhte – die Schlappohren wie als Sonnenschutz vor die Augen gelegt, den Stupsschwanz hin und wieder eine Fliege wegwackelnd. Das Surren der Insekten, das Atmen des Vaters und sein Schlürfen am Espresso, aus dem Haus das Gemurmel der Frauen in Tildas Schlafkammer, ansonsten war es still.

»Warum bist du frei?«, fragte Franco.

Paolo drehte behäbig den Kopf, bis er seinen Sohn ansah.

»Komm her«, sagte er. Franco zögerte, löste sich, ging zwei Schritte. Sein Vater ließ vom Hund ab und streckte seine Hand nach ihm aus. Er zog den Jungen zu sich heran, stellte das Tässchen ab, sagte »setz dich« – mit beiden Händen pflanzte er Franco auf seinen Schenkel. Die Weinkisten knarzten. Paolo hielt einen Arm um Franco geschlungen. Da saß das Kind auf einem Sessel aus väterlichem Fleisch.

»Warum bist du frei?«, fragte Franco wieder.

»Weil meine Zeit um ist«, antwortete Paolo.

»Welche Zeit?« – »Die 18 Jahre, die sie mir gegeben haben.« Achtzehn Jahre, dachte Franco, das war eine Kindheit und eine Jugend lang. Das war länger, als er selber lebte. Fast doppelt so lang, wie die meisten Hunde lebten. Der Junge sah runter zum Mischling. Sicher viel länger, als der da alt war. Unfassbar lang.

»Und jetzt?«, fragte Franco weiter.

»Jetzt überlegen sie, ob sie mir noch mehr geben sollen.«

»Warum?« Noch länger? Er sah seinen Vater an. Zum ersten Mal im Sonnenlicht. Seine Augen waren schlammgrün mit schwarzen Punkten rund um die Pupillen. Wie kleine Extrapupillen. Ob man damit besser sehen konnte? Oder anders? Oder mehr? Ein Augenlid hing tiefer als das andere. So aus der Nähe, im Hellen, sah sein Papà noch müder als, als schräg über den Küchentisch, oder quer über den Besuchertisch.

»Warum stellst du so viele Fragen?«, fragte Paolo. Franco wusste es auch nicht. An jedem seiner Gedanken klebte ein Fragezeichen. Sein Kopf explodierte vor Fragen. Seine Stimme ging hoch mit jedem Satzende. Er lechzte nach Antworten.

»Kannst du nicht wegrennen?« »Ich bin nicht sehr schnell.«

»Wegfahren?« »Ich kann nicht fahren.«

»Wegfahren lassen?« »Nein.«

»Mit dem Zug?« »Nein!« Franco verstummte. Paolo sah hinab in die Gasse. Durch die Geländerstäbe. Er mochte es niemanden anvertrauen, nicht einmal Silvio, doch Paolo vermisste sein Fenster in Lecce, mit seinen elf Stäben und dem Blick auf die Gasse zwischen Gefängnismauer und Zaun mit Stacheldrahtsaum. Dort fühlte er sich noch wohler als in Bari. Wenn er an seinen inszenierten Ausbruch von damals dachte, konnte er sich kaum des Grundes entsinnen. Die Draußenwelt war so voller Treppen und Trubel, voller Fremder und …