Kostja Kiefholz

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Kostja Kiefholz
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Mathilde Schrumpf

Kostja Kiefholz

Copyright: © 2020 Mathilde Schrumpf

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1

Kostja liebte den Schlaf und das Erwachen, er liebte den Übergang von Orange zu Milchkaffee, und er liebte es, leise für sich zu singen. Er liebte verspätete Schneeflocken im März, die letzten für lange Zeit, er liebte das Steigen der Sonne, und wie die Wolken über den Himmel liefen. Kostja Kiefholz hatte Musik, Papier und Tinte, ausreichend zu essen und den unendlichen Fluss der Gedanken auf dem ruhigen Fluss der Zeit.

Er bewegte sich hölzern, in ständiger Sorge, lichterloh zu brennen. Kiefholz war aus dem weichen Holz seiner Heimat geschnitzt. Schnell schießt es auf und steht gedrängt als Massenware in der Landschaft – Material, aus dem früher Puppen und Spielzeuge waren. Strahlt Ruhe aus, lebt und altert, lässt sich ein auf kleinste Veränderung der Umgebung. Dehnt, streckt und verzieht sich, arbeitet, gibt nach oder bricht, ächzt, klopft und knackt. Sammelt Harz, zählt die Jahre, redlich, stumm, in guten wie in schlechten Zeiten.

Kostja nahm an, dass seine kleine, ehrenwerte Person das Zentrum der Welt sei, dass unsere verrückte Welt mit all ihren Überflüssigkeiten und Absurditäten sich nur um ihn drehe. Diese Annahme gab Kiefholz´ Weltauffassung Struktur und Richtung, formierte jene Einheiten, die Geist und Körper verarbeiteten. Kostja sah sich von der Welt dazu aufgefordert, eine zusammenhängende, in sich schlüssige Erklärung seines So-Seins abzugeben. Hätte jemand ihn beobachtet, hätte er bemerkt, dass er ihm ein bisschen leid tat, überflüssige Empfindung, vielleicht. Versuche der unangemessenen Art, sein Verhältnis zur Umgebung ein für alle Mal zu klären, müssen in unserer chaotischen Welt scheitern. Wer Kiefholz über Jahre begleitet hatte, konnte sich eigentlich nur wundern, wie er in all der Zeit seine Unterschiedenheit von der übrigen Welt zu bewahren suchte, als Abgeschiedenheit und Sonderbarkeit, als habe er durch vertieftes Studium des ihn umgebenden Fremden, Befremdlichen die Beschaffenheit der eigenen Existenz deutlicher herausarbeiten können. Er musste Teil der Welt sein. Doch Kostjas Empfinden von seiner Person, als fremd in der Welt, und das Erkennen seiner Person, als untrennbar in der Welt, gingen nicht zusammen. Sein Wollen und sein Wissen passten einfach nicht zueinander.

Wollen und Wissen, gleich stark, einander zuwiderlaufend, trieben Kiefholz zu fortgesetzter Aktivität. Weder sein Wille noch sein Verstand, obwohl von Zeit zu Zeit triumphierend aufblitzend, trugen je einmal dauerhaft den Sieg über den Gegenspieler davon.

Wo hatte Kostjas Gefühl, er und die Welt seien unvereinbar, seinen Ausgang genommen? „Du bist nicht die anderen“, hatte seine Mutter ihn oft zurechtgewiesen – immer dann, wenn er sie bat, ihre Verhaltensmaßstäbe doch bitte einmal an den Maßstäben zu überprüfen, mit denen andere Eltern das Verhalten ihrer Kinder bewerteten. Ihre Abwehr (sie wollte sich nicht mit anderen vergleichen lassen) projizierte sie in jenem Satz auf den Sohn. Wie ein Dorn saß er fest in ihm, er bekam ihn nicht heraus. Kostja wusste, ebenso „er“ wie „die anderen“ waren Konstrukte, gemacht für ihre Zwecke, ihre verquere Argumentation. Doch obwohl er das wusste, konnte er nicht ermessen, wo ein vergleichender Blick angezeigt war (darauf, wie andere Menschen ihre Angelegenheiten regelten), und wo er sich über Vergleiche hinwegsetzen konnte. ‚Dahin hat es sogenannte bürgerliche Freiheit gebracht‘, dachte Kiefholz. ‚Jede und jeder entschied allein, was für sie oder ihn gut und richtig war. Eine übergeordnete Instanz, die aussprach und überwachte, was Recht und Unrecht war, gab es nicht. Kiefholz konnte es nicht lassen. Unvollendetes, Widersprüchliches, Absurdes ließ ihn nicht los. Er schlug sich so lange damit herum, bis er an Stelle einer Lösung, die es nicht gab, eine Scheinlösung errichtet hatte. Kiefholz vergaß zuweilen, dass er die unhaltbaren Zustände dieser Welt nicht durch Grübelei in haltbarere umwandelte. Ihm schien Nachdenken das Allheilmittel. Kostja wollte die Welt verbessert sehen, wie man gemeinsam eine Sinfonie einübt. So aber funktionierte das nicht: Die meisten seiner Mitmenschen stürzten sich ohne Bedenken in ihr Tun, getrieben von dunkel empfundenen Wünschen, kaum ausgereiftem Reden, trügerischen Vorbildern und unverarbeiteten Erfahrungen, die sich zu keinem besseren Wissen formten. „Einfach machen“ war die Devise der Zeit, und Kiefholz hielt sie in mehrfacher Weise für verfehlt.

Je mehr er glaubte, sich absondern zu müssen und je mehr er sich selbst als Sonderling erlebte, desto mehr sah er sich einem Sumpf einverleibt, dem er nicht entkam, so sehr er auch strampelte und sich an den Haaren riss. In seiner Umgebung, zum Verschlingen bereit, bewahrte er sich stets gerade so. Er widerstand und ging mit erfrischter Kraft unverdrossen aufs Neue los auf Menschen und Zustände. Durch einen Grand Canyon fühlte er sich von der Welt getrennt und glaubte, er würde schon noch zur Welt kommen. Abgetrennt zu sein von dem, was nicht Kiefholz war, blieb eine Illusion, nach der sich die Sehnsucht verstärkte, je offenbarer sie als Illusion erkennbar wurde. Konnte er sich befreien aus dem Zwang? Konnte er die alte Wahrnehmung verabschieden? Ihm fehlte ein alternatives „Welt-und-ich“-Erklärungsmodell, und solange es ihm fehlte, hing er dem alten dummen Mutter-Zwiespalt an.

− Du bist ja ganz vernarrt, dich selbst zu ergründen. ´Erkenne dich selbst´ – so war das nicht gemeint.

− Wie war es sonst gemeint?

2

Andere mögen die Wege nachzeichnen, auf denen die Idee einer allseitig gebildeten Persönlichkeit, kundig in vielen Fächern, ´poly technae´, im Programm ostdeutscher Volksbildung der siebziger und achtziger Jahre Fuß gefasst hatte. „Polytechnische Oberschule“ stand über Kostjas Schuleingang. Viele hundert Mal ging Kostja unter den Buchstaben hindurch. Da er vom ersten Tag an lesen konnte, wie sollten da Ideen nicht in seinen Kopf hineinwandern? Irgendwas blieb ja immer hängen.

Kostja vermochte kaum, die vielen Veränderungen zusammenzubringen, die das Musikmachen in ihm, an ihm vollzogen hatte. Ebenso, wie er Musik hatte die Musik ihn gemacht. Musik war da und war nicht da. Ihre flüchtige Anwesenheit, im nächsten Moment wie nie da gewesen, veränderte die Welt. Und doch war Musik nicht vorhanden, wenn niemand sie hörte. Kostja Kiefholz hatte viele Jahre Musik gemacht, und was war davon übrig geblieben?

Trotz des unguten Auseinanderkommens mit den Eltern hatte er eine behütete Kindheit gehabt. So sah er es rückblickend: Viele Jahre später wurde Kiefholz klar, dass es um ihn her Hässlichkeit, Lüge und Bosheit nie in einem Ausmaß gegeben hatte, das ihn verderben konnte. Ungestört vollzog sich hier etwas und bewirkte, dass Kostja an das Gute, Wahre, Schöne glauben konnte und – seltsam genug – es auch für lebbar hielt. An einer schön gerade gewachsenen, jedes Frühjahr neu grünenden Dornröschenhecke arbeiteten sich die Mächte des Bösen ab. Unbekümmert von den Hässlichkeiten des Irdischen, die sich außerhalb des ihn umgebenden Schutzes abspielten, schlief der Junge den Schlaf des Gerechten, während sich Herz, Verstand und Moral bildeten.

„Das Gute siegt immer“, verkündete er als Sechsjähriger, und Oma Marta hatte, ein Zucken im Gesicht, dem Enkel widersprochen: „Nein, mein Lieber, immer siegt es nicht.“

Die Eltern ließen sich scheiden und gaben ihn auf Schulen in der Hauptstadt, von denen es hieß, sie seien gut: Russisch am Vormittag, Musik am Nachmittag. Dass seine Eltern ihm einen russischen Namen gegeben hatten – vorauseilender Gehorsam, fürsorgliches Kalkül, um ihrem Sprössling die beste Ausbildung zu sichern, die zu bekommen war?

Kostja gewöhnte sich daran, seinen Tag einzuteilen, morgens sein Arbeitspensum vorzunehmen und abends zu resümieren, ob er es geschafft habe. Von seinen Lehrern bekam Kostja eine gute Portion Selbstbewusstsein mit auf den Weg, zudem die Fähigkeit, sich zurechtzufinden und anzuleiten in dem, was er sich aneignen wollte.

Wie gut tat ihm das, von Lehrern, die es gut mit ihm meinten, gelobt, gemocht, gesehen zu werden! Kiefholz brannte sich besonders ihr Lob ins Bewusstsein, das Lob als „pädagogisches Mittel“. Hatten nicht bei jedem Arbeitseinsatz in der Schule die vorbeikommenden Lehrer Kostja und seine Klassenkameraden gelobt, ihren Kinderfleiß, kindliche Sorgfalt und Ausdauer in der Ausführung?

Seine Kindheit war nicht eben reich an lobenden Worten gewesen, bevor er mit Leichtigkeit ein guter Schüler wurde. Wer ihm nur mit ein bisschen Freundlichkeit begegnete, der gewann einen Platz in seinem Herzen. Mochten die Ambitionen ihrer Erzieher, ihn zu begünstigen, vorzuziehen vor anderen, auch zwielichtiger Natur gewesen sein – nach strengen Kriterien ausgewählt und nach strengen Richtlinien ausgebildet, brachten die Pädagogen in Kostjas Schulzeit viel Wissen und Erfahrung mit, um Heranwachsende zu begeistern und anzuleiten: bis die Zöglinge dazu übergingen, sich selbst zu begeistern und zu orientieren.

In einer Umgebung, die nach jungen Talenten verlangte, galt Kostja als junges Talent. Zu hochfliegenden Hoffnungen ihrer Lehrer Anlass gebend, wurden sie gefördert: nie er allein, immer in einer kleinen Gruppe Gleichaltriger, ebenso Talentierter. Stipendien, beste Instrumente, inspirierende Orte – Kopf und Hände hielt man ihnen frei zur Kunstausübung.

Kostja wurde, im Handeln, Beobachten, Lernen und wieder Handeln nach früh eingepflanzten Grundsätzen verfahrend, von seinen Lehrern gelobt, wie es ihre Logik verlangte. Als Kiefholz auf dem Höhepunkt seiner jugendlichen Karriere den Sprung zur Musikakademie vollzog, bekam er auch dort einen geistreichen Professor, in dessen Wirkungskreis der junge Mann gedieh, wie man es erwarten durfte und für seinen Anlagen gemäß hielt. Im Spätherbst der Wende, mit 21 Jahren, war Kostjas Fähigkeit ausgereift, sich selbst tätig ein Programm zu geben: Er setzte sich Ziele, er wollte sie erreichen.

 

Seine Ziele, sein Programm? Nie konnte Kostja Aufschluss darüber erlangen, welchen Anteil äußerer Einfluss, angeborene Anlagen an seinem Sosein hatten. Nie erfuhr er, ob er das, was er war, gegen oder durch andere, mit oder trotz ihnen geworden war. Und musste er das wissen? Half es ihm im Leben? Musste er das wissen, was ihm im Leben half?

Was in der Melange der Einflüsse die Hauptrolle spielte, bekam Kiefholz nie heraus. Es blieben Vermutungen – unbefriedigend für seinen analytischen Geist, unangenehm, sich darin zu verhaspeln. Er wusste seinen Lehrern Dank. Das vielleicht Schwerste im Lehren, das Hoffnungsvollste gehen zu lassen, wenn es Freiheit sucht – Kostjas Lehrer brachten es zustande. Es war ihr Beruf, liebgewordene Schüler gehen zu lassen. Seine Lehrer gaben viel und bekamen viel zurück. Seine Eltern, die um seines Fortkommens willen auf mancherlei verzichtet hatten, gingen leer aus. Sie gaben, was sie konnten, und erhielten einen undankbaren Sohn.

Dass sein Herz denen zuflog, die guthießen, beförderten, lobten, nicht denen, die missbilligten, neideten, herabzogen – hätte er es verhindern können? Lieber von sich aus dankbar als zu Dankbarkeit genötigt, fühlte Kiefholz sich den Lehrenden verbunden, deren Programm er durchlief. Seine Lehrer freute es, was dem Jungen gelang. Gelang etwas nicht, suchten sie den Fehler in ihrem Unterricht, nicht bei ihm.

Den Eltern war es nicht gegeben, ihn zu beschenken. Am Ende der Kindheit wollte Kiefholz kein verräterisches „Geschenk“ mehr von ihnen annehmen. Sein überwaches, furchtbereites Empfinden sah ihrer gebenden Hand doch immer die fordernde Geste schon an, bevor sie sie ausführte. Instinktive Wachsamkeit, wenn ihn jemand „beschenkte“, Fluchtreflex, wenn ihm jemand Lohn anbot für seine Dienste – das behielt Kostja von den Eltern zurück. Übrig blieb das Gefühl, im Elternhaus fürs Leben genug Anpassung, Dulden und Schweigen aufgebracht zu haben. Da es ihm nicht gelang, sein Bemühen, ein guter Sohn zu sein, und die Launen der Eltern in einen geordneten, vernünftigen Zusammenhang zu bringen, sehnte sich Kostja nach einem Dasein, in dem es geregelt und gerecht zuging.

Wie Kostja alles bedachte und es nicht besser davon wurde, machte er sich aus dem Staub der Sohnespflichten. Er kam besser zurecht mit weniger Dominantem. Dass Schönes, Gutes, Wahres zusammenhängen sollten (und sei der Zusammenhang nur behauptet), kam Kiefholz als Idee gerade recht. Ob er einem historisch überlieferten Ideal anhing oder nicht, war ihm gleich. Kinder in einen Glauben hineinstolpern zu lassen, aus dem sie später nie wieder ganz herausfinden, ist gewiss nicht sonderlich fair. Später fand Kiefholz, es sei besser, erst als Erwachsener, aus freiem Entschluss, zu eigenen Göttern zu gelangen.

Kiefholz´ Denkresultat, den eigenen Werdegang betreffend – nicht gerade ein Prunkstück philosophischer Weisheit: Er verdanke es obrigkeitshörigen Eltern und idealistisch gesinnten Lehrern, dass er mit den damaligen Lebensumständen relativ gut zurechtkam, oft auf Leistung versessen, manchmal Leistung verweigernd.

Man wird einräumen müssen, dass einer, der als Kind zu überlegtem, zielstrebigem Arbeiten angehalten wird, es nicht gut dulden kann, wenn jemand ihm Vorschriften machen will, wo schon Vorschriften sind. Alles lag ja längst bereit in ihm – überlegter, zielstrebiger, als Zwang von außen es hätte verfügen können. Tempo, Reihenfolge, Umfang seines Arbeitens legte er selbst fest, niemand sonst. Rigoros lehnte er fortan Fremdbestimmung ab. Was anderen Hilfestellung, Halt, Orientierung geben mochte – Kiefholz empfand es als Maßregelung, Bevormundung. Instinktiv wehrte er sich dagegen, ein weiteres Mal diszipliniert zu werden. Er war schon diszipliniert, hatte strengere und klügere, in sich logische Zucht erfahren.

Spätere Lehrer Kostjas waren oft anders als die früheren. Am besten kam er noch mit denen aus, die ihn gewähren und so arbeiten ließen, wie er wollte. Der zuweilen ganz unsinnig wirkende Kiefholz-Fleiß, Leidenschaft fürs Stimmige, fürs Detail, die Bereitschaft, wenig begangene Denkpfade zu entdecken, bedingten viel von dem, was ihn inzwischen ausmachte. Kostja hing an dieser Erfahrung. Die ihm anerzogene, fleißig kultivierte Fähigkeit, fleißig zu sein, ließ sich Kiefholz nicht nehmen. Er ging damit nicht herum, sich zu brüsten. Es fiel ihm nicht ein, von anderen zu verlangen, dass sie hätten ablegen sollen, was man auch „Faulheit“ nennen konnte. Aber kaputtreden ließ er sich sein Fleißigsein nicht.

Kiefholz spürte scharf, wie Grundpfeiler seiner Erziehung demontiert wurden, später. Ein Angriff auf seine Arbeitsmoral kam unerwartet, von Kostjas Lieblingsprofessor an der Universität. „Herr Kiefholz, Sie sind ja sehr klug und auch sehr fleißig, das ist eine ungewöhnliche Kombination“. Kostja hatte für ein paar Sekunden nichts zu antworten gewusst. Was sollte das heißen? Dass, wer klug war, es für gewöhnlich geschickter einfädelte, nicht fleißig sein zu müssen? Dass, wer fleißig sein musste, zum Beispiel um eine mittelmäßige These durch wissenschaftlichen Bienenfleiß im Beibringen von Belegen aufzuwerten, eben nicht das Zeug zu einem klugen Gedanken hatte? Dass es zur Qualität des Denkens keiner ergänzenden Quantität bedurfte? Warum suggerierte der Ältere, Klugheit und Fleiß schlössen einander in gewisser Weise aus? Kiefholz mochte den Dozenten, weil er ihm Vorbild an Fleiß und Ehrgeiz war. Er brannte für sein Fach und Kostja teilte diese Leidenschaft. So gern er sich vom gewünschten Mentor gefördert und beachtet sehen wollte: Dies war nun mit einem Schlage unmöglich. Von einer Sekunde zur anderen vollzog sich die Abspaltung des Eleven vom verehrten Lehrer.

Konnten Menschen einander helfen, das Leben zu meistern? Half es, sich auszutauschen? Suchte er Hilfe zum Leben und hoffte er, sie zu erhalten durch Erkenntnis seiner selbst, durch Wissen um seine Eigenart, sein Vermögen, sein Unvermögen? Bewegten andere auch solche Fragen? Woher der Wunsch in Kiefholz, das Gute, Gerechte möge mit dem Klugen, Erhellenden – Erkenntnis! – und Angenehmen harmonieren? Was war es mit Kostjas Sehnsucht nach dem Schönen, Wahren, Guten, nach etwas, das es vielleicht nie gegeben hatte? Ein Konstrukt, Trugbild aus der Vergangenheit, auf damalige Umstände so wenig passend wie auf aktuelle? Was war es mit körperlich-geistig-moralischer Vollkommenheit: Gab es sie, oder war sie nur Hirngespinst, Bildungsideal, erdacht, um unerträglichen Lebensbedingungen abzuhelfen mit einem Gegenentwurf, demzufolge Menschen anders sein sollten, als sie waren? Hatten ihm nicht ebenso oft, wie manche ihm das Leben schwer machten, andere das Leben schön und leicht gemacht?

- Diese Fragen führen doch zu nichts. Das brauchst du nicht zu wissen.

- Woher weiß du das? Und warum sagst du das? Doch nur, damit ich still bin und du deine Ruhe hast.

3

Ich danke dem lieben Herrgott auf Knien, dass er mich hat zum Atheisten werden lassen. Georg Christoph Lichtenberg

Manchmal kam es Kiefholz vor, als sei sein Leben eine Aneinanderreihung von andauernden Enttäuschungen und vergangenen Katastrophen, die man ihm, absichtlich oder nicht, als Kind zugefügt hatte. Wenn ihm ein Leid zustieß oder er sich in komplizierte Vorfälle verlor, warf Kostja sein Anliegen auf den Herrn, wie er es in einem Mendelssohn-Lied gehört hatte. Indem er seine Hoffnungen auf die Götter setzte, war er unabweislichen, peinigenden Tatsachen nicht ungeschützt ausgeliefert. Er bat um Schutz und Rat, was am besten zu tun sei, und warum auch nicht: Wenn er sich mit Göttern sicherer fühlte als ohne, so schadete es gewiss nicht, sich an sie zu wenden. Privatreligion eben, und dabei blieb es. Wo die Welt mit Vernunft nicht zu ordnen war, sollte sie eben, ginge es nach Kiefholz, durch göttlichen Einfluss geordnet sein. In vielem glaubte Kostja Kiefholz ja doch erst, wenn er es selbst geprüft hatte.

War Kostja aber verliebt und gab das Verhalten der Angebeteten Anlass zu Bedenken oder Vorsicht, so betete er, die Götter mögen Aufschluss darüber gewähren, was sie einander sein konnten. Seine nebulös formulierten Gebete und ihr glücklicher Ausgang standen Kiefholz durchaus als selbst verfertigt vor Augen. Er nahm an, religiöse Überzeugung sei Menschenwerk, erdacht, um einem diffusen Bedürfnis zu entsprechen: Menschen wollten eingebunden sein in etwas, das mächtiger war und länger existierte als sie selbst.

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