Wann kommt das tote Tier?

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Wann kommt das tote Tier?
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Wann kommt das tote Tier?

Inspecteur Fougasse ermittelt in der Provence

Dieses Buch ist meiner Familie gewidmet.

Mit besonderem Dank an Petra, Jill & Fynn.

Ohne deren Einfälle, Beobachtungen und Humor

hätte das Buch nicht entstehen können.

In ewiger Liebe zu euch!

Impressum

Texte und Umschlaggestaltung:

© Copyright by Mathias Heimberg

Lektorat und Korrektorat:

Textrevision.ch, Biel

Verlag / Autor:

Mathias Heimberg

Spinsstrasse 35

3270 Aarberg

mathias@heimberg.com

http://dastotetier.wordpress.com

Druck:

epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Ausgabe:

2. Auflage – Juni 2018

ISBN Taschenbuch: 978-3-746725-85-7

ISBN E-Book: 978-3-746727-96-7

Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt und dürfen – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Autors wiedergegeben werden.

Ein besonderer Dank sei folgenden Personen gewidmet:

Meiner Frau, Petra Heimberg für’s unermüdliche Nachlesen und Ansetzen des Rotstiftes

Meiner Mutter, Elsbeth Heimbergfür die Benennung des Gendarmen Mouton

Meiner Nichte, Luna Herrenfür die Benennung des Gendarmen Lepain

Meinem langjährigen Freund, Philippe Sterchifür die Benennung des Gendarmen Ducasse

Meinem Reiseblogger des Vertrauens, Markus Vogtfür die Benennung des Gendarmen Girault

Frau Claudia Renfer und Frau Andrea Auer von http://textrevision.ch für’s Lektorat und Korrektorat

Inhalt

1. LA RÉSIDENCE

2. DOPPELSPIEL

3. DIE TOTEN TIERE

4. INTUITION

5. IRREFÜHRUNG

6. FREIHEIT

7. GESTÄNDNIS

8. PAPAPOULET

9. VERSÖHNUNG

IMPRESSUM / DANK / WIDMUNGEN / PLAN DER RÉSIDANCE / PERSONENVERZEICHNIS

Wer ist mit von der Partie?

Verdächtig oder nicht?

Alain, Bootfahrer, Callelongue

Albert, Eingeborener, Maussane

Anne Figure, Haus 39 der Résidence, Maussane

Anton Beris, Fahrender Pizzaiolo Antonio, Arles

Claude, Gärtner, Mouries

Claudine Viret, Haus 39 der Résidence, Maussane

Didi aka Seebär, Onkel von Alain, Les Goudes

Dino Conti aka der Bleiwerfer, Scharfschütze, Marseille

Erkan Martinez, Coiffeur, Haus 134 der Résidence, Maussane

Famille La Montagne, Pizzeriabesitzer, Maussane

Felix Lacroix, Haus 65 der Résidence, Maussane

François Devaux, Eigentümer Radio- und Fernsehgeschäfte, Fontveille

Frédéric, Bootfahrer, Callelongue

Haba Ndogu aka der Röster, Türsteher, Marseille

Hans Moser, Haus 18 der Résidence, Maussane

Inspecteur Jean Fougasse, Kommandant der Gendarmerie , Maussane

Rose Millesime, Tierschutzverein, Maussane

Mademoiselle Annoux, Sekretärin von Favre, Marseille

Mademoiselle Plumetatz, Sekretärin der Gendarmerie, Maussane

Marc Giaccobi aka Wobby Bobby, Inhaber Tanzlokal, Les Goudes

Marien Beris, Schwester von Anton Beris aus Arles, Arles

Monsieur Durussel, Hausvermieter der Résidence, Maussane

Natalie Martinez, Schwester von Erkan, Maussane

Monsieur Abbet, Grundbuchverwalter, Maussane

Monsieur Chevalier, Tierarzt, Maussane

Gendarme Ducasse, Gendarm, Maussane

Commissaire Principal Ducrey, Hauptkommissar Spurensicherung, Arles

Commissaire en Chef Favre, Oberkriminalkommissar, Marseille

Gendarme Girault, Gendarm, Maussane

Monsieur Gomez, Haus 135 der Résidence, Maussane

Gendarme Lepain, Gendarm, Maussane

Commissaire Morel, Kommissar Spurensicherung, Arles

Gendarme Mouton, Gendarm, Maussane

Commissaire Raynaud, Kommissar Spurensicherung, Arles

Paul Descours, Haus 39 in der Résidence, Maussane

Peredur Giaccobi, Vater von Marc, Investor, Sperono, Korsika

Ruth Moser, Haus 18 der Résidence, Maussane

Véronique Benabi, Tänzerin, Marseille

Vincent, Postverwalter, Maussane

Maurice Lenoir, Treuhändler, Le Tholonet

Das ‘Wann kommt das tote Tier?’ Navi

Eine Handskizze von Inspecteur Jean Fougasse


La RésidEnce

Nur noch das Zirpen der Zikaden ist zu hören, als der ohrenbetäubende Lärm der mit Benzin betriebenen Heckenschere von Claude abrupt verstummt. Die stehende Hitze brennt unermüdlich auf ihn nieder und treibt ihm Schweissperlen auf das Gesicht. Im Gegensatz zu den alten Rebstöcken und den noch älteren Olivenbäumen, welche Jahr für Jahr teure Weine und Öle als Lockstoff für reiche, grauhaarige Touristen produzieren, hasst Gärtner Claude die Mittagshitze. Er realisiert, was seine Heckenschere zum sofortigen Stillstand gebracht hat. Sein Blick erstarrt, als wäre Claude vom Blitz getroffen worden. Dabei ist es Frühsommer und keine einzige Wolke trübt den stahlblauen Himmel über Maussane-les-Alpilles, einem kleinen, beschaulichen Bauerndorf mitten in der Provence im Süden Frankreichs.

Der Gärtner wird jedes Jahr zu dieser Zeit bestellt. Er muss die zahlreichen Hecken in der rund hundertsechzig Einheiten grossen Résidence Val d’Alpilles zurückschneiden. Rechtzeitig zum Saisonstart soll die Feriensiedlung einen sauberen und gepflegten Eindruck hinterlassen.

Die furchtbare Entdeckung verschlägt Claude beinahe den Atem und ein beklemmendes Würgen schnürt ihm langsam die Kehle zu. Die Zackenmesser seiner Heckenschere haben sich in den Augenwinkel eines abgetrennten Männerschädels festgehakt.

«Mon dieu, das ist Monsieur Gomez!», schreit Claude. Er versucht, das Schwert der Schere aus dem Schädel zu lösen, indem er einige Male hin und her rüttelt. Doch der eingekeilte Schädel wankt willig im Takt mit. So geht das nicht, denkt Claude und dreht seinen Kopf etwas zur Seite. Mit seinem linken Bein presst er den Schädel etwas zu Boden, und mit einem starken Rechtsdreh, gefolgt von einem Knacken, befreit er die Zacken des Messers aus dem Augenwinkel. Merde alors, ich muss Fougasse anrufen. Der muss sofort herkommen. Dabei sollte ich doch gleich nach Hause zu Antoinette zum Mittagessen. Ich bin eh schon zu spät. Erneut wird sie sich über meine Unzuverlässigkeit beschweren, geht es Claude durch den Kopf, als er die Nummer der Gendarmerie in sein Mobiltelefon eingibt.

Nach den ersten Schreckensminuten beruhigt sich Claude langsam wieder. Es erstaunt und befremdet ihn, wie rasch er sich an den Anblick des blutverschmierten Schädels gewöhnt hat. Der Schädel ist wohl mit einem sehr stumpfen Messer, gleich unterhalb des Kieferknochens, abgetrennt oder vielleicht einfach abgerissen worden. Schrecklich, wie sich die Fliegen und anderen Insekten scheinbar schon seit längerer Zeit an und in ihm zu schaffen machen. Endgültig wird Claude bewusst, dass aus dem Mittagessen heute nichts wird. Antoinette wird es trotz seiner Erklärungsversuche nicht verstehen.

Claude ist erleichtert, als die Gendarmerie eintrifft und ihn am Tatort ablöst. Er stellt sich vor, jemand hätte ihn hier gesehen, während er mit dem Schädel und der Heckenschere herumhantierte! Das wäre ihm irgendwie peinlich gewesen. Den solche Geschichten gehen schneller durchs Dorf, als der Mistral blasen kann.

Herr Gomez war ein allseits geschätzter Herr Mitte sechzig. Er lebte permanent in der Feriensiedlung – wie einige andere auch. Die permanenten Anwohner schätzen die Vorzüge des All-Inclusive-Landschaftsdienstes sowie die ruhige und sehr private Lebensweise. Auch der Pool inmitten der Siedlung erfreut sich grosser Beliebtheit, zumal das öffentliche Schwimmbad ein langer Fussmarsch entfernt ist. Die meisten Häuser und Appartements werden nur wenige Wochen pro Jahr von Touristen bewohnt. So lässt es sich für die permanenten Bewohner den Rest des Jahres ungestört leben.

 

Jean Fougasse runzelt die Stirn und greift sich an sein Kinn. So eine Schweinerei hat er in seiner ganzen Laufbahn als Hauptwachtmeister noch nie gesehen. Schon gar nicht in seinem Heimatdorf, wo er seit fast dreissig Jahren die Gendarmerie National im Rang eines Commandant als Kriminalinspektor leitet.

Fougasse gehört quasi zum Dorfinventar von Maussane. Er kennt beinahe alle Bewohner beim Vornamen und ist selbst allseits bekannt und beliebt. Der Mittfünfziger lebt seit seiner Geburt in Maussane und würde es nie im Leben auch nur für einen müden Euro verlassen. Die Bewohner schätzen seinen unermüdlichen Einsatz im Dorf und dass sie daher in Ruhe und Frieden miteinander leben können. Dazu trägt Fougasse stets pflichtbewusst sein Bestes bei. Alle wissen, wenn Fougasse aufkreuzt, kann man es gesorgt geben, ausser man hat etwas verbrochen. Der kleine, vom guten Wein und Olivenöl rundlich geformte Mann, hebt seine Baskenmütze und streicht seine wenigen, etwas längeren Haare zurecht. Gerade so, dass diese schön unter der Mütze verschwinden, als er diese wieder aufsetzt. Fougasse gibt es nur zusammen mit der Mütze. Sein Haar ist so schütter, dass er es lieber unter der Kopfbedeckung versteckt. Egal, wie heiss es ist, die Mütze trägt er jeden Tag von morgens bis abends auf dem Kopf. Er hat eine für Werktage und eine zweite fürs Wochenende. Die Dritte trägt er nur an speziellen Anlässen – und dies äusserst konsequent.

Das wäre wirklich nicht nötig gewesen. Der arme Gomez! Wie es wohl dazu kommen konnte, fragt sich Fougasse. Schnell ist klar, hier müssen Profis her, welche den Tatort untersuchen, dokumentieren und hoffentlich den Rest der Leiche finden. Noch schneller als die Profis aus Arles treffen natürlich einige Bewohner der Siedlung am Tatort ein. Besonders ein Schweizer Rentnerpaar reckt mit den Köpfen weit über das rotweisse Absperrband der Gendarmerie.

«Hans, ich habe dir ja schon lange gesagt, im Haus 135 von Herrn Gomez ist etwas nicht in Ordnung. Die vielen Überwachungskameras waren mir schon immer unheimlich», flüstert Ruth ihrem Mann ins Ohr.

Fougasse, mit jahrelanger Erfahrung im Ermittlungsgeschäft, erkennt auf einen Blick, welche Zaungäste etwas zu erzählen haben. So fragt er die ältere Dame mit kurzem, weiss glänzendem Haar: «Inspecteur Fougasse, dürfte ich Ihren Namen erfahren, Mademoiselle?» «Moser, Ruth Moser. Das ist mein Mann Hans Moser. Wir sind hier in den Ferien, wie immer.»

Fougasse nimmt nach einer kurzen Unterhaltung die Kontaktdaten des Rentnerpaares auf und sie vereinbaren einen Termin auf der Gendarmerie.

Die Spurensicherung aus Arles nimmt die Siedlung und insbesondere die Hecke um Haus 89, wo Claude den Schädel gefunden hat, genau unter die Lupe. Auch nach längerer Suche findet sich keine Spur oder gar der Rest der Gomez-Leiche. So steht im vorläufigen Obduktionsbericht als Todesursache „Tot durch Enthauptung“.

Im Haus von Gomez, der Nummer 135, ist scheinbar eingebrochen worden. Es sind zwar keine Gewaltspuren am Gebäude sichtbar, doch in der Wohnung herrscht ein grosses Durcheinander, das auf einen Einbruch deutet. Es lässt sich auch niemand finden, der das Fehlen von Diebesgut bezeugen kann. Gomez hatte keine lebenden Verwandten mehr und wohnte sehr zurückgezogen. Er hatte selten bis nie Besuch zu Hause und traf sich mit seinen Freunden, wie es die meisten tun, im Dorfkern. Entweder auf dem Pétanque Platz oder im Café du Centre. Damit geht der Fall wieder zurück zu Inspecteur Fougasse in Maussane.

Obschon Monsieur Gomez bereits seit Anfang April verschwunden war, hat niemand eine Vermisstenanzeige bei Fougasse aufgegeben. Viele ältere Herren haben sich jedoch Sorgen um Gomez gemacht. War er doch zu Lebzeiten regelmässig im Boulodrom in der Nähe des Marktplatzes anzutreffen, um dort mit seinen Freunden unter den Platanen eine Runde Pétanque zu spielen. Auch Fougasse ist ab und zu dort anzutreffen um sich in der provenzalischen Bocciadisziplin mit anderen, meist älteren Herrn zu messen, welche die leichteren Kugeln und kürzeren Spieldistanzen des Pétanque bevorzugen. Er schätzt das ruhige und konzentrierte Spiel mit den Metallkugeln und nützt jeweils die Gelegenheit, von den Mitspielern auf den neuesten Stand des Dorflebens gebracht zu werden.

Der heutige Mittwoch ist ein schwüler Tag. Auch der Schatten der Pergola im Haus 18 der Siedlung bietet keinen ausreichenden Schutz vor der Hitze. Trotz allem sitzt Hans Moser entspannt an seinem Schattenplatz im Liegestuhl. Die Schweissperlen kullern ihm nur so von der Stirn über die Wange den Hals hinunter.

Ruth ist mit dem Abwasch beschäftigt: «Heute Nachmittag müssen wir zu Herrn Fougasse, Hans. Wolltest du nicht noch duschen? Sonst sind wir wieder knapp dran. Also, mach vorwärts!»

«Ja, ich mache ja schon», murmelt Hans vor sich hin. Dass meine Frau auch immer die Nase in fremde Angelegenheiten stecken muss. Das haben wir nun davon, mitten drin anstatt nur dabei.

Um fünf vor zwei klopfen die beiden an die Scheibe des Empfangsschalters der Gendarmerie Maussane-les-Alpilles. Hans wischt sich nochmals die Stirn, da er die Steigung vom Dorf bis zum ausserhalb gelegenen Revier der Gendarmerie trotz Elektrobike nicht mehr ohne Weiteres schafft.

«Bonjour. Komme gleich!», ruft Fougasse den beiden aus der hinteren linken Ecke des Empfangsbüros zu. Sehen kann man Fougasse vom Schalter aus nicht. Mehrere Aktenberge und chaotisch herumliegende Gegenstände versperren die Sicht. Ist ja klar. Die Franzosen sind Chaoten. So bekommt er den Fall nie gelöst, und ich bin vergebens hier hochgeradelt, denkt Hans.

«Ich bin schon etwas nervös, Hans. Hätten wir einen Anwalt mitnehmen sollen?», fragt Ruth.

«Ach was, das ist doch wie früher. Räuber und Gendarm, weisst du noch? Da haben wir schon ganz andere Sachen erlebt, Ruth.» Hans versucht seine Ruth, welche er bereits seit Kindeszeit kennt, zu beruhigen.

Fougasse bittet die beiden in ein karg eingerichtetes Nebenzimmer. In der Mitte steht ein Tisch mit vier Stühlen. An den Wänden hängen willkürlich aufgehängte Diplome und Fotografien älterer Herren, eingerahmt und staubbedeckt. In der Ecke neben dem Fenster steht ein weiterer kleiner Tisch, darauf eine alte, mechanische Schreibmaschine.

«Eine Patria! Das so was noch existiert und gebraucht wird», ruft Hans Moser erstaunt.

«Genau, Monsieur. Und sie funktioniert noch tadellos», sagt Mademoiselle Plumetatz, Fougasses Sekretärin.

Sie betritt den Raum nach Fougasse und den beiden Mosers. Hans hat sein Leben lang in der Schreibmaschinenfabrik in Fraumünster gearbeitet und kann die Geräte im Dunkeln reparieren. Als er noch besser hörte, konnte er sogar den jeweiligen Schlagbalken am Geräusch erkennen. Mademoiselle Plumetatz setzt sich an den kleinen Tisch, spannt ein formales Papier in die Patria und tippt drauf los. Lange ist es her, seit Moser diese Geräusche täglich zu Ohren bekam.

«Alors, woher kannten Sie Herrn Gomez, Frau Moser?», beginnt Fougasse die Befragung.

«Eigentlich kannten wir ihn gar nicht. Aber wir kennen die Siedlung sehr gut. Wissen Sie, Hans und ich spazieren oft zwischen den Häusern hindurch und schauen, was sich wo verändert. Natürlich auch, um zu kontrollieren, ob alle Reglemente der Siedlungsgemeinschaft eingehalten werden. Die Regeln sind streng, aber wichtig. Da weiss man natürlich auch, wer wo permanent wohnt und welche Häuser an Touristen vermietet werden. Und da sieht man allerlei. Zum Beispiel ist da Haus Nummer 93, dort geht es komisch zu und her. Das Haus sieht verlassen aus, trotzdem steht immer wieder ein dunkler, älterer BWM mit Marseiller Kennzeichen davor. Wissen Sie, die mit den gelben Lichtern? Da wüsste ich gerne, wer davor parkt und was sich im Innern abspielt. Menschen habe ich dort noch nie gesehen. Ganz vorne, in Nummer 1, gleich neben der Abfallsammelstelle, wohnt dieser Alkoholiker, der in jedem einen potentiellen Abfallkriminellen sieht und alle beim Siedlungspräsidenten verpfeifen will. Oder in Haus 65 ist auch nicht alles normal. Dieses gehört der Firma France Mega Trade. Ich wüsste zu gerne, mit was die handeln. Gartenartikel sind es auf jeden Fall nicht. Denn der Garten würde etwas mehr Pflege vertragen. In Haus 117 wohnen diese komischen Italiener. Sie sollten einmal dieses Theater sehen, wenn die Frau in den Pool will. Ihr Mann muss immer vorgängig die Wassertemperatur messen. Dabei wird diese doch täglich am Eingang des Gemeinschaftspools angeschrieben. An seinem Auto kann man übrigens die aktuelle Uhrzeit ablesen. Jede Stunde legt er ein neues Badetuch unter die Windschutzscheibe, auf die Sitze oder sonst irgendwo auf die Innenraumverkleidung, um seinen funkelnden Audi vor der Sonne zu schützen. Jeden Tag dasselbe Ritual. Und dann erst dieser schreckliche Vorgarten von Haus 44. Die haben nichts Besseres zu tun, als täglich ihre Gartenzwerge zu polieren und ihre Buchssträucher in Form zu schneiden. Sie haben gar einen Eiffelturm nachgeschnitten. Ab und zu spielen mein Mann und ich eine Runde Pétanque. Es hat einen Platz in der hintersten Ecke der Siedlung, gleich hinter den beiden Tennisplätzen. Um dorthin zu gelangen, muss man neben Haus 135 vorbeigehen, demjenigen von Herrn Gomez. Dabei ist uns aufgefallen, dass am Haus zahlreiche Überwachungskameras installiert sind. Es scheint, als würden damit die Aktivitäten des Nachbars aufgezeichnet. Diesen kennen wir jedoch nicht persönlich. Dort sind immer junge, braun gebrannte Typen zu sehen», beendet Ruth ihre fast endlose Tirade.

Es scheint keine brauchbaren Hinweise zum Tod von Herrn Gomez zu geben. Auch ein Motiv kann bislang nicht einmal ansatzweise eruiert werden. Selbst nach den gefühlten hundertsechzig Geschichten von Frau Moser sieht Fougasse nichts Brauchbares. So beschliesst er, sich am nächsten Abend unter die Leute des Nachbarfestes, dem Fête des voisins, der Feriensiedlung zu mischen. Dieses findet auf dem Poolvorplatz der Siedlung statt. Jeder bringt etwas Kulinarisches aus seinem Land mit und für vier Euro kann man sich auch an den Getränken beteiligen. So steht es zumindest am halboffiziellen Anschlagbrett der Siedlung. Zuvor will Fougasse jedoch nochmals in das Haus von Gomez. Es muss doch irgendetwas geben, das auf einen Einbruch hindeutet.

Im Haus 135 riecht es komisch und abgestanden. Irgendwie verlassen und doch bewohnt. Was es mit den Überwachungskameras auf sich haben mag? Fougasse ist sich eigentlich schlüssig, dass da bei Frau Moser eine Sicherung durchgebrannt ist. Gomez und Hightech miteinander zu verbinden, scheint so unglaubwürdig, wie Plumetatz an einem meterlangen Strohhalm saugend am Ballermann in Mallorca zu erblicken. Zweites wird einem beim Anblick der zierlichen, etwas kleinen Sekretärin sofort klar. Zurückhaltend, diskret, strebsam und unauffällig werkelt Plumetatz bereits seit vielen Jahren auf der Gendarmerie. Eigentlich weiss es jeder, auf der Gendarmerie hat sie heimlich die Hosen an. Plumetatz ist so etwas wie die alte Nonna einer italienischen Grossfamilie, der Fels in der Brandung. Sie geniesst daher bei allen Mitarbeitenden höchsten Respekt. Denn in irgendeiner Form und Situation hat sie schon jeden mindestens einmal vor der teilweise unberechenbaren Art ihres Vorgesetzten Jean Fougasse behütet. Dieser hat aber längst am meisten Zähler auf dem Plumetatz-Konto und würde sich nie und nimmer gegen sie stellen. Ohne sie wäre Fougasse aufgeschmissen. Zugeben würde er das aber nicht. Genau wie Fougasse würde aber auch sie das Landleben für keinen Preis mit etwas anderem tauschen. Die Stadt ist ihr zu modern, zu hektisch. Während ihrer Ausbildung lebte sie für eine Weile in Aix-en-Provence. Es war die schrecklichste Zeit ihres Lebens. Der stinkende Abfallgeruch, die Abgase, Kriminalität, anonymisierte Rücksichtslosigkeit und vieles mehr würde sie sofort als Argument gegen das Stadtleben ins Feld führen. Nein, im Gegenteil. Zu gerne hilft Plumetatz auf dem Gutshof, Mas du mauvaise crapoud, ihres Bruders, nur unweit von der Gendarmerie entfernt, aus. Speziell Ende Herbst, wenn es so richtig an die Arbeit geht und die Oliven- und Traubenernte bevorsteht, trifft man sie oft im Betrieb an. Meist steht sie in der grossen Küche und hilft bei der Zubereitung der Speisen für die Gastarbeiter. Es ist für die kinderlose und alleinstehende Frau wie ein Ersatz der Familie, die sie sich ein Leben lang gewünscht hat. Doch mit jedem Jahr, welches seit dem bescheidenen Fest zu ihrem vierzigsten Jahrestag vergangen ist, wird dieser Wunsch unrealistischer und droht vollends als Staubwolke am Horizont der Provence vom Mistral weggeblasen zu werden. Sie kann einfach nichts mit diesen kantigen Männern hier auf dem Land anfangen und ist diesbezüglich viel zu schüchtern, um auch nur einen halben Schritt auf einen Kerl zuzugehen. Ihr Leben findet zu Hause, in der Gendarmerie und auf dem Hof ihres Bruders statt. «Mehr brauchst du nicht und mehr verdienst du auch nicht», redet sie sich oft vor dem Einschlafen ein.

 

Doch Fougasse steht immer noch am selben Ort beim Haus 135 und denkt über die von Frau Moser erwähnten Kameras nach. Gemäss Frau Moser seien diese Kameras vor einiger Zeit abmontiert worden. Fougasse betritt das kleine Schlafzimmer im Obergeschoss und öffnet das Fenster. Tatsächlich, an der Stelle, wo Frau Moser eine der vier Kameras gesehen hat, sind Bohrungen im Mauerwerk sichtbar. Etwa in der Grösse einer Kamerahalterung. Mon dieu, die alte Moser hatte also recht, denkt sich Fougasse und untersucht nun auch das Fenster im WC des Erdgeschosses und den Pfosten bei der Gartentüre. Es überrascht ihn nicht, dass er auch am Schornstein auf dem Dach dieselben Bohrungen vorfindet. Von den Kabeln oder Kameras fehlt jedoch jede Spur. Fougasse beschliesst, Frau Moser auf dem Nachbarsfest nach weiteren Details zu den Kameras zu befragen.

Es ist bereits ein heiteres Fest im Gange, als Fougasse zu den Leuten auf dem Poolvorplatz stösst. Ein Raunen geht durch die Menge, das sich aber gleich wieder legt. Fougasse bringt eine Käseplatte mit eingelegten Oliven mit. Er stellt diese auf das Buffet neben die anderen Köstlichkeiten. Darunter hat es viele französische Gerichte. Daraus schliesst er, dass auch einige Permanents unter den Gästen sind. Ach, da sind ja Herr und Frau Durussel. «Guten Tag, was machen Sie denn hier?», fragt Fougasse Herrn Durussel.

«Wir kommen alle Jahre ans Nachbarsfest, da wir ein Häuschen in der Siedlung besitzen, das wir an Touristen vermieten.»

«Ach so. Und ich vermutete schon ein halboffizielles Dorffest. Sie wohnen doch immer noch neben unserem ehrenwerten Bürgermeister, nicht wahr?»

«Ja, genau. Wissen Sie, in diesen harten Zeiten, in denen immer mehr Geld in die Sozialwerke des Staates fliesst, muss man sich ein zweites Standbein aufbauen. Wir sind übrigens nicht die Einzigen, die das tun. Dort drüben stehen Herr und Frau La Montagne. Sie besitzen auch ein Häuschen hier und ergänzen so die Einkünfte ihrer Pizzeria ausgangs Maussane», erklärt Frau Durussel.

«Oh yes, they make delicious Pizzas. Have you tried one yet?», mischt sich plötzlich eine Engländerin ins Gespräch ein.

«Ja, wir essen deren Pizzen gerne. Sie sind kleine Meisterwerke. Zudem liegt die Pizzeria ja sozusagen vor unserer Haustür», erklärt Herr Durussel.

«Ach ja, die kleine Pizzeria an der Hauptstrasse mit dem charmanten Hinterhof und den paar wenigen Tischchen dazu? Ich schaue jedes Mal gerne zu, wie sie Pizzen backen. Ich gebe immer ein Trinkgeld. Schon nur der grellen Glocke und dem extra Glas Rosé, das es anschliessend gibt, zuliebe», meint Fougasse.

«Seit die Familie La Montagne die Pizzeria betreibt, steht wenigstens dieser blöde Pizzawagen nicht mehr jeden Abend auf dem Platz vor der Kirche. Dieser Antonio ist ein unfähiger Pizzaiolo. Ich mochte seine Pizzen noch nie. Wer weiss, wo er nun sein Unwesen treibt. Ich glaube er ist jetzt nur noch zwei Mal pro Woche in Maussane», beendet Frau Durussel das Gespräch.

In der Provence ist es vielerorts üblich, dass abends eine fahrende Pizzeria, meist in einem alten, ausgebauten Peugeot-Lieferwagen, an einem zentral gelegenen Platz im Ort Pizzen zu günstigen Preisen verkauft.

Nun sind auch Mosers eingetroffen, doch das Gespräch bringt keine neuen Erkenntnisse. Fougasse unterhält sich noch mit einigen weiteren Gästen am Fest. Der Mord an Gomez ist allgegenwärtig. Doch überall, wo er auftaucht und das Gespräch sucht, sind die Leute sehr verschlossen.

Am nächsten Tag erscheint Fougasse etwas später als gewöhnlich im Büro. Sein Kopf schmerzt vom vielen Pastis, den er zu früher Stunde am Nachbarsfest zusammen mit dem Siedlungswart noch getrunken hat. Er lässt sich von Plumetatz ein doppeltes Aspirin mit einem Noisette, so nennt man in Südfrankreich einen Espresso mit einem Schuss Milch oder Kaffeerahm, bringen und hofft, so ein wenig auf Touren zu kommen. Irgendwie zieht es ihn heute nicht aus dem Büro heraus. Daher nutzt er die Zeit alle Unterlagen, die in Gomez Haus beschlagnahmt worden sind, zu studieren: Versicherungspolicen, Bankbelege, Kaufverträge, Ferienunterlagen. Plötzlich stösst er im Quittungsordner auf einen Lieferschein für vier Überwachungskameras und ein Aufnahmemischgerät.

«Na endlich», ruft er durchs stille Büro. Ich bin eben nach wie vor ein richtiger Spürhund, lobt sich Fougasse selber. Er liebt die kleinen Details, welche schlussendlich ein Gesamtbild ergeben und nicht jedem auf Anhieb oder überhaupt auffallen. Solche Mitmenschen trifft er des Öftern. Sie fallen ihm regelrecht auf. Meist ärgert er sich ab ihrer Oberflächlichkeit und der Ignoranz mit welcher sie kleine Details ausblenden um alles in denselben Topf zu werfen.

Fougasse studiert die Lieferdetails und wird stutzig, als er den Namen der Lieferfirma liest. France Mega Trade.

Es ist nicht viel los auf dem Office Judiciaire du Livre Foncier, dem Grundbuchamt in Maussane, als Fougasse wissen will, auf wen Haus 65, jenes von France Mega Trade, eingetragen ist. Monsieur Abbet, der Grundbuchverwalter, sucht das gewünschte Blatt heraus. Die Liegenschaft ist auf einen Herrn Felix Lacroix aus Brüssel eingetragen. Zurück in seinem Büro findet Fougasse im Handelsregister gleichnamiges über France Mega Trade heraus. Felix Lacroix ist der Geschäftsführer der Firma, deren Zweck mit internationalem Handel von Waren und Gütern aller Art angegeben wird und die ihren Firmensitz in Marseilles hat. Fougasse beschliesst, Herrn Lacroix auf der einzigen Nummer anzurufen, die er ausfindig machen kann und wählt die besagte Nummer auf seinem Tischapparat.

Eine Automatenstimme fordert ihn zur Eingabe irgendwelcher Codezahlen auf, um zum Anrufbeantworter zu gelangen. Schon klar, dass da niemand an den Apparat geht, denkt er sich und macht sich auf die Suche nach der Anschrift, welche zur gewählten Nummer gehört. Ein paar Minuten später wird er fündig. Es scheint sich um einen Briefkasten in der Nähe des Hafens von Marseilles zu handeln. Die Liegenschaften dort sind bekannt für die Vermietung von zusätzlichen oder gemeinsam genutzten Briefkästen. Man kann diese für wenig Geld im Jahresvertrag mieten und so einen Firmensitz vortäuschen. In Tat und Wahrheit ist dort niemand am Arbeiten. Die Post wird von der Vermieteragentur geleert und an entsprechende im Vertrag festgehaltene Adressen weitergeleitet.

Immerhin findet Fougasse auf der Webseite des Kameraherstellers die Details zu den von Herrn Gomez gekauften Artikeln heraus. Er beschliesst, nach Avignon in den Darty, ein grosses Geschäft für Unterhaltungselektronik, zu fahren. Eigentlich hasst Fougasse diese grossen Einkaufsviertel, welche in Blechoptik aus dem Boden gestampft werden. Sie sind unpersönlich und nur auf Profit aus. Die Angestellten haben kaum Ahnung von dem, was sie den Leuten verkaufen und sind sowieso froh, wenn niemand etwas fragt. Fougasse zieht den persönlichen Kontakt zu einem lokalen Händler vor. Heute macht er jedoch aufgrund der Dringlichkeit eine Ausnahme. Ein spindeldürrer und kantiger, etwas bleicher Angestellter im Darty-Shirt nimmt sich, entgegen Fougasses Erwartungen, alle Zeit, seine Fragen geduldig zu beantworten. Er gibt ihm sogar die Wandhalterung einer Kamera mit und will dafür weder Pfand noch Unterschrift. Fougasse merkt, dass er sich in seiner Haltung gegenüber der neuzeitigen Blechoptik dieser Einkaufsviertel wohl etwas getäuscht hat.

Im Anschluss fährt er direkt zu Gomez’ Haus, um die Wandhalterung an der Eingangspforte über die Bohrungen zu halten. Zweifelsohne sind die Abmessungen identisch. Gomez hat also bei Lacroix Ware gekauft, um sie in seinem Haus zu installieren. Soviel steht fest. Doch wer hat sie installiert und was wollte Gomez damit filmen? Fühlte er sich bedroht? Die Siedlung ist doch eigentlich mit dem hohen Zaun und dem massiven Eisentor ausreichend vor dem Zugang Fremder geschützt.

Fougasse will zurück ins Büro fahren. Doch das Fahrzeug eines Handwerkes, in französischer Manier geparkt, versperrt Fougasse den Weg dermassen, dass er nicht passieren kann. Zum Glück ist die Siedlung kreisförmig erschlossen. Er lenkt sein Fahrzeug in die entgegengesetzte Richtung, um so zur Ausfahrt der Siedlung zu gelangen.

Die Strasse ist zwar etwas eng, aber so wird er immerhin herauskommen, ohne auf diesen Handwerker warten zu müssen. Im Schritttempo fährt er durch die Siedlung und stellt plötzlich fest, dass auf Parkplatz Nummer 65, dem Haus von France Mega Trade, ein alter, verbeulter Citroën steht.

«Hallo, ist da jemand?», ruft Fougasse über das Gartentor von Haus 65.

«Ich nur putzen», antwortet eine Frau mit Kopftuch verunsichert.

«Putzen Sie schon lange hier?», fragt Fougasse höflich.

«Nein, nur halb Stund.»

«Nein, ich meine nicht heute. Sondern wie oft?», präzisiert er die Frage.

«Ah, ja, schon seit viele Jahr, Herr Lacroix ist sehr nette Mann und ich froh putzen hier.»

«Wissen Sie, wann Herr Lacroix hier anzutreffen ist?»