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Mathias Bröckers
Die Rückkehr nach Eleusis
Psychedelische Mysterien der Antike
E-Book-Ausgabe
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Impressum
Mathias Bröckers
Die Rückkehr nach Eleusis
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Redaktion und Lektorat: Markus Berger, Felsberg
Korrektorat: Jutta Berger, Felsberg
Layout: Janine Warmbier, Hamburg; Mitarbeit: Nina Seiler
Druck: Druckerei und Verlag Steinmeier, Deiningen
Printed in Germany
ISBN: 978-3-03788-476-8
eISBN: 978-3-03788-493-5
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Inhalt
Die Rückkehr nach Eleusis
Nachwort
Weiterführende Literatur
Über den Autor
Triptolemos zwischen Demeter (l.) und Persephone (Votivrelief aus Eleusis, um 440–430 v. Chr., Archäologisches Nationalmuseum Athen).
Die Rückkehr nach Eleusis
Das Mysterium von Eleusis war eines der bestgehüteten Geheimnisse der Antike. Fast zwei Jahrtausende lang, bis zur Zerstörung des Tempels durch christliche Barbaren im 4. Jahrhundert, zogen Wallfahrer jedes Jahr im September auf der Heiligen Straße von Athen nach Eleusis, fasteten und umtanzten den der Göttin Demeter geweihten Brunnen im Vorhof des Heiligtums. Die Nacht verbrachten sie in der Mysterienhalle, einem großen fensterlosen Saal. Priester bereiteten einen »heiligen Trank«, den Kykeon, den die Teilnehmer gemeinsam zu sich nahmen – und dann geschah es. Eine so unmittelbare und unaussprechliche Erfahrung, dass sie nur »geschaut«, aber nicht ausgesprochen werden durfte – bei strengen Strafen war es verboten, über das Erlebte zu berichten. Über zwei Jahrtausende haben sich die in Eleusis Initiierten daran gehalten, die Philosophen Sokrates, Platon und Aristoteles, der Tragödienautor Sophokles – sie waren, wie alle Griechisch sprechenden Menschen ihrer Zeit, mindestens einmal im Leben nach Eleusis gepilgert. Sophokles schreibt: »Dreifach glücklich sind jene unter den Sterblichen, die, nachdem sie diese Riten gesehen, zum Hades schreiten; ihnen allein ist dort wahres Leben vergönnt.«
Ehrfurchtgebietende, dunkle Äußerungen wie diese liegen in großer Zahl vor, doch was sie rechtfertigte, welche Offenbarung die Teilnehmer derart überwältigte, dass sie selbst den Tod für überwunden glaubten – dieses Geheimnis blieb auch nach dem endgültigen Niedergang der athenischen Kultur im vierten nachchristlichen Jahrhundert verborgen. Selbst römische Kaiser wie Marc Aurel und Hadrian, die zu den Eingeweihten zählten, hielten sich an das Schweigegebot, und von Cicero, der nach Eleusis gepilgert war, ist gleichfalls nur ein raunendes Zeugnis überliefert: »Nicht nur haben wir dort den Grund erhalten, dass wir in Freude leben, sondern auch dazu, dass wir mit besserer Hoffnung sterben.« Tausende von Büchern über die Mythologie Griechenlands wurden seitdem geschrieben, hunderte von Abhandlungen über die eminente Bedeutung der dionysischen Kultur und der eleusinischen Riten verfasst – doch was im Zentrum dieses Mysteriums stand, blieb bis in unsere Tage ein Rätsel.1
Erst Ende der 1970er Jahre gelang es in interdisziplinärer Zusammenarbeit, eine plausible Hypothese aufzustellen: Der Bankier und Ethnobotaniker Gordon Wasson, der Pharmakologe und Chemiker Albert Hofmann und der Altertumsforscher Carl A.P. Ruck vermuteten, dass der »heilige Trank« Kykeon eine Zubereitung aus einem halluzinogenen Pilz sein könnte. Und zwar aus Claviceps purpurea, der im Deutschen »Mutterkorn« genannt wird und als Schmarotzer auf Gerste und Roggen sowie auf anderen Getreidearten wächst; auch die verwandte Art Claviceps paspali käme in Frage. Die Pilze enthalten unter anderem chemische Vorläufer des LSD, des stärksten bekannten Psychedelikums, das Albert Hofmann 1943 zufällig entdeckt hatte, als er mit den Alkaloiden des Mutterkorns experimentierte. In ihrer Studie »Der Weg nach Eleusis« weisen die Autoren nicht nur darauf hin, dass die gewaltige visionäre Wirkkraft des Kykeons in Eleusis höchstwahrscheinlich auf ebendieses Mutterkorn zurückzuführen ist, sie belegen auch, wie eng dieser Pilz mit dem Mythos der Demeter, der Erdgöttin, verflochten ist.
»Jedes Jahr wandelten neue Kandidaten für die Initiation auf jener Heiligen Straße nach Eleusis, Menschen aller Klassen, Herrscher und Prostituierte, Sklaven und Freie. Jeder Schritt auf dem Weg erinnerte an den Aspekt eines alten Mythos, der erzählte, wie die Erdmutter, die Göttin Demeter, ihre einzige Tochter verloren hatte, die beim Blumenpflücken von ihrem Bräutigam, dem Herrn des Todes, geraubt worden war. Wenn die Pilger in Eleusis ankamen, tanzten sie bis tief in die Nacht bei dem Brunnen, an dem Demeter um ihre verlorene Persephone geweint hatte. Sie tanzten zu Ehren dieser beiden Göttinen und ihres geheimnisvollen Gatten Dionysos. Dann durchschritten sie die Tore in den Festungsmauern, hinter denen, abgeschirmt von profanen Blicken, das große Mysterium von Eleusis stattfand. Die antiken Schriftsteller geben einmütig an, dass im großen ›Telesterion‹, der Initiationshalle im Inneren des Heiligtums, etwas zu sehen war. So viel durften sie immerhin sagen. Die Halle war jedoch, wie man heute anhand archäologischer Reste rekonstruieren kann, völlig ungeeignet für Theateraufführungen. Was man dort zu sehen bekam, war kein Spiel von Schauspielern, sondern in Platons Worten, ›phantasmata‹, eine Reihe geisterhafter Erscheinungen. Selbst ein Dichter konnte nur sagen, er habe den ›Beginn und das Ende des Lebens gesehen und erkannt, dass sie eins seien‹.2
Ruinen von Eleusis
Demeter und Kore (Persephone), Marmorrelief, 500–475 v. Chr., Archäologisches Museum von Eleusis
Ähnlich ehrfürchtiges Stammeln erlebte Gordon Wasson in den 50er Jahren, als er die religiösen Rituale mexikanischer Indianer erforschte. Im Mittelpunkt ihres Kults steht die Einnahme eines als heilig verehrten Pilzes, dessen halluzinogener Wirkstoff Psilocybin eng mit dem des Mutterkorns verwandt ist. Ähnlich wie das Meskalin des Peyote-Kaktus, den andere mexikanische Stämme als sakrale Droge verwenden, und der Wirkstoff des Fliegenpilzes, dem »Soma« der archaischen Priester-Schamanen in Sibirien und Indien. Die übereinstimmenden Berichte, auf die der Pilz-Ethnologe Wasson bei diesen Völkern stieß – der Pilz als »Draht« zur Kommunikation mit dem Übernatürlichen –, ließen ihn schon damals vermuten, dass auch das klassische Griechenland in seiner rituellen Festung Eleusis halluzinogene Drogen verwendete. Doch die Altertumsforscher, die er daraufhin ansprach, taten seine Vermutung als völligen Unsinn ab. Das »Gesehene«, von dem die Initiierten berichten, hielten sie für kultische Gegenstände, den »heiligen Trank« für Wein: Nach herrschender Meinung wurde den Pilgern in Eleusis eine sakrale Theateraufführung zuteil, eine Art Oberammergau antik. Selbst wenn ein einfacher griechischer Hirte durch ein solches Mysterienspiel und einen Schluck Wein durchaus zu beeindrucken gewesen sein mag, dürften städtische Intellektuelle wie Platon und Cicero davon kaum derart berührt worden sein. Mit Theater und »Show« waren sie ebenso vertraut wie mit Musik, Tanz und berauschenden Getränken. Dem Wein bei ihren Gelagen und Symposien war häufig Opium zugesetzt, Rausch und Ekstase waren im Griechenland dieser Epoche alles andere als unbekannt. Genauso wenig ist zu erwarten, dass die Philosophen und Schriftsteller ihren kritischen Verstand freiwillig an der Garderobe des eleusinischen Tempels abgaben – nein, sie mussten dort etwas erlebt haben, was selbst den großen Rhetorikern die Sprache verschlug.
Zu Hilfe bei der Aufdeckung des Rätsels kam ein öffentlicher Skandal im Athen des Jahres 415 v.Chr., von dem in fragmentarisch erhaltenen Prozessakten die Rede ist: Das eleusinische Geheimnis war profanisiert worden, aristokratische Bürger hatten ihren Gästen den visionären Trank als Partyvergnügen angeboten und mussten sich dafür vor Gericht verantworten. Einer der Angeklagten war der ruhmreiche Heerführer Alkibiades, der sich nach Sparta absetzte, als man ihn von seinem Kommandeursposten bei der Schlacht von Syrakus zum Prozess nach Athen zurückbeorderte. Er wurde in Abwesenheit zum Tod verurteilt und sein gesamter Besitz beschlagnahmt. Doch es sind nicht nur diese Spuren antiker Acid-House-Partys, auf die sich die Autoren bei ihrer Beweisführung berufen, sie zeigen auch, dass die Bedeutungsstruktur des Demeter-Mythos auf das Geheimnis psychoaktiver Pflanzen verweist. Es sind keine einfachen Blumen, die Persephone pflückt, als sie ins Reich der Toten entführt wird, es ist der hundertköpfige Narkissos, eine Drogenpflanze. In »Der Weg nach Eleusis« heißt es dazu:
Fries mit floralem Motiv (Mohn) und Weizengarbe aus der Kleinen Propyläa
»Es besteht kein Zweifel daran, dass es sich beim Raub der Persephone um einen drogeninduzierten Anfall handelt. Dieser Umstand ist von den Altertumsforschern nie beachtet worden, obschon er aufgrund unseres Wissens über die Religionen der vorgriechischen Ackerbauvölker absolut zu erwarten ist. Das Zentrum dieser Religionen war der Zyklus von Tod und Wiedergeburt in der Pflanzen- und Menschenwelt. Die Frau war die Große Mutter und die ganze Welt ihr Kind. Das grundlegende Ereignis in diesen Religionen war die Heilige Hochzeit, durch welche die Priesterin mit dem Geisterreich im Inneren der Erde kommunizierte, um den Neubeginn des Ackerbaujahrs, des Lebens, zu bewirken. Ihr Gegenstück war ein Vegetationsgeist; er war sowohl ihr auf der Erde wachsender Sohn als auch der Gemahl, der sie in die befruchtende andere Welt entführte. Unter dem Namen Dionysos überlebte der als Gatte der Muttergöttin assimilierte Zeus bis in die klassische Periode hinein.«
Nicht der dionysische Wein, sondern der psychedelische Gerstentrank der Erdgöttin Demeter stand im Zentrum der griechischen Religion – dieser Befund von Wasson, Hofmann und Ruck rückte die gesamte Fachliteratur zu Eleusis in ein völlig neues Licht.3 Natürlich waren die rauschhaften, ekstatischen Elemente der Demeter- und Dionysos-Rituale keinem Historiker verborgen geblieben, den antiken Interpreten so wenig wie den Wiederentdeckern der hehren Hellenen in der europäischen Klassik. Für Nietzsche steht und fällt sogar die gesamte Kultur mit der Wiederbelebung des Dionysischen, doch so ahnungsvoll er sich als Psychologe hier erwiesen haben mag, so wenig bestand zu seiner Zeit die Möglichkeit einer empirisch-wissenschaftlichen Erforschung »dionysischer« Bewusstseinszustände und pflanzengebundener Ekstasen.
Den Grundstein dazu legte erst der Berliner Pharmazieprofessor Louis Lewin, der 1924 mit seinem Werk Phantastica eine erste systematische Erfassung der »betäubenden und erregenden Genussmittel« versuchte. Die oft anekdotischen Berichte über die bewusstseinsverändernden Wirkungen dieser Pflanzen konnten erst in den folgenden Jahrzehnten einer genaueren wissenschaftlichen Überprüfung unterzogen werden, als nach und nach die Alkaloide, die chemischen Wirkstoffe von Meskalin, Peyote und den »heiligen Pilzen« identifiziert wurden. Ihre eigentliche Bedeutung aber lässt sich erst seit den 70er Jahren ermessen, als die Gehirnforscher die Rolle der Neurotransmitter für unsere Bewusstseinszustände – die biochemische Steuerung des Gehirns durch drogenähnliche Botenstoffe – entdeckten. Bis dahin blieb den Kultur- und Religionsgeschichtlern also kaum etwas anderes, als angesichts des heiligen Tranks von Eleusis sowie des schamanischen Pflanzengebrauchs im allgemeinen in Rätselraten und Mutmaßungen zu verfallen.
Vor diesem Hintergrund hätte die Arbeit von Wasson, Hofmann und Ruck eigentlich wie eine Bombe einschlagen müssen, de facto aber blieb sie, abgesehen von ein paar journalistischen Rezensionen, in Wissenschaftskreisen nahezu unbeachtet. Daran haben weder das große Renommee der Autoren in ihren jeweiligen Fachgebieten noch die solide Argumentation und Faktenlage etwas geändert, ihr heißes Eisen – die Fundierung des griechischen Geisteslebens, und damit der abendländischen Kultur, in einer mystischen Drogenerfahrung – glüht bis heute im Verborgenen. Ist es wirklich ein Skandal, in das Zentrum des Metaphysischen, Übernatürlichen, Göttlichen eine Ausgeburt des »Reichs des Bösen« – die Droge – zu stellen und den profanen Genuss einer Pflanzensubstanz als Quelle des Heiligen zu identifizieren? Genau betrachtet, räumt das »LSD-Mysterium« von Eleusis dem antiken Griechenland gar keine Sonderstellung ein. Im Gegenteil: Es verbindet die Kulturgeschichte des Abendlandes mit der Kultur- und Religionsgeschichte anderer Erdteile, denn überall auf der Welt haben die Völker für den Blick über den Zaun von Raumzeit und Sterblichkeit auf die Hilfe von Pflanzen zurückgegriffen.4
In jenen Kriegswochen des Jahres 1943, als Albert Hofmann in Basel die einzigartige psychedelische (das heißt die Seele öffnende) Wirkung des Lysergsäurediethylamid (LSD) per Zufall an sich selbst entdeckte, schreibt Gottfried Benn, ausgehend von einem afrikanischen Trance-Gesang, den er in einem Film gesehen hat:
Karte von Eleusis
»Sein Wesen ist religiös und mythisch, eine erregende, das Einzelwesen steigernde Kommunikation mit dem All. Den Riten und Bewegungs-, den Rhythmus-Trancen stehen die pflanzenentbundenen Steigerer und Rauscherzeuger gegenüber, ihre Verbreitung ist weit universaler. Mehrere Millionen Erdbewohner trinken oder rauchen indischen Hanf, unzählige Geschlechter, durch zweitausend Jahre. Dreihundert Millionen kauen Betel, die großen Reisvölker würden eher auf diesen als auf die Arekanuss verzichten, mit Kauen aufhören, heißt für sie sterben. Die drei größten Weltteile erregen sich durch Koffein; in Tibet rechnet man die Zeit nach einer Tasse Tee; Tee fand man bei den Überresten prähistorischer Menschen. Chemische Stoffe mit Gehirnwirkung, Verwandt/er des Bewusstseins – erste Wendung des Primitiven zum Nervensystem. (…)
Unter Tausenden Wurzeln, Sträuchern, Bäumen, Pilzen, Blüten – dieses eine! Wahrscheinlich starben unzählige den Gifttod, ehe die Rasse am Ziel war. Steigerung, Ausweitung – provoziertes Leben. (…) Wer das tierisch nennt, verkennt die Lage: Es ist unter dem Tier, weit unter den Reflexen, hin zu Wurzel, Kalk und Stein. (…)
Ob Rhythmus, ob Droge, ob das moderne autogene Training – es ist das uralte Menschheitsverlangen nach Überwindung unerträglich gewordener Spannungen, solcher zwischen Außen und Innen, zwischen Gott und Nicht-Gott, zwischen Ich und Wirklichkeit – und die alte und neue Menschheitserfahrung, über diese Überwindung zu verfügen. Das systematische ›Atembeten‹ Buddhas, die rituellen Gebetshandlungen der altchristlichen Hesychasten, Loyolas Atemholen mit je einem Wort des Vaterunsers, die Derwische, die Jogas, die Dionysien, die Mysterien – es ist alles aus einer Familie, und die Verwandtschaft heißt Religionsphysiologie.«5
So gut Benn die Bedeutung des Mysteriums von Eleusis für den Ursprung der europäischen Kultur bekannt war, so wenig wusste er, dass dort einst eine der stärksten bewusstseinsverändernden Substanzen überhaupt zum Einsatz kam. Sonst wäre sein Aufsatz Provoziertes Leben, der zum Luzidesten gehört, was die europäische Essayistik im 20. Jahrhundert hervorgebracht hat, mit Sicherheit noch ein Stück provokativer ausgefallen. Doch auch so lesen sich die Zeilen, die er als Stabsarzt in der Kaserne in Landsberg an der Warthe zu Papier brachte, wie der synchrone Kommentar zu dem, was Albert Hofmann in Basel gerade entdeckt hatte. Benn: »Gott ist eine Substanz, eine Droge! Eine Rauschsubstanz mit verwandtschaftlicher Relation zu den menschlichen Gehirnen.«
Adam und Eva
Wenn aber Religion physiologisch begründbar ist, dann wird Metaphysik zur erfahrbaren Wissenschaft, ist keine Sache des Glaubens und Spekulierens mehr, sondern ein Feld des Wissens und der Empirie. Mystische Erfahrung, so erkennt Benn, hat mit bestimmten Substanzen zu tun, die in verwandtschaftlicher Beziehung mit der Biochemie des Bewusstseins stehen und »Religion provozieren«:
»Die deutsche Mystik nach Jakob Böhme, ›das Anheimfallen der natürlichen Ichheit an das Nichts‹ (bemerkenswerterweise: an das Nichts, nicht an Gott), diese Mystik, die ein moderner Forscher ›eine fast experimentelle Religionspsychologie rücksichtsloser Art‹ nannte, war nichts anderes – hier läge also vor: provozierte Religion.
All dies sind geschichtliche Tatsachen, weit verbreitete Erfahrbarkeiten, selbst biologisch beurteilt: psychologische Fakten. Gleichwohl steht der heutige Staat dem völlig fremd gegenüber. Vielmehr gründete er kürzlich eine Rauschgiftbekämpfungszentrale, und seine Biologen fühlen sich auf der Höhe der Zeit. Es würde schwierig sein, ihm zu bedeuten, dass sich diese Zentrale zum Menschheitsproblem verhält wie der Postbote zum Kosmopolitismus. Ferner unterlässt er es nicht, eine Steigerung der menschlichen Höhenfestigkeit für Bergsteiger unter dem Einfluss von Medikamenten im großen Umfang durch beauftragte Physiologen prüfen zu lassen, aber die Möglichkeit einer Steigerung der formal-ästhetischen Funktionen beachtet er nicht. Er pflegt seine Muttermilchsammelstellen, in deren einer 1200 Mütter in zwei Jahren beispielhaft 10 000 Liter gaben (…) Potente Gehirne aber stärken sich nicht mit Milch, sondern durch Alkaloide.«6
Treffender lässt sich nicht kommentieren, was Albert Hofmann zeitgleich entdeckte und 35 Jahre später als Grundlage des Demeter-Kultes identifizierte: die Alkaloide des Mutterkorns – das magische Molekül am Anfang der antiken Kultur. Hofmann hatte sich die Mutterkornalkaloide, die er schon drei Jahre zuvor isoliert hatte, im Frühjahr 1943 wieder vorgenommen, auf der Suche nach einem frauenheilkundlichen Präparat. Die gefäßverengenden, wehenauslösenden Wirkungen des Mutterkorns waren der Medizin von jeher ebenso bekannt wie die schweren, Ergotismus genannten Vergiftungserscheinungen, die der Genuss von Getreide verursacht, das von Mutterkorn befallen ist. Eine der Wirksubstanzen dieses Pilzes jedoch, mit der Hofmann im Labor zufällig in Kontakt gekommen war (LSD-25), verursachte keinerlei toxische Wirkung auf den Körper, dafür umso stärker auf das Bewusstsein: Wenige Tausendstel Gramm reichen aus, um die Wahrnehmung der Außen- und Innenwelt völlig zu verändern und eben jene zerebrale »Kommunikation mit dem All«, jenes Eintauchen in den »Urtraum« herzustellen, die Benn gerade als einziges Remedium gegen die »abendländische Schicksalsneurose« rezeptiert hatte. Um »den Zustrom von Erkenntnissen und von Geist zu vermitteln«, fordert er außerdem den »Ausbau visionärer Zustände durch Meskalin oder Haschisch«, Meditation zur Freimachung der »Organfunktionen« und »archaischer Mechanismen« – und: »Pervitin könnte, statt es Bomberpiloten und Bunkerpionieren einzupumpen, zielbewusst für Zerebraloszillationen in höheren Schulen eingesetzt werden. Das klingt wahrscheinlich manchem abwegig, ist aber nur die natürliche Fortführung einer Menschheitsidee.«
Das ist es in der Tat – und dass die Forderung noch heute manchem abwegig erscheint, liegt zum einen an der fortgesetzten Tätigkeit der Rauschgiftbekämpfungszentralen: »Gott« beziehungsweise die von Benn damit identifizierten Substanzen sind nach internationalem Betäubungsmittelgesetz »nicht verkehrsfähig«. Zum anderen hat es mit einer Geschichte zu tun, die im Folgenden kurz beleuchtet werden soll: Schon im Garten Eden nämlich waren nicht zufällig ganz bestimmte Pflanzen verboten.
»Gibt es nur einen einzigen Griechen«, fragte der Rhetoriker Aristides etwa um das Jahr 150 n.Chr., »einen einzigen Barbaren, der so unwissend, so gottlos ist, dass er Eleusis nicht als gemeinsamen Tempel der Welt ansieht?« Noch zu diesem Zeitpunkt schien es völlig undenkbar, dass die versprengten jüdisch-christlichen Sekten sich zu einer Großmacht aufschwingen und im Zuge der Eroberung Griechenlands durch den Gotenkönig Alarich die riesige Anlage des Demeter-Heiligtums in Eleusis im Jahr 396 n.Chr. zerstören würden. Sie waren scheinbar unwissend (was die Macht des heiligen Tranks angeht), scheinbar gottlos (zumindest was die Vielfalt des eleusinischen Himmels betraf, dem sie ihren monotheistischen Zentralgott entgegensetzten), und sie gingen bei der Eliminierung »heidnischer« Konkurrenz äußerst brutal vor. Doch überrascht konnten die Hüter von Eleusis über diesen Angriff eigentlich nicht sein: Das heilige Buch der jüdisch-christlichen Sekten, die ihren Tempel zerstörten und die Fortführung der Mysterien verboten, lässt die gesamte Menschheitsgeschichte mit einer Drogenrazzia beginnen.
Erinnern wir uns kurz: Nachdem der Herr Eva aus Adams Rippe geschaffen hat, dürfen es sich die beiden im Garten Eden gutgehen lassen. Alles ist ihnen erlaubt, nur eine bestimmte Frucht ist verboten, und zwar die vom Baum der Erkenntnis: eine bewusstseinserweiternde Pflanze. Dass es sich um eine solche handelt, wurde Eva von einer Schlange vermittelt – als Botin Gaias und Vermittlerin aus dem Tierreich macht die Schlange die unwissenden Menschen auf die geheimen Pflanzenkräfte aufmerksam. Die Geschichte der Paradiesvertreibung im Buch Genesis berichtet von einer Frau, die Wissen über psychoaktive Pflanzen besitzt. Bevor sie dieses Wissen mit ihrem Mann teilt, hat sie die Wirkung probiert und für gut befunden: »Als die Frau sah, dass es gut war, die Frucht des Baums zu essen, dass sie schön anzusehen war und ihr gut gefiel, nahm sie eine und aß sie. Auch ihrem Mann gab sie davon, und auch er aß sie. Da wurden ihnen beiden die Augen aufgetan, und sie entdeckten, dass sie nackt waren (…)« – Tatsächlich ist die Wirkung gewaltig: Die Augen werden geöffnet, die Sinne für die sexuelle Identität werden geschärft, sie werden sich ihrer selbst bewusst und erkennen »Gut« und »Böse«. Gleichzeitig entdecken sie aber auch, dass ihr Herr sie im Stil einer typischen Rauschgiftbekämpfungszentrale belogen hat. »Wenn du davon issest, musst du sterben!«, hatte es von den Früchten des Baums der Erkenntnis geheißen, doch Eva und Adam hatten eher das Gegenteil erfahren: Die Pflanze hatte ihr Bewusstsein erweitert und ihnen neue, zutreffende Erkenntnisse und Einsichten geschenkt. Kein Grund eigentlich für den Herrn, so aus der Haut zu fahren – und tatsächlich wird in der gesamten Geschichte der Vertreibung auch kein wirklicher Grund für das Verbot genannt, außer dem einen: »Der Mensch ist jetzt wie einer von uns geworden, da er Gutes und Böses erkennt. Nun geht es darum, dass er nicht noch seine Hand ausstrecke, sich am Baume des Lebens vergreife, davon esse und ewig lebe. So wies Gott, der Herr, ihn aus dem Garten Eden fort, dass er den Ackerboden bearbeite, von dem er genommen war«.
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