Das Rütli - ein Denkmal für eine Nation?

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

2.2.3 Andere touristische Fotografien

Da Bilder in touristischen Medien genauso gewichtig sind wie die dazu gehörigen Texte, werden sie hier als separate Bildgattung aufgeführt. Die Materialgrundlage deckte sich mit derjenigen, wie sie für die touristischen Texte beschrieben ist.[217] Explizit erwähnt seien lediglich die sieben Bilder, die auf der Internetsite von Schweiz Tourismus unter den Stichworten «Rütli – Rütliwiese» sowie «Weg der Schweiz: Schweizer Wilhelm-Tell-Route» zu finden sind.[218] Die Untersuchung auch dieser Abbildungen erfolgte in quantitativer und qualitativer Hinsicht, wobei zwei besonders häufige Fotografien – parallel zu den den häufigsten Postkarten-Motiven – ausführlicher interpretiert wurden.

2.2.4 Wertträger und Poststempel

Münzen, Banknoten, Briefmarken und Poststempel sind geschichtskulturelle Wert- und Bedeutungsträger, die durch ihre alltägliche Präsenz eine identitätsstiftende Tiefenwirkung zu entfalten vermögen.[219] Wegen dieser impliziten Bedeutsamkeit und des gleichzeitig kulturgeschichtlichen Abbildcharakters gehörten auch diese Wertträger resp. Medien[220] zum Materialkorpus und dienten zur Beantwortung der gebrauchsanalytischen Fragen, wann, wie oft und vor allem wie das Rütli als Ort oder der Gründungsschwur als damit verbundener Mythos dargestellt wurden.

Liegen zahlreiche philatelistische Arbeiten und Monografien zur Geschichte der Briefmarke vor, waren diese Postwertzeichen bisher nur selten Gegenstand geschichtskultureller und kommunikationswissenschaftlicher Forschung.[221] Für den Zeitraum von 1880 bis 1945 hat Alexis Schwarzenbach eine kulturwissenschaftliche Studie vorgelegt, in welcher er – unter anderem im Spiegel der Briefmarken – die nationalen Identitätskonstruktionen von Belgien und der Schweiz vergleicht. Quellengrundlage bilden die mehr als 400 Briefmarken, die in diesem Zeitraum erschienen sind.[222] Für die Periode nach 1945 wurde ein philatelistisch einschlägiges Verzeichnis konsultiert.[223]

2.2.5 Flickr

Stellen die obigen Bildgattungen Materialien dar, um die kollektive Repräsentation des Rütlis zu erforschen, zeigen die private Fotografien, welche die Besucherinnen und Besucher auf dem Gelände herstellen, den individuellen Umgang mit dem Denkmal. Mit diesem Fokus reiht sich diese Teilstudie in eine längere Forschungstradition ein, die unter anderem davon ausgeht, dass die private Reisefotografie auf der einen Seite Projektionen individueller Vorstellungen und Bedürfnisse ausdrückt, auf der anderen aber auch verinnerlichte, kollektive Normen und damit die soziale Determiniertheit des privaten Bilderkanons.[224] Ähnliche Fragen, wie sie für die nichtteilnehmende Beobachtung formuliert sind, stellten sich auch für diese Bildgattung: Wie nehmen die Besuchenden das Denkmal wahr? Inwiefern werden Auseinandersetzungen mit dem Ort sichtbar und welcher Art sind sie?[225]

Dank online gestellter, individuell produzierter fotografischer Serien ist es inzwischen möglich, das an Ort virtuell hergestellte Bildmaterial systematisch zu erschliessen und auszuwerten.[226] Als Datenquelle diente Flickr, die weltweit wohl bekannteste und umfangreichste Online-Plattform für Fotografie.[227] Einbezogen wurden alle im Jahr 2015 auf Flickr auffindbaren Fotoserien, die einen privaten Rütli-Besuch – individuell oder in kleiner Gruppe – dokumentierten.[228] Denn zentrales Merkmal des beabsichtigten methodischen Zugriffs war der serielle Charakter des Bildmaterials. Gemeint sind damit in erster Linie nicht Einzelaufnahmen, sondern vielmehr zusammenhängende Bildserien, eigentliche Reportagen oder Fotoalben.[229] Die erzielte Stichprobe umfasste 40 Fotoserien.[230] Sie dokumentierten einerseits den eigentlichen Besuch des Geländes – diese Serien wurden vollständig erfasst. Andererseits berücksichtigte die Stichprobe auch Serien, deren Bilder das Rütli lediglich von aussen, vom Schiff aus oder von Seelisberg herab zeigten. Die Fotoproduzenten waren also nicht auf dem Gelände, sondern fotografierten das Denkmal aus Distanz. Von diesen recht häufigen Alben sind lediglich einige typische Beispiele in die erhobene Stichprobe eingegangen. Schliesslich erlaubte ein archivalischer Zufallsfund – ein in Form einer Negativserie dokumentierte Privatbesuch aus dem Jahr 1989 – einen exemplarischen, kontrastiven Vergleich, der die Alben- und Einzelbild-Analyse ergänzte.[231]

2.2.6 Rütli-Führer der SGG

Die SGG hat im 20. Jahrhundert insgesamt vier Rütli-Broschüren herausgegeben, deren Autoren jeweils Mitglieder der Rütlikommission waren. Die erste Broschüre erschien anlässlich des 50-Jahr-Jubiläums des Rütlikaufs.[232] Die von Melchior Schürmann, Aktuar der Rütlikommission, verfasste Schrift «Das Rütli als Nationaleigentum der Schweizerischen Eidgenossenschaft» wurde in einer Auflage von 26 000 Exemplaren produziert. Zum 75-Jahr-Jubiläum verfasste Martin Gamma 1935 eine neue Fassung: «Das Rütli: 75 Jahre Nationaleigentum».[233] Sie erschien sowohl in deutscher als auch in französischer Sprache. Die Rütlikommission setzte sich aktiv für den Absatz der neuen Broschüre in den Primar- und Sekundarschulen ein, konnte aber lediglich 18 000 Exemplare in deutscher Sprache und 2 400 in französischer Sprache absetzen – sehr wenig im Vergleich zu den rund 600 000 Schülerinnen und Schülern, welche die Kommission recherchiert hatte.[234] 1954 wiederum löste die Publikation «Rütli» von J. Hess Gammas Broschüre ab, auch Hess war Mitglied der Rütlikommission und zugleich Obwaldner Erziehungsdirektor.[235] Dieses Mal scheint die Absatzaktion deutlich erfolgreicher gewesen zu sein, da fast alle Kantone eine Bestellung für ihre Schulen getätigt hatten und in einem ersten Schritt eine Auflage von 170 000 deutschsprachigen Exemplaren gedruckt wurde; die vorgesehenen Auflagen in Französisch und Italienisch hingegen sind nicht nachweisbar. 1986 schliesslich legte Josef Wiget, Staatsarchivar und Kommissionsmitglied, eine Neufassung der Broschüre vor, die als Nachdruck noch heute in situ verfügbar ist. Die Analyse dieser vier Broschüren bezieht sich auf deren Titelseiten, eine Beschränkung, die weiter unten kommentiert wird.

Bereits kurz nach dem Jubiläumsjahr 1991 fielen die Besuchszahlen wieder auf das vorherige Niveau zurück, was die SGG dazu führte, über eine Belebung des Denkmals nachzudenken.[236] Der angefragte Verkehrsdirektor der Stadt Luzern legte drei Ideen vor. Erstens sollte das Rütli nicht verändert werden, aber mit zusätzlichen Fahnen festlicher gestaltet werden; zweitens riet er, die «geschichtlichen Ereignisse» mithilfe moderner Kommunikationsmittel zu präsentieren und, drittens, das Restaurationsangebot kreativ weiterzuentwickeln. Besonders der zweite Punkt schien der Rütlikommission eingeleuchtet zu haben, denn zwei Jahre später beschloss sie, ein Informationskonzept zu entwickeln.[237] Josef Wiget erhielt den Auftrag, im unteren Gaden eine kleine Ausstellung zu konzipieren. Das daraus entstandene «Rütlimemo», Herzstück der 1998 abgeschlossenen Erneuerung der Infrastruktur des Rütlis für fast CHF 3 Millionen, zeigte auf ca. 40 m2 nicht nur den aktuellen Forschungsstand zur Entstehung der Eidgenossenschaft, sondern zeichnete auch Entstehung und Wirkung des Rütlimythos nach. 2008, zu Beginn der letzten, umfassenden Sanierung des ganzen Geländes, liess der Bund die Ausstellungsmaterialien jedoch entfernen und im ersten Stock des oberen Gadens einen neuen Ausstellungs- und Präsentationsraum einrichten. Damit im Zusammenhang stand die Idee der SGG, ein neues Bespielungskonzept erarbeiten zu lassen.[238] Die eingereichten Vorschläge sahen neben einer neuen Internetseite vor allem auch interaktive Stationen auf dem Gelände vor, welche die Besucherinnen und Besucher auffordern sollten, sich aktiv mit dem Ort, dem Mythos und seinem Gebrauch auseinanderzusetzen. Letztlich umgesetzt wurde nur die Internetsite, die 2009 online geschaltet werden konnte und einige Jahre später vom derzeitigen Internetauftritt abgelöst worden ist.[239]

Sowohl die aktuelle Rütli-Broschüre von Wiget als auch der heutige Internetauftritt enthalten gleichermassen Text wie Bild. Die vorgenommene Analyse beschränkte sich auf die Titelseiten der Broschüren, eine Inhaltsanalyse der Texte entfiel. Zu diesem Entscheid trugen drei Überlegungen bei. Erstens bestehen diese Texte zu grossen Teilen aus sich wiederholenden Narrationen zur Rütli-Geschichte; einzig die Bedeutungszuschreibungen des Orts dürften sich unterscheiden, beeinflusst vom jeweiligen historischen Kontext. Zweitens umfasst die detaillierte Reiseführer-Analyse vergleichbares Datenmaterial, und drittens führten auch forschungspragmatische Überlegungen zeitlicher Art zu diesem Entscheid.

 

2.2.7 Kommerzielle Darstellungen

Erst ist jüngerer Zeit ist Werbung als ökonomisch-kulturelle Praxis zum Gegenstand breiterer kulturgeschichtlicher Forschung geworden; nur wenige Studien haben auf ihren geschichtskulturellen Gehalt, ja auf die darin enthaltenen nationalen Identifikationsmuster fokussiert.[240]

Für den schweizerischen nationalmythologischen Kontext hat Kreis darauf hingewiesen, dass sich die politische und kommerzielle Werbung vor allem der Gestalt des Tells – aufgrund ihres höheren symbolischen Werts – bedient, nur selten jedoch der drei Ur-Eidgenossen, geschweige denn des Rütlis.[241] Die intensiven Recherchen in Zeitungsarchiven führten dennoch zu einem Zufallsfund, einer französischsprachigen Werbeanzeige von 1939.[242] Darin preist ein führendes Möbelhaus eine komplette Wohnunseinrichtung an, die den Namen «Rutli» trägt. Dieses Angebot exemplifiziert kulturgeschichtlich das Konzept der Gesamtausstattung (als Aussteuer), ein Angebot, das die untere gesellschaftliche Schicht, Arbeiterinnen und Arbeiter sowie kleine Angestellte, in der ersten Jahrhunderthälfte nachfragten.[243] Gleichzeitig kann die Namensgebung der Wohnungseinrichtung als Ausdruck der zeitgenössisch wirksamen «Geistigen Landesverteidigung» gelesen werden, die gerade auch den Wohnalltag durchdrang. Im Rahmen der «Landi», der grossen Landesausstellung von 1939, konnten die Besuchenden eine Reihe von Modellwohnungen und -zimmer besichtigen, die sich stilistisch an einer nationalisierten Moderne mit traditionsgebundenen Elementen und heimischen Rohstoffen orientierten.[244]

2.2.8 Pressefotografie und übrige Bilder

Wie bereits in Kapitel 2.1.1 kurz erwähnt, basiert die Untersuchung der Gedenkfeiern, einer Ausprägung der kollektiven Praxis, auf Bildern, insbesondere auf Pressebildern. Darunter sind Fotografien zu verstehen, die zum Zweck der Publikation in Zeitungen oder Zeitschriften hergestellt werden oder die in einem anderen Kontext, sei es für Kunst- oder Wissenschaftsprojekte, entstehen.[245] Als besonders ergiebige Quelle erwies sich das Archiv von Keystone, der grössten Schweizer Bildagentur. Weitere Bilder fanden sich in den Online-Archiven der systematisch analysierten Zeitungen gemäss Kapitel 2.3.2 sowie in den Archivbeständen der SGG in Form von Presse-Clippings. Die auf diese Weise zusammengetragene Stichprobe setzt in den 1930er-Jahren ein, wird in der Nachkriegszeit farbig und verdichtet sich gegen Ende des Jahrhunderts. Diese Kontinuität ermöglicht es, die Feiern unter ritualtheoretischem Fokus zu untersuchen und Aussagen zu der jeweiligen Ausgestaltung und Bedeutung der Feier zu generieren. Schliesslich halfen weitere Fotobestände, Zustand und Veränderung des Denkmals zu erkennen und nachzuzeichnen. Sie sind in verschiedenen Archiven verteilt, besonders interessante Aufnahmen liegen im Staatsarchiv des Kantons Uri sowie in verschiedenen Online-Archiven (ETH Zürich, Museum für Kommunikation, Schweizerisches Nationalmuseum).

2.2.9 Auswertung

Für die Bildanalyse existieren zahlreiche methodische Ansätze. Je nach Bildgattung und Fragestellung sind entsprechende Methoden resp. eine Methodenkombination angezeigt.[246] Die für das vorliegende Projekt hilfreichen Bildinterpretationsverfahren werden nachfolgend kurz vorgestellt und auf ihre projektspezifische Eignung hin fokussiert.

Es ist die Kunstgeschichte, die im Bereich der Bild- und Architekturinterpretation über eine lange Tradition verfügt. Bis heute grundlegend für praktisch alle Bildinterpretationen – im engeren Sinn – bleiben die Arbeiten von Erwin Panofsky.[247] Sie erfuhren wesentliche Erweiterungen, vor allem durch den ikonischen Ansatz Max Imdahls.[248] Diese Verfahren werden im folgenden Absatz ausgeführt und ergänzt durch ihre sozialwissenschaftliche Weiterentwicklung.[249]

Panofsky postuliert in seinem kulturanthropologischen Modell das Vorhandensein von drei Bedeutungsschichten in bildnerischen und architektonischen Kunstwerken und stellt zugleich ein methodisches Vorgehen bereit, um diese Schichten zu interpretieren.[250] In der «vor-ikonografischen Beschreibung» werden die primären Sujets, das heisst die natürlichen, reinen Formen beschrieben und in ihren gegenseitigen Beziehungen identifiziert. Die «ikonografische Analyse» fokussiert auf die sekundären Sujets, das heisst auf die Beschreibung und Identifizierung von Themen und Konzepten, denen eine konventionale Bedeutung zukommt. Diese Ebene ist methodisch insofern unsicherer, als sie beim Interpreten voraussetzt, dass er mit bestimmten Themen, Vorstellungen und Gegenständen vertraut ist und sein Verständnis einer Vermutung, ja einer Unterstellung gleichkommen kann. Als «ikonologische Interpretation» bezeichnet Panofsky schliesslich die eigentliche Bedeutungszuweisung. Die aus der «vor-ikonografischen Beschreibung» und der «ikonografischen Analyse» gewonnenen Formen, Motive etc. stellen jetzt «Manifestationen zugrundeliegender Prinzipien» dar: Kunstwerke können als symptomatisch für die Persönlichkeit des Künstlers, einer bestimmten religiösen Einstellung oder der zeitgenössischen Kultur verstanden werden.[251] Solche Deutungen basieren wesentlich auf dem interpretierenden Subjekt und dessen Wissen, Haltung und Disposition. Der so verstandene, implizite Deutungsgehalt – der dem Künstler selbst unbekannt sein kann – korrespondiert mit dem von Ralf Bohnsack postulierten Dokumentsinn resp. mit dem sich dokumentierenden Wesenssinn, nunmehr zu verstehen als Habitus des Bildproduzenten, des abbildenden und des abgebildeten Bildproduzenten.[252]

Imdahl seinerseits nimmt Panofskys Wesensinn auf, stellt nun aber die einzigartige Bedeutung des Bildes ins Zentrum, das heisst das singuläre Deutungspotenzial eines Bildes, «eines nach immanenten Gesetzen konstruierten und in seiner Eigengesetzlichkeit evidenten Systems».[253] Hier scheint Imdahls kategoriale Begriffsdefinition eines Bildes durch, das er als Darstellung kennzeichnet, dessen «Bestandteile eine integrale Komposition erzeugen».[254] Es ist diese zentrale Setzung, die Eigenlogik von Bildern, die auch in den Sozial- und Kulturwissenschaften als fundamental und erkenntnisleitend aufgefasst wird.[255] Sie meint die anschauliche Bilderfahrung, die über das Wiedererkennen und Wissen hinaus durch das «sehende Sehen»[256] neue Erkenntnishorizonte zu erschliessen vermag. Imdahl weist Formen und Kompositionen ein deutlich grösseres Gewicht bei, da sich deren Funktion nicht darin begrenzen soll, nur die Gegenständlichkeit und ihre ikonografische Narration darzustellen («wiedererkennendes Sehen»). Entscheidend ist das «sehende Sehen» resp. das «formale Sehen», das nicht von einzelnen Formen und Gegenständen ausgeht, sondern in einem ersten Schritt auf die Gesamtkomposition achtet. Schliesslich – wiederum im Unterschied zu Panofskys Ikonologie – rekurriert Imdahl mit seinem ikonischen Ansatz nicht auf textliches Vorwissen, sondern setzt direkt an jenem Punkt an, den Panofsky als vor-ikonografische Schicht bezeichnet, bei der formalen Komposition also.

Imdahl unterscheidet drei Dimensionen der Formalstruktur, der Bildsyntax.[257] Während die perspektivische Projektion Gegenstände und Personen in ihrer Räumlichkeit und Körperlichkeit identifiziert sowie die Sichtweise des abbildenden Bildproduzenten und seine Weltanschauung aufzeigt, beschreibt die planimetrische Ganzheitsstruktur die formale und allenfalls auch farbkompositorische Konstruktion in der Fläche. Die szenische Choreografie schliesslich konzentriert sich auf die sozialen Szenerien. Gerade hier kommt der Simultaneität, dem zeitlichen und räumlichen Nebeneinander in einem Bild, Bedeutung zu. Denn sie ist nicht zufällig: Der abbildende und abgebildete Bildproduzent wählt – wenn auch unbewusst – aus. Fotografieren beispielsweise hat also selektiven, konstruktiven Charakter. Dabei lässt sich dieser Interpretationszugang nicht nur auf soziale Interaktion, sondern auf jegliche Bildinhalte anwenden. Gerade die Offenheit und Breite prädestiniert dieses Schema dazu, als Analysefolie zu dienen für die fotografischen Rütli-Repräsentationen, Objektansichten und inszenierte Szenen.

Panofsky und Imdahl sind auch mit dem dritten methodischen Instrument, der seriellen Bildanalyse, verbunden. Dieses Vorgehen basiert auf grösseren Bildserien im diachronen Verlauf oder in einem synchronen Querschnitt und zielt darauf ab, darin enthaltene Erzählungen, Konstellationen etc. quantitativ und qualitativ zu beschreiben und zu deuten. Von Beginn an, das heisst seit den 1970er-Jahren, fokussierte das Verfahren auf alltagsgeschichtliche und massenmediale Bildwelten, wobei gerade das Massenmdium der Fotografie dafür besonders geeignete Datenbestände bietet.[258] Ulrike Pilarczyk und Ulrike Mietzner skizzieren für die serielle Fotoanalyse ein dreiteiliges Verfahren.[259] Als dessen Erweiterung schlägt Nora Mathys vor, die seriell-vergleichende Untersuchung grundsätzlich auf zwei Ebenen vorzunehmen, auf der Ebene der Serie resp. des Albums und auf der Ebene der Einzelbilder oder Schlüsselbilder.[260] Sie geht davon aus, dass Einzelbilder, die in seriellem Kontext vorhanden sind, gerade dadurch eine erweiterte Bedeutungszuschreibung erhalten. Diese beiden Untersuchungsebenen werden methodisch in drei Kontextkreise aufgefächert.[261] Im Kontextkreis der einzelnen Bilderserie erfolgen sowohl eine Alben- als auch eine Schlüsselbildanalyse. Zu ersterer gehört die Bestimmung des Albenautors, die Entstehungszeit, die Serienbeschriftung, die Art der visuellen Erzählung, das heisst die Erzählart, -dichte (Foto pro Anlass) und -struktur (zum Beispiel chronologisch) sowie die Situierung von Schlüsselbildern innerhalb der Serie. Im Kontextkreis der ausgewählten Schlüsselbilder interessieren zwar auch die Entstehungsumstände, vielmehr jedoch dargestellte Motive, Objekte und Personen, analysiert nach Panofsky oder Imdahl. Auf der dritten Ebene schliesslich kommen Bilderserien anderer Autorschaften hinzu, die einen seriell-vergleichenden Zugang ermöglichen (Darstellung 6). Die seriell vorhandenen Bildbestände zum Rütli, Postkarten und Flickr-Fotoalben der privaten Rütlibesuche, wurden in wesentlichen Zügen nach Mathys’ Verfahren untersucht.


Adaptiertes Analyseschema für die serielle Bildanalyse
Schritt 1 Auswahl der Untersuchungsbestände Kriterial gestützt auf Fragestellung
Schritt 2 Albenanalyse •Autor (Herkunft, Geschlecht), Entstehungszeit, Titel, Erzähldichte der Alben •Induktive Motivanalyse, strukturierend-skalierend •Definition von Schlüsselbildern, gestützt auf Motivanalyse und Fragestellung •Diachrone Kontrastierung
Schritt 3 Schlüsselbilder •Bildanalyse nach Imdahl; allenfalls Kontextualisierung durch Autor, Entstehungszeit •Kontextualisierung der Schlüsselbilder und deren Dichte innerhalb der Alben
Schritt 4 Geltungsprofilierung •Vergleich mit anderen Datenbeständen zur Wahrnehmung des Rütlis durch Besuchende

Darstellung 6

 

Die im Raster vorgesehene induktive Motivanalyse beinhaltet zwar eine Motivauszählung, sie erhebt jedoch keinen quantitativ-repräsentativen Anspruch. Vielmehr erfährt sie erst durch Schritt 4, also den Vergleich mit anderen Datenbeständen, eine Validierung.[262] Die für die Schlüsselbilder vorgesehene Bildanalyse nach Imdahl soll in diesem methodischen Zusammenhang dazu dienen, die im Schritt 2 erhaltenen Resultate zu verdeutlichen und zu profilieren.

Eine breitere kulturgeschichtliche Kontextualisierung der erwähnten Bildbestände – im Sinn der «Visual History» – ist nur punktuell beizubringen.[263] Denn das würde bedeuten, dass – über die Abbildungs- und Entstehungsrealität der Bilder hinaus, die sich methodisch mit Panofsky, Imdahl und Mathys fassen lässt – ihre Nutzungs- und Wirkungsrealität zu thematisieren wäre. Gerade diese beiden Aspekte liessen sich jedoch für die untersuchten Bilderserien kaum beschreiben und objektivieren.