Das Rütli - ein Denkmal für eine Nation?

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2.1 Quellenkritische Hermeneutik schriftlicher und audiovisueller Medien

2.1.1 Allgemeine Quellen zum Denkmal und dessen Gebrauch

Den grundlegenden Quellenbestand zum Rütli stellt das Archiv der Verwalterin des Denkmals, der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft (SGG), dar.[183] Vor allem für die ersten Jahrzehnte nach dem Rütli-Kauf 1859 ergänzen nur wenige und zudem unsystematisch erhaltene Materialien die lückenlos erhaltenen Jahresberichte. Die Überlieferung der Protokolle der Rütlikommission setzt in den 1930er-Jahren ein. Sie ermöglichen einen detaillierten Einblick in die Tätigkeit des Gremiums, welche das Denkmal massgeblich prägte. Diese Überlieferungssituation hat zur Folge, dass textliche und bildliche Dokumente zu Einrichtung, Ausbau und Unterhalt der Anlage zwar vorliegen, wünschbar wären jedoch mehr Angaben zu Überlegungen, Absichten und Motivationen der Kommission. Als noch grössere Herausforderung erwies sich, die alltägliche, individuelle Rütlinutzung auf dieser archivalischen Grundlage zu rekonstruieren. Direkte schriftliche Spuren des Rütlibesuchs, Erfahrungsberichte, Briefe oder Ähnliches fanden sich nur sporadisch. Immerhin enthält das Archiv Dokumente, die im Hinblick auf den Besuch von Gruppen oder das Verhalten der Besuchenden beigezogen und ausgewertet werden konnten, insbesondere in Form der seit der Jahrtausendwende systematisch erfassten Bewilligungen für Gruppenbesuche, die gemäss Benutzungsreglement der SGG einzuholen sind. Weitere, für die Fragestellungen relevante und konsultierte Archivbestände befinden sich im Schweizerischen Bundesarchiv (Quellen zu Bundesfeiern) sowie in denjenigen Archiven, die in Kapitel 2.3.2 angeführt werden.

Vor allem im Archiv der SGG, aber auch im Bundesarchiv liegen die schriftlichen Fassungen einiger Reden, die anlässlich der Bundesfeier auf dem Rütli gehalten worden waren. Deren systematische, inhaltliche Analyse wäre denkbar gewesen. Dennoch wurde darauf verzichtet. Denn erstens sind nur wenige Reden aus chronologisch ungleich verteilten Jahren greifbar, ein analytischer und serieller Längsschnitt wäre kaum möglich gewesen. Zweitens machte ein kursorischer Durchgang deutlich, dass die Inhalte und die Mythendeutung – erwartungsgemäss – stark zeitgebunden sind. In diesem Projekt soll jedoch eine jeweils gegenwartsbezogene Sicht und Deutung des Rütlis auf der Grundlage anderer Quellenbestände erfolgen, wie beispielsweise anhand der Einträge in den Rütlibüchern. Die Bundesfeier hingegen ist bildlich zwar nicht lückenlos, aber dennoch regelmässig dokumentiert dank reichhaltigem Fotomaterial, das in Kapitel 2.2.8 erläutert wird.

2.1.2 Schulberichte

Teil der Gebrauchsanalyse bildet natürlich die Frage, ob tatsächlich jedes Schweizer Schulkind, entsprechend der landläufigen Meinung, im Rahmen einer Schulreise das Rütli besuchte. So einfach die Frage, so anspruchsvoll erwies sich deren Beantwortung. Die konsultierten Archivalien umfassten Akten, Protokolle und vor allem Jahresberichte verschiedener Schulstufen (Primarschule, Sekundarstufe I und II) in der Deutsch- und Westschweiz (Staats- und Stadtarchiv Zürich, Staatsarchiv Bern, Archives cantonales vaudoises, Archives de l’Etat de Fribourg).[184] Die Quellenlage erwies sich als problematisch, da die entsprechenden Unterlagen die Schulreise-Ziele entweder nicht systematisch ausweisen oder die Unterlagen an sich nicht systematisch archiviert wurden. Diesbezüglich hebt sich vor allem die Bildungsverwaltung der Stadt Zürich ab. Aufgrund der umfassend erhaltenen Angaben gelang es, längere, gesicherte Datenreihen zu den Schulreise-Zielen der Primar- und Sekundarschulen zu generieren. Die quantifizierende Auswertung in Form deskriptiver Statistik kann auf dieser Datengrundlage zwar keinen Anspruch auf Repräsentativität erheben, aber zumindest Entwicklungstendenzen aufzeigen.

2.1.3 Geschichtslehrmittel

Die Geschichtslehrmittel, oft als die Leitmedien des Geschichtsunterrichts aufgefasst,[185] stellen geschichtskulturelle Medien dar, deren Intentionalitäten teilweise, dessen Wirkungsweisen hingegen kaum fassbar sind im historischen Rückblick.[186] Diese Medien drücken mit ihren Zielsetzungen und Inhalten jene geschichtlichen Vorstellungen aus, jenes «Geschichtsbewusstsein, das Kollektive oder ganze Gesellschaften an die nachwachsende Generation weitergeben wollten».[187] In der diachronen Rückschau ermöglichen Lehrmittel daher nicht, auf individuelle, sondern höchstens auf kollektiv und intendierte geschichtliche Vorstellungen zu schliessen. In Bezug auf die heutigen Lehrmittel steht sogar dieser Zusammenhang zur Disposition, muss doch davon ausgegangen werden, dass Lehrbuchinhalte längst nicht immer mit den Unterrichtszielen resp. dem praktischen Gebrauch der Schulbücher übereinstimmen.[188]

In seinem gross angelegten Schulbuchvergleich untersucht Markus Furrer die Geschichtsbilder zur Schweizer Geschichte, wie sie in Geschichtslehrmitteln enthalten sind.[189] Unter Bildern versteht er narrative Konstrukte, die die Vergangenheit nicht einfach abbilden, sondern organisieren – aus einer gegenwartsbezogenen Perspektive. Der im Untertitel seiner Studie verwendete Begriff der «Leitbilder» weist darauf hin, dass die Geschichte der Schweiz als Abfolge von Bildern verstanden werden kann, gleichzeitig die Lesenden beeinflusst werden und eine über das Schulzimmer hinausgehende Wirkung haben sollen. Umgekehrt stellen diese Medien auch ein Geschichtsbild dar, das für die jeweilige Entstehungszeit der Werke repräsentativ sein dürfte.

Dabei spannt Furrer ein Analysedreieck auf, indem er die Erkenntnisse aus dem schweizerischen Nationalisierungsprozess kombiniert mit den didaktischen Konzepten der Schulbücher und deren Inhaltsanalyse. Für Letztere verwendet er zwei Ansätze. Zum einen erstellt er Bildkategorien – das Bild verstanden als sprachliches Bild – und untersucht deren Bedeutung und Funktion für Geschichtsbilder.[190] Zum anderen analysiert er diachron die Darstellung der Nationalgeschichte, geht dabei deskriptiv-hermeneutisch vor und ordnet seine Untersuchung nach gewichtigen Merkmalen dieser Geschichtsbilder. Seine Materialgrundlage bilden Schweizer Schulbücher, die seit den 1940er-Jahren auf Primar- sowie auf den Sekundarstufen I und II Verwendung fanden und im Untersuchungskorpus ungefähr gleich stark vertreten sind; zusätzlich zog er noch ältere Werke der Zwischenkriegszeit bei, um Kontinuitäten aufzuzeigen.[191] Wenig überraschend konstatiert er die ähnlichen zeitlichen Abschnitte, wie sie Barbara Helbling für die Lesebücher eruiert hat.[192] Er fasst die Publikationen der Nachkriegszeit aufgrund der inhaltlich-konzeptionellen Verwandtschaft mit jenen der Zwischenkriegszeit zusammen. Dieser Generation folgen die neuen Schulbücher der 1970er-Jahre, deren Grundkonzept in vielen der nach 2000 verwendeten Geschichtsbüchern erkennbar ist. Die Schulbuch-Generation der 1990er-Jahre schliesslich bringt zwar neue Elemente, war aber zum Zeitpunkt von Furrers Untersuchung noch nicht sehr zahlreich. Diese Abfolge von Konzeptionsgenerationen verdeckt in gewissem Sinn den Umstand, dass Schweizer Geschichtslehrmittel sehr lange im Gebrauch waren und über Jahrzehnte in fast unveränderter Auflage erschienen.

2.1.4 Schulische Lesebücher

Ebenso wenig wie aus den Geschichtslehrmitteln lassen sich auch aus den obligatorischen Lesebüchern der Schweizer Volksschule Rückschlüsse auf das individuelle Geschichtsbewusstsein ziehen. Vielmehr stellen sie geschichtskulturelle Medien dar, die kollektive Vorstellungen abbilden. Für die kollektive Gebrauchsanalyse dieses Projekts sind sie deshalb, genauso wie die Geschichtslehrmittel, von grosser Bedeutung. Glücklicherweise liegt eine Arbeit vor, die zeigt, inwiefern und vor allem in welcher Form nationale Identität in diesen Lesebüchern ihren Ausdruck fand. Helbling hat dazu 200 Bücher der Schweizer Volksschule für die Mittelstufe, das heisst für das 4. bis 6. Schuljahr der Primarstufe, untersucht und dabei Bestände aus der deutsch- und französischsprachigen Schweiz miteinbezogen.[193] Für die italienischsprachige Schweiz liegt eine analoge Untersuchung von Doris Senn vor, die in vergleichbare Ergebnisse mündet wie jene von Helbling.[194] Gemäss Helbling wirkten in den von den kantonalen Erziehungsdirektionen ernannten Lesebuchkommissionen vor allem Lehrpersonen mit, aber auch Schulinspektoren, Literaten und Journalisten zeichneten als Herausgeber für die Auswahl der Texte verantwortlich. Die Lesebücher, die Anthologiecharakter aufweisen, enthalten Beiträge verschiedener Themenkreise, Autoren und Sprachniveaus, die der jeweilige Herausgeber übernahm und dabei oft auch frei anpasste und veränderte. Das Hauptkriterium für die Auswahl aus diesen drei Bereichen war die Verwendbarkeit im Unterricht; die inhaltliche Konzeption der Lesebücher variierte kantonal stark. Waren in den Lesebüchern katholischer Kantone kirchengeschichtliche Texte zu finden, enthielten andere Sachtexte, zum Beispiel aus der Geografie oder Geschichte. Entsprechend den Lehrplänen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts stand vor allem in der 6. Klasse Geografie und Geschichte der Schweiz im Fokus. Texte, die mit nationaler Identität in Verbindung gebracht werden können, finden sich sowohl im literarischen als auch realkundlichen Teil der Lesebücher. Die Untersuchung von Helbling ist methodisch quellenkritisch-hermeneutisch ausgerichtet. Quantitativ-repräsentative Aussagen sind deshalb nur sehr begrenzt möglich.

 

2.1.5 Reiseführer und andere touristische Medien

Als Analogon zum Medium des Lehrmittels steht im ausserschulischen Kontext, im Freizeitbereich, die Quellengattung der Reiseführer.[195] Auf ihrer Basis planen Touristen ihre Routen, lassen ihren Blick leiten und entwickeln Vorstellungen über bevorstehende Ziele und historische Informationen.[196] Zugleich sind Reiseführer auch geschichtskultureller Ausdruck von zeitgenössisch verankerten Geschichts- und Wertvorstellungen, und zwar derjenigen der Reiseführer-Autoren und deren Verlage. Für das Rütli resp. die Innerschweiz, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend touristisch erschlossen und bereist wurde, setzt die lange Reihe von Reiseführern 1844 ein, als Karl Baedeker die erste Ausgabe seines Führers zur Schweiz veröffentlichte.[197] Die Ausgabe von 1844 bildet gleichzeitig den ersten Eintrag in einer Liste von 84 Reiseführern, deren serielle Analyse Einblicke in die visuelle und textliche (Re-)Präsentation des Denkmals gibt.[198] Die Auswahl der Reiseführer entspricht dem in der Zentralbibliothek Zürich greifbaren Bestand an Schweiz- und Innerschweiz-Führern in verschiedenen Sprachen. Dieser Bestand erstreckt sich über die ganze Untersuchungszeit des Projekts, also von 1844 bis 2013. Ab der Jahrtausendwende um 1900 liegt mindestens alle fünf Jahre – mit Ausnahme des Ersten und Zweiten Weltkriegs – eine Publikation vor, sodass sich der Datenbestand regelmässig und dicht über den Zeitraum verteilt. Fast die Hälfte der Führer stammt aus dem Verlagshaus Baedeker, ein knappes Viertel ist in englischer Sprache verfasst, weniger als ein Zehntel in Französisch sowie drei Exemplare in italienischer Sprache.

Die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring erbrachte in einem ersten Schritt induktiv, aus den Rütli-Einträgen der Führer gewonnene Kategorien.[199] Diese wurden nach Hettlings Dimensionen von Denkmal, Mythos und Fest geordnet. Im zweiten Schritt wurde die diachrone Entwicklung der drei genannten Dimensionen summarisch untersucht.

Diese diachrone Reiseführer-Analyse ergänzte die Auswertung weiterer, aktueller touristischer Medien. Die Materialgrundlage dazu bildeten Prospekte, die im Jahr 2013 in den Tourismusbüros in Brunnen und Altdorf, auf den Schiffen der Schifffahrtsgesellschaft des Vierwaldstättersees und den Stationen der Treib-Seelisberg-Bahn erhältlich waren. Aufgrund der sehr ähnlich gehaltenen Präsentationen auf den entsprechenden Internetsites konzentrierte sich die Analyse online verfügbarer Informationen – exemplarisch für die touristische Darstellung im Internet – auf diejenige der nationalen Tourismus-Agentur.[200] Systematisch nicht ganz korrekt wird hier der Wikipedia-Eintrag zum Rütli zu dieser textlichen Kategorie gezählt. Diese Zuordnung liesse sich allenfalls dadurch rechtfertigen, dass Wikipedia-Einträge im Sinn einer Reisevorbereitung konsultiert werden. Die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring[201] erstreckte sich auch auf diese Quellen, ergänzt durch eine Bildanalyse, die im nächsten Abschnitt beschrieben wird.

2.1.6 Bezeichnungen von Transportmitteln, Strassen und Plätzen

Die geschichtskulturelle Dynamik des Gedenkens lässt sich auch in dessen Präsenz in Form von Bezeichnungen im öffentlichen Raum ablesen.[202] Dabei dienen beispielsweise Strassennamen als Lesezeichen, die jedoch aufgrund ihrer Kürze lediglich auf das kollektive Gedächtnis verweisen, welches sowohl Referenzereignis als auch dessen symbolische Deutung speichert. Für Deutschland liegen Arbeiten vor, die aus mentalitäts- und politikgeschichtlicher Sicht die in den Bezeichnungen enthaltenen Erinnerungslandschaften aufzeigen.[203]

Diese geschichtskulturellen Lesezeichen unterliegen indessen der Entscheidungsbefugnis politischer Machträger. Am Beispiel Zürichs seien in aller Kürze die für Strassenbezeichnungen zuständigen Instanzen und die erkennbaren Tendenzen bei der Namensvergabe skizziert.[204] Ein seit 1875 und bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus dem Polizeivorstand und einer Fachkommission zusammengesetztes Gremium machte entweder selbst Namensvorschläge für Strassen oder nahm Anregungen von privater Seite auf. In dieser Fachkommission sassen neben dem Stadtbaumeister führende Geschichts- und Kunstgeschichtsprofessoren. Leitlinien für mögliche Bezeichnungen konnten besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts räumlicher resp. ortsspezifischer Bezug oder thematisch definierte Benennungsmuster für ganze Quartiere sein. Um die Jahrhundertwende, bedingt durch die grosse Eingemeindung von 1893, kamen vermehrt historische Persönlichkeiten, Helden der Nationalgeschichte und Personen von lokaler Bedeutung zum Zug. Seit 1907 schliesslich amtet die aus leitenden Beamten verschiedener Ämter zusammengesetzte Strassenbennungskommission, welche die Strassennamen nach vergleichbaren Kriterien vergibt.

2.2 Interpretation von Bildern

2.2.1 Bilder als Untersuchungsgegenstände

Nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch im gesellschaftlichen Kontext kommt dem Visuellen heute eine zwar viel grössere, gleichzeitig aber auch ambivalentere Bedeutung zu als zuvor: Realität bedarf der Abbildung, ja der objektivierbaren Abbildbarkeit, umgekehrt stellen die Manipulierbarkeit und die semantische Vieldeutigkeit ihre Objektivität in Frage.[205] So gelten Fotografien im medialen Alltag oft noch heute als realitätsgetreue Abbildungen der Wirklichkeit. Diese positivistische Sicht entstand mit der Erfindung der Fotografie im 19. Jahrhundert, als man davon ausging, dass eine Kamera der Natur ermöglichte, «sich selbst abzubilden».[206] Diese Bildgläubigkeit wich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Bildskepsis: Einerseits ist die Fotografie als Existenzbeweis der Realität des Abgebildeten sowie des vergangenen Akts des Fotografierens durch die technischen (Manipulations-) Möglichkeiten der digitalen Fotografie grundsätzlich in Frage gestellt, andererseits interessieren nunmehr – über die Abbildhaftigkeit hinaus – die Produktions- und Distributionsinstanzen, die Wahrnehmungsmuster, die Deutungs- und Wirkungsweisen, die soziale und politische Wirklichkeiten zu prägen und sogar zu schaffen vermögen. Fotografien sind konstruierte Produkte geworden, konstruiert durch Erzeuger, Gegenstand und Rezipient und deren machtdurchdrungenen, gesellschaftlichen Kontext.

Seit den 1990er-Jahren entwickelte sich die Visualität zu einem Paradigma, das seinen Ausdruck im «pictorial turn» (Mitchell) resp. «iconic turn» (Boehm) fand.[207] Demnach kommt dem Bildlichen nicht nur bei Prozessen des Denkens und des Wissenserwerbs eine wesentliche Rolle zu, sondern auch bei deren Erforschung in den Geschichts- und Sozialwissenschaften sowie in der Kulturanthropologie. Genauso wie sich Letztere auf vermeintlich nebensächliche, alltägliche Bilder richtet, etwa in Form von Postkarten, Werbung oder Comics, fokussiert sich die geschichtsdidaktische Forschung auf geschichtskulturelle Fragestellungen, die eine grosse Palette von Bildgattungen miteinschliessen.[208]

Der folgende Überblick verortet die im vorliegenden Projekt analysierten Bildgattungen und -bestände als materielle Grundlage gesamtkonzeptionell in der Gegenstands- und Gebrauchsanalyse. Anschliessend werden die dabei angewandten Methoden erläutert und begründet.

2.2.2 Postkarten

Die Beforschung des visuellen Mediums der Bildpostkarte hat sich in den letzten Jahren in der Geschichts- und Kulturwissenschaft intensiviert. Der Fokus liegt dabei auf mediengeschichtlichen, kunst- und sozialgeschichtlichen Studien.[209] Untersuchungen zur Abbildungsgeschichte einzelner Objekte sind ebenso selten wie Analysen des touristischen Blicks: Die textorientierte Geschichtswissenschaft hat die dazu vorhandenen Quellenbestände der privaten Urlaubsfotografie und der Tourismusprospekte bisher nur wenig zur Kenntnis genommen.[210] In dieser konzeptionell-methodischen Lücke verortet sich das vorliegende, explorative Teilprojekt zu den Rütlipostkarten.

Nach der Erfindung der Fotografie um die Mitte des 19. Jahrhunderts ermöglichte erst die drucktechnische Weiterentwicklung in den 1880er-Jahren, Fotografien massenhaft zu reproduzieren – in bebilderten Tageszeitungen, aber auch in Form der neuartigen Ansichtspostkarte. Die Entwicklung von der literarischen hin zur ikonografischen Massenkultur war damit angestossen.[211] Nicht nur der geringe Preis, sondern auch das Format eines praktischen Kommunikationsmittels führten dazu, dass die – anfänglich noch unbebilderte – Postkarte zu einem äusserst präsenten alltags- und geschichtskulturellen Bildmedium wurde, das man nicht nur verschickte, sondern auch sammelte.[212] Aus diesen Gründen stellen sie eine wertvolle Quelle dar, wenn es darum geht, reproduzierte Bilder und Vorstellungen von Orten und Objekten zu untersuchen.

Postkartensammlungen mit Rütlikarten sind zahlreich. Für die Untersuchung wurden insgesamt vier Datenbestände berücksichtigt, zwei öffentliche und zwei private. Sowohl das Staatsarchiv Uri als auch die Schweizerische Nationalbibliothek besitzen umfangreiche Bestände, die zum grössten Teil aus nicht gelaufenen, also nicht verschickten Postkarten bestehen.[213] Im Rahmen des Experteninterviews mit dem langjährigen Rütliführer Fredy Zwyssig (Seelisberg) entstand auch eine rasche und summarische Aufnahme seiner Postkartenalben.[214] Die vom Verfasser der Studie angelegte private Sammlung von Rütli-Postkarten stammt aus mehreren Quellen: aus dem Erwerb aller aktuell im Rütlihaus und in Brunnen verfügbaren Postkarten, aus archivierten Karten aus den Beständen des führenden Postkartenherstellers Photoglob[215] sowie aus Internetrecherchen vor allem auf kommerziellen Auktionsplattformen. Hauptkriterium für diese private Sammlung war die Datierbarkeit der Karten, sei es, dass sie einen Poststempel resp. ein handschriftliches Datum trugen, sei es, dass der Hersteller Photoglob das Jahr des Erstdrucks vermitteln konnte. Für diese Ersteditionen – nicht jedoch für die Nachdrucke – ist überdies die Auflagengrösse bekannt.

Insgesamt kann diese heterogene Postkarten-Stichprobe keine Repräsentativität beanspruchen, mit der vorgenommenen quantitativen und qualitativen Analyse sollte aber der Versuch unternommen werden, Tendenzen und Entwicklungen der Repräsentation zu skizzieren, die Wirkungsmöglichkeiten offenzulegen und auf diese Weise die textlich basierte, kollektive Gebrauchsanalyse durch eine visuelle zu ergänzen. Eine Text-Bild-relationale Untersuchung schliesslich wäre konzeptionell als Elemente der individuellen Gebrauchsanalyse zu werten und deshalb in Kapitel 5 der vorliegenden Arbeit zu verorten. Aus forschungspraktischen und -theoretischen Gründen wurde darauf verzichtet.[216] Die vorgenommene Analyse war dreischrittig: Der erste Schritt fokussierte auf die Frequenz der verschiedenen Kartenmotive. Konzentrierte sich anschliessend der zweite auf die chronologische Analyse der Motivverwendung, wurden im dritten exemplarisch typische Postkartenmotive nach qualitativen Gesichtspunkten untersucht.