Das Rütli - ein Denkmal für eine Nation?

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3.3.3 Schwurplatz ikonografisch/ikonologisch

Die Quellanlage ist ein landschaftsarchitektonisch dicht gestalteter Ort. Wirkte die 1865 eingeweihte Inszenierung wie ein Brunnen mit Röhren an flacher, steiler Rückwand, die sich deshalb deutlich von der naturhaften Umgebung abhob, will die bis heute erhaltene Konstruktion natürlich erscheinen. Wie in der gartentheoretischen Literatur des 19. Jahrhunderts empfohlen, verwendete man nunmehr Felsen, ja ganz Felsenpartien in unbehauenem, natürlichem Zustand. Natürliche Landschaft wurde abgebaut in Ingenbohl und auf dem Rütli rekonstruiert: Damit erreichte man die maximale Imitation der Natur.[395] Im gleichen Sinn zeugten die schrattenartigen Kalkfelsen von der Erosion, wie sie von den drei Quellen vermeintlich verursacht worden war, ganz so, wie es in der Gartengestaltung der Zeit beabsichtigt war.[396] Noch heute sorgen die Quellen des Schwurplatzes für diskrete akustische Sinnesreize, indem das Wasser durch die scheinbar natürlichen Erosionsrinnen geleitet wird, ein sinnliches Gestaltungselement, das die landschaftsarchitektonische Literatur hervorhebt als für die Gartengestaltung besonders effektvoll.[397]

Landschaftsarchitektonisch sind die jüngsten Massnahmen darauf angelegt, die bestehenden Elemente des romantischen Landschaftsparks fortzuführen und zu verstärken.[398] Die beiden neuen, minimalistischen Sitzbänke nehmen Materialität und Schwere der romantisch-historisierenden Steinsofas auf, zeigen aber eine moderne Formensprache. Die zusätzlich gepflanzten Eiben betonen die Dramatik des Ortes, indem der helle, lichte Weg von der Wiese in eine dunkle, schattige Stelle mündet, die eine atmosphärisch dichte Situation schafft. Hangseitig liess man zudem den Hain mit Kreuzzäunen – wie auf dem gesamten Gelände – umgrenzen, wie sie in romantischen Landschaftsgärten üblich waren. Diese landschaftsarchitektonischen Facetten kontextualisiert Kapitel 3.8.3 in der Gestaltung der Gesamtanlage.

Die Verbindung von Schwur und Quellen und die Gestaltung des Schwurplatzes auf dem Rütli evozieren verschiedene kulturgeschichtliche Traditionen. Besonders fliessendes Wasser gilt seit der Antike als lebensspendend, heil- und segenbringend.[399] Im mittelalterlichen Wallfahrtswesen bestand eine häufige Verbindung von Heiligengrab, Kultobjekt und heiliger Quelle.[400] Dem Wasser wurde eine übernatürliche Kraft zugeschrieben – was für das Quellwasser im Gegensatz zum üblichen, oft unreinen Gebrauchswasser schon nur aus rein hygienischen Gründen verständlich ist. Während die kirchlichen Autoritäten in Quell-, Baum- und Steinkulten heidnische Traditionen erkannten und sie deshalb mit Verboten belegten, gehörten der Quellenkult an Wallfahrtsorten und die damit zusammenhängende Verwendung des Wassers als Mittel der seelischen und körperlichen Reinigung und Heil(ig)ung zu den theologisch gerechtfertigten und lithurgisch legitimierten Handlungen.

Eng mit dem metaphysischen Charakter der Quelle hängt die Frage zusammen, ob sich der Schwurplatz als «locus amoenus» interpretieren lässt. Ernst Robert Curtius skizziert in seiner klassisch gewordenen Definition den «locus amoenus» als schönen, beschatteten Naturausschnitt, der minimal aus einem oder mehreren Bäumen, einer Wiese und einem Quell oder Bach besteht.[401] Er ist als Topos das Hauptmotiv aller rhetorisch-poetischen Naturschilderung von der römischen Kaiserzeit bis zum 16. Jahrhundert. So verbindet die antike Literatur das in dieser Ideallandschaft fliessende Wasser mit der Vorstellung von Erfrischung, Kühle, Reinheit, Heiligkeit und Fülle – die Nähe von Bäumen und deren Schattenwurf verstärken diese Wirkung.[402] Neben mehreren offensichtlichen Parallelen zum Schwurplatz lässt sich einzig das zentrale Element der Wiese nicht ohne Weiteres mit dem mineralisch gehaltenen Rund des Schwurplatzes identifizieren.

Ein weiterer Interpretationsansatz rückt den Platz in die Nähe eines germanischen Thingplatzes oder, allgemeiner betrachtet, eines vorneuzeitlichen Versammlungsorts.[403] Ein solcher Platz befand sich in der Regel unter grossen Eichen (einzelnen oder häufig drei oder sieben), Linden, an Felsformationen und grösseren Steinen, Flüssen oder Seen, auf Wiesen oder auf erhöht liegenden Hügeln, die Sicht ins tiefer liegende Land ermöglichten.[404] Während der Richter auf einem speziellen Stuhl, Symbol der richterlichen Macht, sass, nahmen die Schöffen auf einer Bank Platz, die oft aus dicken Steinplatten zusammengesetzt waren.[405] Für die Abhaltung von Gerichten waren heilige Orte wichtig, an denen Opfer gebracht und Gottesurteile gesprochen werden konnten.[406] Von besonderem Interesse für den Schwurplatz ist die altgermanische Esche Yggdrasill, bei der Thor und die anderen Götter Gericht halten, flankiert von den drei urteilenden Nornen; unter ihren drei Wurzeln entspringt jeweils eine Quelle.[407] Das Motiv der im Moment des Schwurs aus dem Fels entspringenden Quellen liesse sich aber auch auf biblischen Ursprung zurückführen: Moses verfügt über die Fähigkeit, Wasser aus dem Felsgestein sprudeln zu lassen.[408] Diese Fähigkeit wurde im Mittelalter auf Missionare und Heilige übertragen, wodurch eine Vielzahl von Quellenheiligtümern und damit auch Pilgerzielen entstand.[409] Als Pilgerandenken dienten jeweils Ampullen mit darin abgefülltem Quellwasser. Auch diesbezüglich sind solche Parallelen, also solche Andenken für das Rütli nachweisbar in Form von abgefüllter Rütli-Erde, belegt für 1948, 1959 und 1991.[410] Umgekehrt diente die Quelle als Metapher für die Bedeutung des Rütlis, so 1798 als «Urquell der ersten Freiheit» in aufklärerischer Lesart.[411] Unklar muss bleiben, wann und unter welchen Umständen das Motiv der Rütliquellen und die Verbindung mit dem Schwur entstanden sind. Die dargestellten, kulturgeschichtlichen Traditionen lassen eine wie auch immer geartete Verwandtschaft vermuten und finden in der Gestaltung des Platzes ihren Ausdruck, sei es durch die Inszenierung der Quellen, die Felswand, die schattenspendende Baumgruppe oder die schweren Steinbänke. Gleichzeitig weisen sie auf offensichtliche zivilreligiöse Facetten hin, die der Schwurplatz aufweist, die auch im Rütlihaus stark zum Ausdruck kommen. Insgesamt ist der Schwurplatz zwar ein scheinbar diskret gestalteter Ort, der aber mit seiner Vielfalt an Facetten und Anspielungen auf seine besondere Funktion und Bedeutung hinweist. Die Wirkung seiner Gestalt in synchroner und diachroner Perspektive entfaltet sich in dreifacher Hinsicht. Entsprechend den transzendenten Bezügen des Schwuraktes weist die Gestalt der Anlage zivilreligiöse Züge auf (Dreizahl, Quellen). Besonders die Ruhebänke, die Schatten spendenden, immergrünen Eiben und der runde Platz evozieren kulturgeschichtliche Bezüge und verweisen auf den literarischen Topos des «locus amoenus» oder einen altgeschichtlichen Gerichtsplatz. Landschaftsarchitektonisch schliesslich ist der Schwurplatz dicht gestaltet, indem hier das dramatische szenografische Spiel von hell und dunkel besonders deutlich wird resp. neuerdings und zukünftig akzentuiert wird.

3.4 Rütlihaus

3.4.1 Rütlihaus vor-ikonografisch (synchron)

Der zweigeschossige Blockbau mit seitlichen Lauben auf beiden Geschossen liegt über einem aus Bruchsteinen gemauerten Steinsockel (Bild 21).[412] Das flache Satteldach ist von Beginn an mit Holzschindeln gedeckt, die mit Steinen und langen Rundhölzern beschwert sind. Zu den für barocke Innerschweizer Holzbauten typischen Dekorelementen gehören die mit Rauten geschmückten Zug- und Schiebeläden, die geschweiften Seitenbärte der Fenster und die Würfelfriese. Zwei Tätschdächer gliedern die Ostfassade. Der Eingang befindet sich auf der Südseite, erreichbar über ein paar Treppenstufen und die Laube. Darüber, auf der Laubenbrüstung, hängt ein Schweizerkreuz, umfasst von einer Schriftrolle mit der Aufschrift «Eidgenossen/Gott zum Gruss» (Bild 24). Neben dem Eingang ins Haus hängt ein gelber Briefkasten. Schliesslich liegt wenige Meter südöstlich des Hauses ein kleiner, eingezäunter Ziergarten, südwestlich, das heisst hangseitig ein terrassenartig erhöhter Sitzplatz mit Bänken und Tischen. Ein Fussweg führt seeseitig um das Haus herum zur Nordseite des Hauses. Sie wird von einem modernen, verandaartigen Anbau aus Holz geprägt, der indessen keine Motive oder architektonischen Strukturen des Rütlihauses aufzunehmen scheint. Getragen wird diese Erweiterung von einer hoch aufgemauerten und in Natursteinen ausgeführten Terrasse, die hangseitig infrastrukturelle Anlagen enthält.

Im Innern des Hauses erschliesst ein zentraler, vollständig mit Holz ausgekleideter Korridor links und rechts je zwei Räume. Die Räume westlich (Schifferstube, Küche) dienen dem Restaurationsbetrieb und sind nicht öffentlich zugänglich. Im Gang liegen Postkarten, Broschüren und Souvenirs auf, an den Wänden hängen verschiedene Objekte, die im nächsten Kapitel beschrieben werden. Nach Osten hin öffnen sich die beiden Rütlistuben (Stübli und Stube). Im Gegensatz zum barockisierenden Äussern wirkt das Innere gotisch. Durch einen neogotischen, vielfach profilierten Türrahmen betritt man die beiden Räume, die Buffets, Tisch- und Stuhlgruppen, Objekte, Bilder, Lampen, Glasmalereien und das Rütli-Gästebuch enthalten. Alle weiteren Räume sind nicht öffentlich zugänglich.

 

3.4.2 Rütlihaus vor-ikonografisch (diachron)

Bereits kurz nachdem die SGG dem Bund die Rütliwiese geschenkt hatte, nahm die SGG die Planung der Gestaltungsarbeiten in Angriff. Für die vorgesehenen Bauten liess sie sich durch den Architekten Johann Meier beraten, der auch für den Schwurplatz einen Gestaltungsvorschlag eingereicht hatte.[413] Unerwähnt bleibt in den SGG-Akten, dass gleichzeitig Ernst Gladbach, ETH-Professor für Baukonstruktion, zweimal an den Vierwaldstättersee reiste, um vom vorhandenen Pächterhaus Skizzen von Grundrissen, Fassaden und Innenräumen anzufertigen und sie zu vermessen.[414] Es ist nicht unwahrscheinlich, dass dies als Gutachten im Auftrag der SGG erfolgte, ähnlich wie die Gesellschaft auch die Expertise anderer Professoren der wenige Jahre zuvor gegründeten Hochschule in Anspruch nahm resp. nehmen sollte.[415] Auf dieser Basis entwarf Gladbach anschliessend einen Projektvorschlag, der weniger einer Neuerfindung als vielmehr einer Erweiterung des inventarisierten Baubestandes entsprach, ergänzt mit regionalen Architekturelementen, die er bereits auf früheren Reisen in der Innerschweiz gesehen und dokumentiert hatte. Ein Vergleich mit den Ausführungsplänen des Nidwaldner Ingenieurs und Landammanns Businger zeigt, dass das realisierte Projekt in wesentlichen Zügen Gladbachs Entwurf entspricht – die Autorschaft Gladbachs erscheint jedoch in den SGG-Jahresberichten und im projektbezogenen Briefverkehr nicht mehr.[416] Warum Gladbach im Gegensatz zu den anderen von der SGG zugezogenen ETH-Experten in den Jahresberichten der Rütlikommission nicht erwähnt wird, bleibt unklar. Allenfalls denkbar wäre ein Zusammenhang mit dem medialen Wirbel, den einige Jahre zuvor Sempers Entwürfe für den Schwurplatz entfacht hatten. Denn mit Gladbach hätte ein weiterer deutscher Professor einen Entwurf für die nationale «Wiege» geliefert – ein Umstand, den die Rütlikommission – so die Hypothese – diskret behandeln wollte, um ähnlichen Diskussionen vorzubeugen.

Auf jeden Fall beauftragte die Rütlikommission 1866 eine für die Vollendung der Anlagen eingesetzte Spezialkommission, die Planung eines neu zu errichtenden Pächterhauses in Angriff zu nehmen.[417] Als Architekt für das Rütlihaus findet sich Johann Meyer in den Akten.[418] Indem die Bauherrschaft das bestehende Haus (Bild 16a) hatte abreissen lassen, realisierte sie nun in gewisser Weise das, was sie wenige Jahre zuvor dem ehemaligen Besitzer Truttmann vorgeworfen hatte.[419] Die bewahrende Grundidee bestand hier weniger in der Konservierung als vielmehr in einer historisierenden Rekonstruktion. Das Rütlihaus, 1869 zusammen mit der oberen Scheune und den beiden Gaden fertiggestellt – Bild 16 zeigt zwei Vorgängerbauten –, war das neue Holzhaus der mit Abstand teuerste Teil bei der Neugestaltung des Geländes.[420] Die ersten Besucher zeigten sich des Lobes voll über das «funkelnagelneue» Haus.[421]

Das Gebäude diente seit Beginn vor allem als Wohnhaus des Pächters und zugleich als repräsentativer Ausstellungsraum. Die Transformation in ein Restaurant vollzog sich sehr langsam. Verwehrte es die Rütlikommission 1882 einem Maler, im Rütlihaus für einige Woche zu logieren, da es «kein Wirtshaus» sei,[422] erlaubt das 1898 erlassene Reglement dem Pächter, auf expliziten Wunsch hin Besuchenden «Erfrischungen» abzugeben.[423] Nachdem 1909 die Kommission das Verbot einer öffentlichen Wirtschaft erneut ausgesprochen hatte,[424] sah das neue Reglement von 1911 – und auch noch 1947 – vor, dass der Pächter zwar nur auf Verlangen einfache und kalte Speisen und Getränke abgeben, er aber besonders Schulklassen und andere Gruppen verpflegen helfen solle.[425] Wohl seit den 1970er-Jahren betreibt der jeweilige Pächter ein eigentliches Restaurant, das im Sommerhalbjahr geöffnet ist.[426] Dass diese Funktion des Rütlihauses als Restaurant nicht unumstritten war, zeigt die Drahtseilanlage, die die Kommission 1925 installieren liess und die ebenso absichtlich wie ausschliesslich im Wald verlief.[427] Damit sollte der Nachschub mit Getränken rationeller gestaltet und dem Rütlipächter ein rentablerer Betrieb ermöglicht werden. Heftiger Protest folgte umgehend, und zwar vor allem von Seiten von Lehrpersonen, die ihren Unmut in der Schweizerischen Lehrerzeitung kundtaten. Sie sahen in der Transportanlage und damit im Wirtschaftsbetrieb eine Entweihung und Verschandelung des Rütlis und verlangten, dass die Anlage abmontiert und die Getränkeausgabe verboten werde.[428] Die Seilbahn blieb, die Kommission unterstrich in ihrer Gegendarstellung die Unsichtbarkeit der Anlage sowie das passive Bewirtungskonzept, das dem Pächter dennoch Einnahmen generieren sollte. Heute ist die Anlage nicht mehr in Betrieb, die Versorgung erfolgt über die Zufahrtsstrasse von Seelisberg.[429]

Das Äussere des Gebäudes veränderte sich im Verlauf der Jahre nur wenig. In seinem Bestand in Frage gestellt wurde es 1938, als mehrere Schweizer Zeitungen berichteten, dass das Rütlihaus baufällig sei. Ringier ergriff die Initiative und erklärte sich bereit – ähnlich wie schon für die Hohle Gasse 1935 –, eine nationale Geldsammlung für einen Neubau zu organisieren und zufinanzieren.[430] Neben der angeblichen Baufälligkeit sah der in dieser Sache federführende Redaktor von Ringier, Emil Hess – mit Unterstützung des Bundesrats Philipp Etter –, auch eine stilistische Notwendigkeit für einen Neubau: Das bestehende Haus sei so gebaut, dass es «alt wirken» solle, das neue hingegen müsse im Kontext der «Erneuerungsbewegungen» den neuen «Rütligeist» darstellen und in solider, freundlicher Architektursprache realisiert werden. Die Rütlikommission hingegen hielt am bestehenden, schlichten Haus fest, das wegen aktueller Umstände nicht verändert werden sollte, sondern lediglich einiger Renovationen bedürfe.[431] Weitere Renovationen erfolgten in der ersten Hälfte der 1970er-Jahre,[432] 1989 bis 1991,[433] 1998[434] und schliesslich 2008 bis 2012.[435] Letztere führte zu einem pergolaartigen Holzanbau auf der nördlichen Seite des Hauses.

Die patriotische Dekoration des Hauses besteht sowohl aus fix als auch aus vorübergehend angebrachten Elementen. Das heute über dem südlichen Eingang des Rütlihauses angebrachte Schweizerkreuz mit Schriftzug (Bild 24) dürfte 1941 auf die 650-Jahr-Feier hin angebracht worden sein.[436] Zuvor, wohl seit Beginn des 20. Jahrhunderts, prangte lediglich ein Schweizerkreuz mit geschwungenem Rand auf der Balkonbrüstung (Bild 25).[437] In den Jahrzehnten davor war die Stelle über dem Eingang leer (Bild 23).[438] Fahnenschmuck an der seeseitigen Fassade ist erstmals für den 1.8.1900 nachweisbar, als der Pächter zum Jahrestag der Bundesfeier die Schweizerfahne hisste.[439] Eine permanente Beflaggung des Hauses befand die SGG 1908 hingegen als unpassend, da dies zu sehr an ein Wirthaus erinnern würde.[440]

Südlich des Rütlihauses befand sich zuerst kein Sitzplatz. Wohl zu Beginn des 20. Jahrhunderts liess die Rütlikommission einen an den Hang angelehnten, auf einer aufgeschütteten Terrasse gelegenen und mit Holzgeländer eingefassten Sitzplatz mit Tischen einrichten.[441] Bauarbeiten, die die Rütlikommission 1934/35 ausführen liess, führten wohl dazu, dass der Platz vergrössert und mit einem Kreuzzaun umgeben wurde, wie er noch heute besteht.[442]

Seit 1899 besass das Rütli eine eigene Postablage, die jeweils von Juni bis September geöffnet war, ab 1921 war die Poststelle das ganze Jahr geöffnet und der Pächter wurde jeweils zum Postablagehalter ernannt.[443] Reichte in der Regel der beim Eingang angebrachte Briefkasten, wurde 1941 erstmals eine zusätzliche Sonderpoststelle auf der Laube des Rütlihauses eingerichtet (Bilder 24 und 27). Später, von 1965 bis 2004, stand sie jeweils am 1. August auf dem Schwurplatz (Bild 28).[444] Wurde das Sonderpost-Häuschen 1991 noch erneuert, brachte das Jahr 1992 das Ende der regulären Poststation. Es blieben noch das Schild, der Briefkasten-Service sowie der offizielle Stempel.[445] Die Postagentur wurde schliesslich im November 2007 geschlossen, der Rütli-Pächter darf aber den Stempel weiterhin verwenden.[446]

Die Innenausstattung der beiden Rütlistuben im Erdgeschoss umfasst zahlreiche Gegenstände, die chronologisch dokumentiert und im Bildteil mehrheitlich visualisiert sind (Bilder 26, 29 bis 32).[447]

3.4.3 Rütlihaus ikonografisch/ikonologisch

Der Rütlihaus gilt als eines der frühsten Beispiele des Heimatstils.[448] Grundriss und Ausgestaltung orientieren sich nicht nur am ehemaligen Pächterhaus, sondern generell am alten Urner Bauernhaus. Eine wesentliche Ausnahme bildet die gemauerte Rückwand des Hauses mit stichbogigen Öffnungen.[449] Trotz barockisierender Details wird das Äussere mehr von lokaler Bautradition geprägt als von einem eindeutigen historischen Stil. Monica Bilfinger betont in ihrer Studie zum Rütlihaus das allgemeine Schema des klassischen Chalets und sieht darin ein Paradebeispiel eines Schweizerhauses, wie sie Chalet-Fabriken später serienmässig herstellten.[450] Der Ursprung des erfolgreichen Schweizerchalets lasse sich ins 18. Jahrhundert zurückverfolgen, als die aufgeklärte Elite die Schweiz als Wiege von politischer und landschaftlicher Unverdorbenheit entdeckte. Ausdruck dieser Landschaft sei das sogenannte Schweizerhaus in Chaletform geworden, das als ländlicher Bautypus gerade auch im Landschaftsgarten des späten 18. Jahrhunderts zur Verwendung kam.[451] Der in Deutschland entwickelte Haustyp wurde in der Schweiz erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts rezipiert, bildete aber sehr bald einen geradezu identitätsstiftenden Teil des Bühnenbildes, vor welchem sich die Schweiz in ein Tourismusunternehmen entwickelte: «Die Schweizer begannen sich selbst zu spielen».[452] Daniel Andreas Stockhammer differenziert diese Interpretation in zweifacher Weise.[453] Zum einen stelle das Rütli-Pächterhaus eines der frühesten Gegenbeispiele zum pittoresken und international rezipierten «Laubsägelistil» dar, also dem Schweizerhaus-Stil. Zum anderen sieht er im Rütlihaus ein Schweizer «Urhaus», das den Anfang eines ländlichen Nationalstils bilde, Ausdruck einer architektonischen Identitätsbildung des jungen Bundesstaats, basierend auf dem Wissen und den Arbeiten eines deutschen Experten. Zusätzlich zu Schiller also, dessen Theaterstück den Schweizer Nationalmythos in eine zugleich literarische wie populäre und massenwirksame Form übertrug, galt Gladbach als «altbewährter Meister und Vertreter unserer schweizerisch-nationalen Holzarchitektur», der mit der Konzeption des Rütlihaus ein prototypisches und stilbildendes nationales Haus geschaffen hatte.

 

Im Innern entsprechen die beiden Rütlistuben in ihren Dimensionen den üblichen, eher gedrungenen Innerschweizer Bauernstuben, fallen aber durch ihre vergleichsweise reiche Ausstattung auf.[454] Überdies erheben die beiden Glasgemäldezyklen die Stuben (Bild 29) in den Rang von Amtsstuben, wie sie in der Region nur in den Ratshäusern der Kantonshauptorte zu finden sind. Johann Rudolf Rahn, Professor für Kunstgeschichte an der Universität Zürich und der ETH, begleitete als Experte die Herstellung des Glasscheibenzyklus von 1872/74.[455] Dieser Zyklus symbolisiert den föderalistischen Bundesstaat und entspricht einer typischen nationalen Repräsentationsform, die seit dem 19. Jahrhundert in vielfacher Gestalt Verwendung findet.[456] Rahn dürfte die Rütlikommission aber auch bei der Möblierung beraten haben.[457] In seiner «Kunstgeschichte der Schweiz» vertrat er die Ansicht, dass die eidgenössischen Orte im Spätmittelalter einen spezifisch schweizerischen Stil hervorgebracht hätten – und die Rütlistuben vereinigten alle von ihm als typisch beschriebenen Elemente.

Insgesamt drückt das Rütlihaus die nationale Selbstdarstellung gleich zweifach aus: Das teilweise spätgotische Interieur verweist auf die Wurzeln des 1848 gegründeten Bundesstaates, die bis ins Mittelalter zurückreichen, die äussere Hülle erscheint als Innerschweizer Bauernhaus oder allgemeiner als typisches Schweizerchalet.[458] In diesem Zusammenhang verdient besonderes Interesse, dass die Rütlikommission 1935 das «zur Styleinheit des Hauses nicht passende gothische Buffet» ersetzen liess durch ein angekauftes Urner Buffet aus dem 17. Jahrhundert.[459] Stilistisch entscheidend war nun offenbar weniger die spätmittelalterliche Ursprungszeit als vielmehr das barockisierende Äussere. Verstand die Kommission etwa die architektonischen Reminiszenzen des Buffets auf die spätmittelalterlichen Wurzeln nicht mehr? Bilfinger interpretiert diesen Entscheid, indem sie auf die seit Ende des 19. Jahrhunderts zu beobachtende Tendenz verweist, dass sich das typisch Schweizerische im charakteristischen Regionalen und Lokalen ausdrücke: Spätgotische Möbel galten demnach – im Gegensatz zu barocken – als regional unspezifisch und deshalb unschweizerisch.[460] 1989 liess die Rütlikommission die Buffets wieder austauschen: Das neugotische fand wieder seinen ursprüngliche Platz in der Stube (Bild 30), das barocke kam in der nicht öffentlich zugänglichen Schifferstube zu stehen.[461] War nunmehr die gotische Referenz bedeutsamer als der Verweis auf den als regionaltypisch nicht mehr verständlichen Stil?

Die sonstige Innenausstattung der Rütlistuben stammt zum überwiegenden Teil aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Während stilistisch das oben im Zusammenhang mit den Buffets Gesagte gilt, zeugen die in den beiden Räumen gezeigten Gegenstände von der Bedeutung und Funktion des Ortes: Objekte des Gründungsmythos (Bundesbriefe, Armbrust) und dessen Darstellung (Rütlischwur, Stiche, Tellstatue) und Symbolisierung (Glasmalerei-Zyklus). Einzig die unmittelbare Nachkriegszeit brachte noch zwei Bereicherungen mit dem Porträt von General Guisan und den drei neuen Standesscheiben. Letztere legen den Akzent auf die drei Innerschweizer Kantone – sie ersetzen eine Scheibe mit dem Schweizer Wappen – und entfernen die Darstellung des Rütlischwurs und der Schlacht von Sempach zugunsten von Tell, Morgarten und Niklaus von Flüe. Der präsentierte Kanon mythologischer Narrationen der Nachkriegszeit hat sich verändert: weg vom national fundierenden Rütlischwur, hin zu gemalten Abbreviaturen der Heldengeschichten.

In den in den beiden Stuben ausgestellten Objekten könnte man auch sakralisierte Gegenstände erkennen, Reliquien gleichsam, die vom Ursprungsereignis Zeugnis ablegen. Dabei ist das Ursprungsereignis referenziell diversifiziert: Gründungsschwur (Faksimilie des Bundesbriefs, Bild 30), Tell (Armbrust und Statue) und Rütli-Rapport (Guisan-Porträt, Bild 32). Die Inszenierung der Tellstatue, die zentriert auf einer Truhe mit Lesepult für das Gästesbuch thront, mag an einen Altar erinnern – ein Arrangement, das bis heute fortbesteht, jedoch zugunsten eines touristischen Angebots verschoben ist (Bilder 31 und 32). Diese dadurch visualisierte Funktionsverschiebung entspricht der ebenfalls touristsch ausgerichteten Nutzung des Hauses als Restaurant.

Bemerkenswert ist zudem die von der Rütlikommission nur sehr zögerlich zugelassene Funktionsveränderung des Hauses. Sollte es zu Beginn ein Raum patriotischer Einkehr sein und nur in Ausnahmefällen der Bewirtung dienen, liess die Kommission in den 1970er-Jahren die Küche ausbauen, um einen professionellen Restaurant-Betrieb gewährleisten zu können, ohne jedoch – bis heute – auf dem ganzen Gelände und aussen am Rütlihaus explizit auf den Wirtschaftsbetrieb hinzuweisen. Der allmähliche und optische Ausbau sowohl der südlichen – schon sehr früh – als auch der nördlichen Verenda ist ebenfalls ein Zeichen dieser Entwicklung. Inwiefern das Verhalten der Besuchenden dazu beigetragen hat, wird in Kapitel 6.2.3 zu zeigen sein.

Die Gestaltung des Hauseingangs erweist sich als bedeutungsvoll. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam das kennzeichnende Schweizerkreuz auf der Laubenbrüstung hinzu und kompensierte in gewisser Hinsicht und in diskreter Form die von der SGG abgelehnte Schweizerfahne. Als gegenständliche Ausprägung der «Geistigen Landesverteidigung» akzentuierte das formal strengere Schweizerkreuz wohl seit 1941 den patriotischen Charakter des Eingangs. Die darüber angebrachte Parole «Eidgenossen/Gott zum Gruss» verweist nicht nur auf die Ahnen in mittelalterlicher Zeit, sondern auch auf die göttliche Instanz, die dem politischen Bund transzendente Legitimation verleiht – eine durchaus konservative Betonung geschichtlicher Zustände.[462]

Insgesamt erweist sich die Intentionalität des Rütlihauses als vielgestaltig. Das Äussere des Rütlihauses zeigt ein traditionelles, spätbarockes Urner Bauernhaus und sieht – oberflächlicher betrachtet – aus wie ein typisches Schweizerchalet. Der Eingang erfuhr eine deutliche patriotische Aufladung durch die «Geistige Landesverteidigung». Die beiden Rütlistuben sind historisch, v. a. gotisch, gestaltet und verweisen dadurch und durch zahlreiche Gegenstände auf die mittelalterliche Gründungszeit und den Gründungmythos. Veränderungen in den 1930er und 1950er-Jahren deuten darauf hin, dass weniger das Spätmittelalter als vielmehr die Regionalität der Urschweiz an Profil gewann. Kam dem Rütlihaus bis zum Ersten Weltkrieg die Funktion eines Sanktuariums zu, das historistische Authentizität mithilfe von reliquienähnlichen Gegenständen erleben liess – ein letztes Mal ergänzt mit dem Guisan-Porträt –, könnte es sich im Kontext der «Geistigen Landesverteidigung» zur dreidimensionalen Metapher für die wehrhafte Schweiz entwickelt haben, um in der Nachkriegszeit zunehmend zu einem historisch dekorierten Restaurant zu werden.