Der Albschreck

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Der Albschreck
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Der Albschreck

Historischer Roman

Anno 1806

Nürtingen / Neuffen

Martin C. Eberle

Die Deutsche Nationalbibliothek

verzeichnet diese Publikation in

der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.

dnb.de abrufbar.

Impressum:

Autor: Martin C. Eberle

Cover: Ernst Eberle (Zeichnung)

Copyright: 2019 - Martin C. Eberle,

Nürtinger Str. 23/1, 72639 Neuffen

Facebook: Martin C. Eberle

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Taschenbuch: Format 12,5 x 19 cm, 288 Seiten

Druck: epubli - ein Service der neopubli GmbH, Berlin

ISBN: 978-3-7485-8617-3

Einleitung

Württemberg Anfang des 19. Jahrhunderts. Nach der Schlacht von Austerlitz am 2. Dezember 1805 deklarierte Napoleon im gleichen Monat Württemberg zum Königreich. Am 1. Januar 1806 erhielt Kurfürst Friedrich die Königswürde. König Friedrich I. bekam uneingeschränkte Souveränität. Die ständische Verfassung wurde aufgehoben. Volksversammlungen jeglicher Art waren verboten. Es folgte die Einrichtung eines straff geordneten Staatswesens. Politische Überwachung der Untertanen. Zensur, Unterdrückung der Meinungsfreiheit und harte Maßnahmen gegen das Volk begleiteten die Regierung des Königs. Württemberg wurde bis 1808 auf 65 Oberämter untergliedert. Die Ämter waren ausführende Organe des strengen Regierungssystems von König Friedrich I. Vor allem in den Bereichen Justiz und Finanzen. Eines der Oberämter war in Nürtingen.

Nürtingen am Neckar liegt circa 20 km südöstlich von Stuttgart. Anno 1806 betrug die Einwohnerzahl etwa 3.500. Damals befand sich der überwiegende Teil der Stadt auf dem Schloßberg. In jener Zeit war das markanteste Gebäude auf dem höchsten Punkt des Berges die evangelische Laurentius Kirche mit ihrem imposanten 48 Meter hohen Kirchturm. Der Schloßberg mit dem Stadtkern war umringt von einer Stadtmauer mit Mauertürmen. Einer der Türme war der Blockturm. Der Blockturm diente auch als Gefängnis. Bei Schwerstverbrechern wurden deren Füßen zusätzlich in einen Holzblock fixiert und mit einem Eisenschloss verriegelt. Der Block wurde dann im Turmverlies an die Mauer gekettet. Daher der Name Blockturm. In der Befestigungsanlage befanden sich neben den Bürgerhäusern auch öffentliche Einrichtungen. Wie zum Beispiel das Rathaus, das Oberamt, das Spital, die Lateinschule und der Steinerne Bau.

Anmerkung: Der Name Schloßberg rührt her von dem ehemaligen herzoglichen Schloß gleich neben der Stadtkirche. Das prachtvolle Gebäude war der Witwensitz von württembergischen Herzoginnen. Mitte des 18. Jahrhunderts wurde der Witwensitz in die Nachbarstadt nach Kirchheim verlegt. Das herzogliche Interesse an dem Schloß wurde von Jahr zu Jahr geringer. Das Herzogtum Württemberg verkaufte das Gebäude an die Stadt Nürtingen. Im Jahre 1765 wurde das Schloß abgerissen. Ein Abrissgrund war, man konnte die freigewordenen Steine und Hölzer gut verkaufen. Diese Nürtinger Abrissmentalität von historischem Kulturgut hat sich bis in jüngster Zeit fortgesetzt.

Neuffen liegt circa 9 km südlich von Nürtingen. Eingebettet in einer wunderschönen Natur am nördlichen Albtrauf der schwäbischen Alb. Über Neuffen auf der Alb ragt die imposante Burg Hohenneuffen. Unterhalb der Burg liegen die ausgebreiteten Weinlagen. Wie in Nürtingen war der Neuffener Stadtkern anno 1806 von einer Stadtmauer umgeben. Im Schutz der Mauer waren Häuser von Neuffener Bürgern, die evangelische Martinskirche, das Rathaus, das Amt Neuffen und andere öffentliche Einrichtungen. Im gleichen Jahr wurde das Amt Neuffen dem Oberamt Nürtingen zugewiesen.

Vorwort

Diese fiktive Geschichte ereignete sich anno 1806

in Nürtingen, Neuffen und Umgebung.

Im schwäbischen Württemberg.

Parallelen zur heutigen Zeit?

"Die Gedanken sind frei."

Hoffmann von Fallersleben - Fassung von 1842

Personen: (Frei erfunden)

Oktavius Pfleiderer, Wagner zu Nürtingen

Luise Redlich, Tochter vom

Fischer Redlich zu Nürtingen

Eugen Ehrenfried, Küfer zu Nürtingen / Neuffen

Robert Schließer, Kroatenhof Nürtingen

Wengerter Reblieb, Weinbauer zu Neuffen

Oberamtsrat Strengler vom Oberamt Nürtingen

Stadtschultheiß Mauschler von Nürtingen

Dr. Aderle, Arzt zu Neuffen

Stadtpfarrer Geistlein von Nürtingen

Spitalschwester Sophie, Spital Nürtingen

Fuhrmann Hermesle, Nürtingen

Schultheiß Metzger von Neuffen

Offizier Stramm

vom Königlichen Garde-Regiment Württemberg

Armin, Sohn von Wengerter Reblieb zu Neuffen

U. a.

1. Oktavius Pfleiderer

Im Jahre 1806 wohnte und arbeitete der zwanzigjährige Oktavius Pfleiderer als Wagner in der elterlichen Wohn- und Betriebsstätte in Nürtingen. Er war der einzige Sohn. Oktavius war ein stattlicher Schwabe. Er hatte ein Gardemaß von 64,57 Zoll (Anno 1806 = 185 cm).

Seine kräftigen Hammerschläge in der Wagnerwerksatt waren weithin hörbar. In Nürtingen war er als aufrechter, ehrlicher und hilfsbereiter Bürger bekannt. Neben seiner Arbeit hatte er ein Ohr für die Sorgen seiner Mitmenschen. In Not geratenen Mitbürger hat er eine Reparatur an einem Leiterwagen oder anderen Gerätschaften oftmals kostenlos durchgeführt. Er interessierte sich für alles, was in der Welt vorging. Oktavius war kein Selbstdarsteller, das überließ er den Herren auf den königlichen Ämtern.

Kopfzerbrechen machte ihm der seit Anfang des Jahres 1806 in Württemberg regierende König Friedrich I. Von den Mitgliedern vom Droschkenlenker und Fuhrmann Bund Neckar-Alb erfuhren die Nürtinger Bürger, dass der König neben seinen Amtsgeschäften ausschweifende Feste feierte. Das dazugehörende Festmahl wurde mehr und mehr pompöser. Für die musikalische Untermalung wurden die besten Streichorchester engagiert. Jongleure, Feuerschlucker und andere Artisten durften bei der Unterhaltung nicht fehlen. Die Feste des Königs verschlangen Unsummen an Geld.

Oktavius Zuhause war in jener Zeit ein typisches, solides Fachwerkhaus mit einer Wagnerwerkstatt. Das Anwesen befand sich in der Siedlung Kleintischardt. Nur ein paar Häuser, außerhalb der Stadtmauern von Nürtingen Richtung Neckarhausen. Zwischen Lerchenberg und Neckar. In der Wagnerei wurden Wagenrädern, Pferdefuhrwerke, Kutschen und landwirtschaftlichen Geräte hergestellt und repariert.

Die Familie Pfleiderer konnte mit ihrem Handwerksbetrieb ein gutes Einkommen erwirtschaften. Die Steuern an das neue Königreich waren noch in einem erträglichen Rahmen. Zusätzlich hatten sie eine kleine Landwirtschaft, bestehend aus einer Kuh, zwei Schweinen, mehrere Hühner und Stallhasen. Dazu gehörten ein Kartoffelacker sowie ein Obst- und Gemüsegarten. Eine überwiegende Selbstversorgung war gegeben. Mit dem Einkommen aus der Wagnerei und der Landwirtschaft war für die Familie Pfleiderer ein ausreichender Lebensstandard gesichert.

Die Wagnerei Pfleiderer hatte eine eigene Kutsche, ein Lastenfuhrwerk und zwei Zugpferde. Eines der Pferde diente Oktavius auch als Reitpferd. Wegen seiner Schnelligkeit, bereits als Fohlen, bekam der schwarze Wirbelwind den Namen Blitzle. Dieses Pferd war Oktavius besonders ans Herz gewachsen. Das spürte Blitzle. Nur Oktavius wurde von dem Vierhufer als Reiter akzeptiert. Die beiden verstanden sich blind.

Oktavius blieb trotz seines Gardemaßes vom dritten Koalitionskrieg verschont. Sein Beruf als Wagner war für die württembergische Rüstung einfach zu wichtig. Das Militär benötigte für die Kriegshandlungen und für den Nachschub viele Pferdefuhrwerke und Wagenräder.

Oktavius große Liebe war das Fräulein Luise Redlich. Die schöne 18-Jährige war eine zierliche Erscheinung mit langem kastanienbraunem Haar. Sie wohnte mit ihrer Familie nicht weit von der Familie Pfleiderer. Ebenfalls Richtung Neckarhausen auf der linken Neckarseite, direkt am Neckar, auf dem Wörth Areal. Luise war die Tochter von Fischer Redlich.

Neben der Arbeit im elterlichen Haushalt half sie ihrem Vater beim Fischen. Auf dem Nürtinger Wochenmarkt, dienstags und freitags, verkaufte Luise die frischgefangenen Fische auf dem Marktplatz vor dem Nürtinger Rathaus. Wegen ihres freundlichen und natürlichen Wesens verkaufte sie meistens alle Fische, die sie auf dem Marktstand hatte. Die Handkasse war am Ende der Markttage stets gut gefüllt.

Auch Luise war in den stattlichen Oktavius verliebt. Immer öfter flanierten der Wagner und die Fischerstocher entlang des Neckarufers. Ein Ufer mit einer vielfältigen Flora, dem Blätterrauschen in den Weiden, dem Gezwitscher der Vögel und dem sanften Plätschern des Neckars. Zur Krönung zogen schneeweiße Schwäne ihre Kreise auf der Wasseroberfläche des Flusses. All dies bildete eine grandiose Harmonie der Natur. Für die zwei Verliebten konnte es nicht besser sein. Bis zu diesem Zeitpunkt waren Oktavius und Luise wunschlos glücklich.

2. Landpartie nach Neuffen

Mit Erlaubnis der Eltern von Luise unternahmen Oktavius und seine Liebste an einem sonnigen Sonntag, dem 15. Juni 1806 eine Landpartie nach Neuffen, mit der Kutsche der Familie Pfleiderer. Bei diesem Sonntagsausflug führte die Wegstrecke von Nürtingen über Frickenhausen und Linsenhofen. Der Landweg Richtung schwäbische Alb war durchweg in einem ordentlichen Zustand. Die straffe Federung der Kutsche wurde nur wenig beansprucht. Luise genoss mit all ihren Sinnen den Sonntagsausflug. Keine Wolke am Himmel trübte den bis dahin schönen Sommertag.

 

In Neuffen angekommen machte das junge Glück im Gasthof "Zur Post" Rast. Nachdem Oktavius die Pferde versorgt hatte, wollten sich die zwei Verliebten eine Erfrischung und ein Essen gönnen. "Zur Post" war ein alter Gasthof. Beim Betreten des Gastraumes knarrten die Bodendielen.

Mit einem Herzlichen,

»Grüß Gott«,

wurden die Gäste von dem Wirt empfangen, der gerade hinter dem Schanktisch eine Flasche Wein entkorkte. In der Ecke stand ein Kachelofen, der bei kalter Witterung wohltuende Wärme spendete. Die Decken waren durch Pfeifen- und Zigarrenrauch gedunkelt. Auf jedem der vier Holztische im Gastraum stand eine Schnupftabakflasche aus Porzellan. Jeder männliche Gast durfte sich kostenlos eine Prise für seinen Riechkolben genehmigen. Alles zusammen eine urgemütliche Einkehr. Oktavius und Luise setzten sich an einen freien Tisch. Der Wirt ging zu den zwei unbekannten Einkehrern.

»Wo kommt ihr her?«

Oktavius:

»Von Nürtingen.«

Der Wirt:

»Gott sei Dank, nicht aus Stuttgart.

Was darf ich bringen?«

Die Stuttgarter waren wegen ihrer meist hochnäsigen Art nicht besonders beliebt. Erleichtert nahm der Wirt die Bestellung auf. Es dauerte nicht lange und das Essen stand auf dem Tisch. Nach dem gutbürgerlichen Mahl kam ein weiterer Mann in den Gasthof. Es war Eugen Ehrenfried, ein sehr guter, "alter" Freund von Oktavius. Sie kannten sich seit der Schulzeit und waren im gleichen Alter.

Im Lausbubenalter war einer ihrer Abenteuerspielplätze die Steinachmündung zum Neckar. Sie fühlten sich damals, wie Piraten an einem großen Fluss. An einem Fluss, der sie eines Tages mit einem Floß in die ferne weite Welt bringen würde.

Neben all den grenzenlosen Träumen von Abenteuer gab es an der Mündung viele Möglichkeiten die harte Schulbank zu vergessen. Zum Beispiel einen speziellen Wettbewerb. Galt es einen Stein, durch die Steinach flach geformt, mit einem kräftigen, horizontalen Wurf auf der Wasseroberfläche des Neckars so lange wie möglich tänzeln zu lassen. Wer die meisten Aufschläge auf dem Wasser hatte, war der Sieger.

Einmal hatten die beiden Buben ein hölzernes Wasserrad in die Steinach eingesetzt. Selbst konstruiert und zusammengebaut, in der Wagnerwerkstatt von Vater Pfleiderer. Voller Stolz sah man dem drehenden Wasserrad zu. Die Steinachmündung, ein Eldorado für Aktivitäten aller Arten. Gott Lob, Erwachsene waren nicht dabei, die in diese Freizeitgestaltung reingeredet hätten.

Natürlich wurden von den Lausbuben Oktavius und Eugen auch Streiche verübt. Einer davon war das "Glockenreinigen" an den Bürgerhäusern. Selten wurden die Buben Oktavius und Eugen von den Hausbewohnern erwischt. Wenn die Flucht nicht gelang, gab es einen heißen Hosenboden mit der Rute der Reinigung. Auf keinen Fall durften die Eltern die roten Striemen auf den Arschbacken sehen. Eine zweite Reinigung? Zwei, drei Tage und die Zeichen von der Rute waren so gut wie verschwunden. Auf zum nächsten Streich. Gerne erinnerten sich die inzwischen Zwanzigjährigen an ihre Kindheit zurück.

Eugen Ehrenfried war jetzt von Beruf Küfer. Er hatte eine Küferei mit Brennerei in Nürtingen. In dem Gastraum "Zur Post" sah Eugen sofort seinen "alten" Weggefährten. Sie hatten sich lange nicht mehr gesehen. Oktavius stand sofort auf. Mit Handschlag und einer Umarmung hatten sich die zwei Freunde begrüßt.

»Grüß dich Gott Eugen, lange nicht mehr gesehen, wie geht es dir?«

»Grüß Gott Oktavius, mir geht es soweit gut, und dir?«

»Mir geht es sehr gut.«

Eugen, mit Blick zu Luise:

»Das kann ich gut verstehen.«

Eugen höflich, aber etwas unsicher:

»Stör ich, oder darf man sich dazugesellen?«

Für Oktavius war eine Zustimmung keine Frage:

»Natürlich, setz dich nieder.«

Luise stimmte verhalten zu. Eigentlich wollte sie den Tag mit Oktavius alleine verbringen. Aber es ist ja ein Freund von Oktavius und sie wollte nicht unhöflich sein.

Oktavius voller Neugierde:

»Eugen erzähl, wie geht es deiner Frau, deine Kinder, was machst du in Neuffen?«

Bei einem Glas Neuffener Wein antwortete Eugen:

»Meine Frau und meine zwei Kinder sind wohlauf. Was ich in Neuffen mach? Ich konnte vor zwei Wochen hier eine Küferei übernehmen. Jetzt arbeite und wohne ich mit meiner Familie in Neuffen.«

Oktavius:

»Aber du hast oder hattest eine Küferei und Brennerei in Nürtingen?«

Eugen:

»Oktavius stell dir vor. In Nürtingen wurde mir auf Erlaß vom König Friedrich I. von Württemberg mitgeteilt, dass ich in Zukunft das Zweifache an Steuer bezahlen muss. Beiläufig habe ich erfahren, dass diese Steuererhöhung nach und nach für alle Handwerker in Nürtingen und in weiteren größeren Städten durchgesetzt wird. Diese Mehrsteuer kann ich einfach nicht aufbringen. Mit dieser Belastung kann ich meine Familie nicht mehr ernähren.«

Eugen weiter:

»Ich habe mich vor zwei Wochen dazu entschlossen mit meiner gesamten Habe nach Neuffen zu ziehen. In der Hoffnung, dass Neuffen von diesem königlichen Wahnsinnserlaß möglichst lange verschont bleibt.«

Oktavius und Luise konnte das nicht glauben.

Oktavius fragte:

»Warum weiß ich davon nichts, ich bin doch auch ein Handwerker von Nürtingen?«

Eugen:

»Oktavius, in dem Erlaß wurde auch verfügt, dass Handwerker denen die Steuererhöhung bereits mitgeteilt wurde, dies unter keinen Umständen weitererzählen durften. Wer sich nicht daran hält, kommt in den Blockturm von Nürtingen. Mit Sicherheit will die königliche Obrigkeit eine Landflucht verhindern. Ich rechne damit, dass bald ein weiterer Erlaß folgt, in dem verfügt wird, daß eine versuchte Flucht aus Württemberg ebenfalls mit Gefängnis bestraft wird.«

Die Sonntagsstimmung von Oktavius und Luise war dahin.

Die beiden mussten diese Hiobsbotschaften eiligst ihren Eltern mitteilen. Sie verabschiedeten sich von Eugen.

Auf der Rückfahrt nach Nürtingen gingen Oktavius mehrere Gedanken durch den Kopf. Seine Gedanken pendelten zwischen Herz und Verstand. Sein Herz voller Liebe zu Luise. Sein Verstand mit der Frage, was wird die Zukunft bringen?

Zu Hause angekommen brachte Oktavius seine herzallerliebste Luise nach Hause bis zur Haustür. Wegen der damaligen allgemeinen Moralregeln und der Nachbarschaft konnte er sich von Luise nicht mit einem Kuss verabschieden. Nur mit einem Diener, so wie es sich in jener Zeit geziemt.

Oktavius machte sich flugs auf den Weg zu seinem Elternhaus. Er berichtete seinem Vater und seiner Mutter die schlechten Nachrichten. Im Hause der Familien Pfleiderer und Redlich herrschte Fassungslosigkeit und Angst. Das Stimmungsbarometer der Familien war auf den Nullpunkt heruntergesunken.

3. Botschaften werden real

Trotz der miserablen Stimmungslagen gingen Oktavius und sein Vater am nächsten Montagmorgen, den 16. Juni 1806 in ihre Wagnerei. Frisch aber nicht froh, machten sie sich ans Werk. Die Arbeit musste ja weitergehen. Kurz nach Arbeitsbeginn wurde die Werkstatttür der Wagnerei, ohne anzuklopfen, brachial aufgestoßen. Herein kam Oberamtsrat Strengler vom Oberamt Nürtingen.

Der aus Sachsen stammende Oberamtsrat war wegen seines harten Durchgreifens in und außerhalb Sachsens bekannt. Dies war auch für König Friedrich I. eine wichtige Eigenschaft für die Besetzung einer Oberamtsratstelle. Nach und nach wurden alle Oberämter durch Auswärtige, also Nichtschwaben, besetzt. Die meisten stammten aus Sachsen mit den gleichen Qualitätsmerkmalen wie der Oberamtsrat Strengler.

Diese Oberamtsräte erhielten von dem württembergischen König eine enorme Machtfülle. Das königliche Garde-Regiment war angewiesen, den ersten Amtsgehilfen im Königreich Württemberg in jeglicher Hinsicht zu unterstützen. Mit der Hilfe des Militärs konnten alle Oberamtsräte im Land des Königs Wille durchsetzen. Wenn es sein musste auch mit harter Gewalt. Letztendlich waren diese Räte die zweite Gewalt nach König Friedrich I. Der Monarch hatte auch einen Hintergedanken bei der Besetzung der Oberämter. Es ist fast auszuschließen, dass diese Königsgehilfen wegen der fehlenden Heimatverbundenheit zu Württemberg, jemals menschliche Gefühle für das Schwabenvolk bekommen könnten.

Selbst der "erste Mann" in Nürtingen, Stadtschultheiß Mauschler, musste sich dem Oberamtsrat unterordnen. Trotz seiner Stellung als Stadtschultheiß fügte sich Mauschler lautlos in die Hierarchie ein. Sein Amt, mit den verbundenen Pensionsansprüchen, wollte er um keine Umstände verlieren. Der aus Stuttgart kommende Stadtschultheiß Mauschler vermied einen engeren Kontakt zu seinen Bürgern in Nürtingen. Seine Welt war das Rathaus, die Amtsgehilfen sowie der Stadtrat. Dabei vergaß der Stadtschultheiß nicht, seine eigenen Interessen zu verfolgen.

Bei dem Amtsbesuch in der Wagnerei Pfleiderer hatte Oberamtsrat Strengler vier Soldaten vom württembergischen Königlichen Garde-Regiment mit dabei. Soldaten mit Gewehren und aufgepflanzten Bajonetten. Nach dem Gespräch mit Eugen in Neuffen, hatte Oktavius mit dem "Besuch" einer königlichen Abordnung gerechnet. Aber gleich mit vier Soldaten, bewaffnet mit Kriegswerkzeug! Oktavius wie sein Vater waren, trotz der Vorahnung, geschockt.

Der hochnäsige Oberamtsrat Strengler rollte ein königliches Schriftstück aus. Mit scharfen und bestimmenden Worten las er laut vor:

»Auf königlichem Erlaß müssen Handwerker ab sofort das Zweifache an Steuer wie bisher abgeben. Bei verspäteter Zahlung werden Strafen von zusätzlichen Gebühren fällig. Bei Nichtbezahlung wird der Schuldner im Blockturm zu Nürtingen auf unbestimmte Zeit inhaftiert.«

Wie von Eugen befürchtet, wurde den Handwerkern Pfleiderer ein weiterer königlicher Erlass vorgelesen:

»Auf königlichen Erlaß wird bei versuchter Landesflucht die gleiche Strafe verhängt wie bei der Nichtbezahlung von Steuerschulden.«

Genüsslich und mit einem verächtlichen Lächeln rollte Oberamtsrat Strengler die zwei Schriftstücke wieder zusammen und bemerkte:

»Ich hoffe, ihr habt des Königs Wille verstanden.«

Oktavius und sein Vater haben verstanden. Das königliche Quintett von Friedrich I. verließ ohne Gruß die Werkstatt.

Für Vater Pfleiderer und Oktavius brach die bis dahin heile Welt von Nürtingen und Württemberg zusammen. Weitere Handwerker wurden an diesem wie auch in den darauffolgenden Tagen von den fünfen aufgesucht. Die Steuer der ortsansässigen Handwerker war wöchentlich, am Montag fällig. Die Zahllast wurde durch den Stadtbüttel Bückle in Begleitung von Soldaten eingezogen. Die Steuer konnten von den Pfleiderers, in den ersten zwei Wochen noch aufgebracht werde. Das Ersparte musste herhalten. Oktavius wie sein Vater wussten, dass dies auf längere Zeit nicht mehr zu bezahlen war.

Hinzu kamen willkürliche Kontrollen in allen Handwerksbetrieben in Nürtingen, um Geld- oder Wertverstecke ausfindig zu machen. Bei einer dieser Kontrollen wurde die Wohn- und Betriebsstätte der Pfleiderers komplett auf den Kopf gestellt.

Vater, Mutter und Sohn Pfleiderer benötigten einen ganzen Tag, um alles wieder in Ordnung zu bringen. In dieser Zeit konnten natürlich keine Wagenräder und keine Pferdefuhrwerke hergestellt werden.

Die Kontrollen und der damit verbundene Zeitverlust häuften sich. Der Teufelskreis wurde immer enger und enger. Die Wut, der Hass von Oktavius gegen die Obrigkeit steigerte sich stetig. Nur Luise war jetzt der einzige Lichtblick im Leben von Oktavius.