Amorphis

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Die Originalausgabe erschien © 2015 LIKE, Helsinki

unter dem Titel ‚Amorphis.‘

Die Übersetzung in die deutsche Sprache wurde gefördert von


1. Auflage März 2016

Copyright © 2015 für die deutsche Ausgabe by Edition Roter Drache

Edition Roter Drache, Haufeld 1, 07407 Remda-Teichel

eMail: edition@roterdrache.org; www.roterdrache.org

Buch- und Umschlaggestaltung: Holger Kliemannel

Übersetzung aus dem Finnischen von Tina Solda

Lektorat: Sarah Bräunlich

Das Vignett an jedem Kapitelanfang stammt von Jean-Emmanuel „Valnoir“ Simoul und wurde für „Under the Red Cloud“ entworfen. Verwendung mit freundlicher Genehmigung von Nuclear Blast Records, Donzdorf.

© Die Fotos entstammen den privaten Sammlungen von Niclas Etelävuori, Esa Holopainen, Tomi Joutsen, Santeri Kallio, Tomi Koivusaari, Olli-Pekka Laine und Jan Rechberger, sofern nicht anderweitig vermerkt.

Gesamtherstellung: Jelgavas typografia

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017

Alle Rechte der Verbreitung in deutscher Sprache und der Übersetzung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Ton- und Datenträger jeder Art und auszugsweisen Nachdrucks sind vorbehalten.

ISBN 978-3-944180-82-3

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort: Kann so etwas aus Finnland kommen?

TEIL 1 DER BEGINN DER ZEITEN

1. „Sie hatte sogar einen Namen: Isolohko“

2. „Wir sind trotzdem The Animals, nur viel besser

3. Violent Solution – „Ich wollte nichts anderes tun als in einer Band spielen“

4. Abhorrence – „Endlich hatten wir das Gefühl, zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein“


TEIL 2 GESCHICHTEN VON DEN TAUSEND SEEN

5. Die Geburt von Amorphis

6. Der Vertrag mit Relapse

7. Die Aufnahme von The Karelian Isthmus

8. Das Wichtigste war eine gute Melodie

9. Tales from the Thousand Lakes

10. Mystische Videoaufnahmen in Deutschland

11. Die erste Europatour

12. Die Tales-Tour in Nordamerika

13. Die Nuclear Blast-Festival-Tour 1995

14. Auf progressiverem Kurs

15. Die schwierige Geburt von Elegy

16. Unterwegs mit Paradise Lost

17. Mit Elegy auf Tour


TEIL 3 FERN DER SONNE

18. Tuonela

19. Oppus Ausstieg und die Nordamerika-Tour

20. Am Universum

21. Far from the Sun


TEIL 4 HIMMELSCHMIED

22. Schlimmer konnte es ja nicht mehr kommen

23. Eclipse

24. Silent Waters

25. Skyforger

26. The Beginning of Times

27. Circle

28. Nachwort: Ein neuer Morgen


ANHANG

I. Amorphis, gegr. 1990

II. Diskographie

III. Quellen

IV. Danksagung

V. Der Autor

BILDTEIL


VORWORT
KANN SO ETWAS AUS FINNLAND KOMMEN?

AMORPHIS SCHLUGEN BEI mir auf Anhieb voll ein. Wie Tausende meiner Gesinnungsgenossen fand ich neue Bands in den frühen neunziger Jahren hauptsächlich über die wöchentliche Radiosendung Metalliliitto, Finnlands einziges Radioprogramm, das auch extremeren Metal präsentierte. Ich liebte Moderator Klaus „Klasu“ Flaming für seinen betont sachlichen Stil. Der Kontrast zwischen seiner makellosen Hochsprache und dem musikalischen Inhalt der Sendung war oft zum Brüllen komisch und die gewählte Ausdrucksweise widerlegte elegant das damals gängige Klischee, demzufolge nur zurückgebliebene Dumpfbacken Metal hörten. Death Metal, diese animalische Unmusik, war noch eine Kaste tiefer. Diese Typen sangen ja noch nicht einmal, sondern knurrten wie in die Enge getriebene Rottweiler, sodass man kein Wort verstand. Wie konnte bloß irgendwer sowas gut finden?

Auch ich dachte zuerst ähnlich, bis mich SLAYER und SEPULTURA eines Besseren belehrten. Ich erlag dem Reiz brutalerer Gesangsstile und dürstete nach mehr, doch in der Zeit vor dem Internet gab es nur wenig Möglichkeiten, Neues kennenzulernen.

Wenn Metalliliitto lief, hatte ich stets den Finger auf der Aufnahmetaste des Kassettenrekorders, um nur ja keine Perle zu verpassen. Am 6. 1. 1993 geschah etwas Unerwartetes. Eine unheilschwangere, primitive Death-Metal-Nummer mit einer stilsicheren Gitarrenmelodie bohrte sich nicht nur in meine Gehörgänge, sondern strömte gleich direkt in den Blutkreislauf. Vom Sound her klang das Stück schwedisch, doch die Melodie kam von ganz woanders her. Sie hatte etwas Bekanntes und gleichzeitig einen exotisch-orientalischen Touch. Die Komposition als solche war nicht besonders ungewöhnlich, aber die Mischung war etwas Neues, Einzigartiges. Verstärkt wurde der Effekt durch grabestiefe Growls, die sich klar von der Masse abhoben.

Klasu spielte das Stück nicht ganz zu Ende, erzählte jedoch nach dem Fadeout, dass es sich um Warriors Trial von The Karelian Isthmus handelte, dem soeben erschienenen Debütalbum von AMORPHIS, und begrüßte im gleichen Atemzug die Bandmitglieder Tomi Koivusaari und Esa Holopainen zu einem Interview. „Was zum Teufel, sind das Finnen? Kann sowas aus Finnland kommen?! Da muss ich mehr von hören!“, fuhr es mir durch den Kopf. Am nächsten Tag marschierte ich in den Plattenladen.

Als anderthalb Jahre später Tales From The Thousand Lakes erschien, war meine Verblüffung noch weit größer. Nach diesem grenzüberscheitenden, experimentellen Meilenstein schien bei dieser Band alles möglich zu sein. Und es gelang ihr tatsächlich immer wieder, zu überraschen. Ob mit kühnen Stilwechseln, unkonventionellen Instrumenten, Mitgliederwechseln oder was auch immer – das Schicksal hatte AMORPHIS zu Pionieren bestimmt. Dies führte sowohl zu Preisen und Goldenen Schallplatten als auch zu Tiefschlägen und finanziellen Durststrecken.

 

Die erste Inspiration zu diesem Buch verspürte ich 2006, als ich Holopainen und Tomi Joutsen im Helsinkier Restaurant Ateljé für das finnische Metalmagazin Inferno interviewte. Als ich ihren spannenden Tatsachenberichten lauschte, wunderte ich mich, warum diese eigentlich noch nie irgendwer in Buchform festgehalten hatte. Meiner Erinnerung nach äußerte ich die Idee erstmals drei Jahre später gegenüber Joutsen, als ich ihn erneut für dieselbe Zeitschrift interviewte. Nach weiteren drei Jahren war sie so weit herangereift, dass ich sie einem Verlag unterbreitete. Noch einmal drei Jahre dauerte es, bis die unglaublichen Abenteuer dieser wohl einflussreichsten Musikantenvereinigung Finnlands nun endlich zwischen zwei Buchdeckeln zu finden sind.

Im Nachhinein betrachtet, erinnert der Entstehungsprozess dieses Buchs an die Entwicklung der Band selbst: voller Höhen, Tiefen und unvergesslicher Erlebnisse. Das Projekt wurde durch einen Wasserschaden bei mir zuhause und mehrere Festplattendefekte gebremst. Das Manuskript entstand unter vier verschiedenen Adressen auf fünf verschiedenen Computern, von denen einer gleich dreimal kaputtging. Das Opus führte mich an den Frühstückstisch von Holopainens Eltern, in die Gesellschaft von Metallica-Sänger James Hetfield backstage beim Sonisphere und in Jens Bogrens weltbekanntes Studio Fascination Street, wo ich der Entstehung des jüngsten Amorphis-Albums beiwohnen durfte. Nichts davon hätte ich mir vorstellen können, als ich vor 22 Jahren auf Rec drückte, um Warriors Trial auf eine TDK-Kassette zu bannen.

Mein Ziel war eine möglichst vielseitige und umfassende Schilderung der Bandgeschichte, die nicht nur informativ sein soll, sondern gleichzeitig so amüsant und unterhaltsam wie die Anekdoten der Bandmitglieder. Neben allen heutigen und früheren Mitgliedern von AMORPHIS kommen in diesem Buch auch viele Mitwirkende aus dem Umfeld der Band zu Wort. Um die Zeitreise im DeLorean von AMORPHIS noch anschaulicher zu gestalten, ist sie mit zahlreichen Fotos aus den Privatarchiven der Bandmitglieder illustriert.

Diese Geschichte erzählt von Freundschaft, Unbeugsamkeit, Durchhaltewillen, Talent, Ehrgeiz und bedingungsloser Liebe zur Musik. Ich wünsche dir beim Lesen ebenso viel Spaß wie ich beim Schreiben hatte!

Kuopio, den 18. 05. 2015

Markus Laakso




1. „SIE HATTE SOGAR EINEN NAMEN: ISOLOHKO“

SIE NANNTEN IHN den Heavy-Kiosk. Niemand wusste, wer ihn eigentlich betrieb, und geöffnet war er anscheinend auch nie. Trotzdem hatte sich der alte Holzkiosk am Rande des Esplanadi-Parks zu einem Szenetreff entwickelt, an dem Langhaarige und Lederjackenträger am Wochenende abhingen und ihr mitgebrachtes Dosenbier konsumierten. Die wenigsten kannten sich gegenseitig näher, aber man hatte sich zumindest schon einmal bei einem der Metalgigs in den Jugendzentren oder im Rockclub Lepakko gesehen. Viele kamen aus der Nachbarstadt Vantaa oder sogar von noch weiter her, um alte Freunde zu treffen und neue kennenzulernen. Am Heavy-Kiosk traf sich die gesamte Death-Metal-Szene der Hauptstadtregion, sofern damals von einer Szene überhaupt die Rede sein konnte.

Helsinki war in den achtziger Jahren wesentlich engstirniger und konservativer als in der von kultureller Vielfalt geprägten Gegenwart. Abweichungen von der Norm wurden nicht gerne gesehen. Manchmal setzte es schon ein blaues Auge, nur weil die Haare etwas zu lang waren. Auch am Heavy-Kiosk gab es öfters Ärger. Mit unschöner Regelmäßigkeit kam die Roma-Bande von Klein-Henkka vorbei, um die Teenager zu terrorisieren. Gegen die Konfrontation half nur eins: Fersengeld. Diejenigen, die den Angreifern in die Hände fielen, wurden um Bares, Zigaretten, Alkohol und sonstigen Kleinkram erleichtert. Wer sich wehrte, bekam eins aufs Maul. Langhaarige fanden schon gar keine Gnade. Wenn die Gefahr vorüber war, kehrten die Davongekommenen zurück und das nächste Bier wurde aufgemacht.

Eines Freitagabends starteten die Roma wieder einmal einen lautstarken Überraschungsangriff auf den Heavy-Kiosk. Einer von ihnen fing an, Tränengas auf die Metaller und Punks zu sprühen. In Panik zerstreuten sich die Anwesenden in alle Himmelsrichtungen und niemand kapierte, was genau eigentlich los war. Die Augen brannten, der Hals war wie zugeschnürt, aber die Füße funktionierten. Ein Fünfzehnjähriger aus Haaga und ein Dreizehnjähriger aus Martinlaakso wählten inmitten des Chaos dieselbe Fluchtrichtung. Sie verstanden sich auf Anhieb, doch es sollten zwei Jahre vergehen, bis sich ihre Wege das nächste Mal kreuzten. Dies war die erste Begegnung zwischen Esa Holopainen und Jan Rechberger, den Gründungsmitgliedern von AMORPHIS.


ESA SEPPO ANTERO HOLOPAINEN wurde als einziges Kind von Marja und Seppo Holopainen am 1. Oktober 1972 in der Helsinkier Frauenklinik geboren. An jenem Tag wurde in Turku der Straßenbahnbetrieb eingestellt und in Finnland fanden Kommunalwahlen statt, bei denen SPD und Sammlungspartei die meisten Stimmen erhielten. Die internationalen Nachrichten wurden von Watergate und Vietnamkrieg beherrscht, dem Terroranschlag auf die olympischen Spiele in München, dem Bloody Sunday in Nordirland und einem versuchten Attentat auf Chinas großen Vorsitzenden Mao Tse Tung.

Die Krise in der Frauenklinik war harmloser: Esa brach sich im Geburtsgang das Schlüsselbein. Nachdem die Verletzung verheilt war, strahlte ein fröhliches Baby in die Welt, das laut seiner Mutter zu einem braven, verantwortungsbewussten und ausgeglichenen Kind heranwuchs, das stets sein Wort hielt. Die im Elternhaus gelernten Werte prägen Esas Charakter bis heute.

Als der Sohn zur Welt kam, leitete Marja einen Kindergarten und Seppo arbeitete als Optiker. Später gründete Seppo sein eigenes Brillengeschäft, Haagan Optikkoliike, in dem auch Esa zu Berufsschulzeiten als Praktikant an der Kasse stand. Das Geschäft, das auch „Seelentrost für Omas“ bot, befand sich am Palokaivo-Platz im Süden des Stadtteils Haaga, wo die Familie auch wohnte. Da die Wohnung nur zwei Zimmer hatte, erhielt Esa seine eigene Ecke im Schlafzimmer der Eltern. Sie war während seinen ersten acht Lebensjahren das Zentrum seines Mikrokosmos.

„Meine Eltern konnten notfalls auch streng sein, aber meine Kindheit war eigentlich ziemlich locker“, beschreibt Holopainen. „Mir wurde praktisch nichts verboten, und ich hatte nie das Bedürfnis, aufsässig zu werden, weil ich mich irgendwie eingeengt gefühlt hätte. Ich wurde meiner Meinung nach gut erzogen und hatte eine glückliche Kindheit in einem sicheren Zuhause. Ein bisschen verwöhnt wurde ich wahrscheinlich auch. Ich hab’s zwar nicht so empfunden, aber Einzelkinder haben halt ihre Privilegien.“

Seine Eltern bemühten sich um ein Zuhause, das auf Vertrauen, Offenheit und gegenseitiger Wertschätzung basierte und in dem Vater und Mutter jederzeit ansprechbar waren. Wenn Esa doch einmal Mist baute, setzte es keine Strafen, sondern die Angelegenheit wurde in Ruhe ausdiskutiert. Der Junge konnte sich gut alleine beschäftigen. Als Kind reichte ihm die Nähe der Familie, und er forderte keine besondere Aufmerksamkeit. Ein Grund dafür war seine Schüchternheit. Esa klingelte nicht gerne bei anderen. Seine Freunde holten ihn entweder zum Spielen ab oder besuchten ihn zuhause. Der schmale, schnell in die Höhe geschossene Junge fühlte sich in größeren Gruppen eher unwohl und hatte wenig Lust auf gemeinsame Spiele. Vermutlich gerade deswegen hatte er für Einzeldisziplinen wie Taekwondo, Schwimmen und Tennis mehr übrig als für Mannschaftssportarten.

„Ich hab’ alleine Tennisbälle gegen die Wand vom alten Kino Arita in Haaga geschlagen, weil ich keinen Spielpartner hatte. Mit Fußball und Eishockey konnte ich absolut nichts anfangen. Ich schau’ mir heute noch lieber Boxen oder Billard an als Fußball. Obwohl ich für Mannschaftssport nicht viel übrig hab’, ist das Spielen in einer Band irgendwo damit vergleichbar: Alle ziehen an einem Strang, die Leistung des Einzelnen ist nicht so wichtig, sondern das ganze Paket muss funktionieren. Am meisten bewundere ich Ausdauersportler und ihre Mentalität, das ist absolute Spitzenklasse. Kampfsportarten bieten im Prinzip denselben Reiz wie Gigs: Adrenalin. Wenn du mit einem Sparringpartner trainierst, kannst du eins auf die Nase kriegen. Das gibt dem Ganzen mehr Spannung und eben diesen zusätzlichen Adrenalinkick.“

Esa lernte mit fünf Jahren lesen und brachte aus der Stadtteilbücherei zunächst Lucky Luke, Asterix und Tim und Struppi mit nach Hause. Später folgten Abenteuer und Fantasy, unter anderem Die 3??? von Robert Arthur, J.R.R. Tolkiens Herr der Ringe und Unten am Fluss von Richard Adams. Alte Volkssagen faszinierten ihn schon als Kind. Dass AMORPHIS sich später lyrisch vom Kalevala-Epos inspirieren ließen, erscheint ihm gewissermaßen als logische Fortsetzung.

Der Junge interessierte sich für Spiele, die Köpfchen erforderten, und zeigte schon früh eine künstlerische Ader. Zeichnen und Malen machten ihm so viel Spaß, dass er in der Schule Kunst statt Musik wählte und von einer Karriere als Werbegrafiker träumte. Er fand es inspirierend, mit eigenen Händen Kreatives zu schaffen, und hatte obendrein Talent. Noch heute zeichnet er oft Karikaturen seiner Bandkollegen, wenn ihn im Tourbus die Langeweile überkommt.

Der Mittelpunkt seines Lebens war sein zuhause, aber sein Lieblingsort war das Sommerhaus in Sahalahti bei Kangasala, wo die Familie seit den fünfziger Jahren ein Grundstück besaß. Das Strandidyll war weit weg vom Stadtleben und somit eine ganz andere Welt. Die Natur faszinierte die „Künstlerseele“ des Jungen schon früh, wie sich Mutter Marja erinnert. Er erforschte Umgebung und Pflanzenwelt mit allen Sinnen. Das Sommerhaus ist heute noch sein liebster Zufluchtsort – nicht zum Komponieren, sondern zum Entspannen.

Bei den Holopainens lief oft Musik, vor allem Jazz. Marja und Seppo verfolgten im Fernsehen die Festivalübertragungen von Pori Jazz und alles, was mit dieser in den zwanziger Jahren in New Orleans aus dem Blues geborenen Mischung europäischer und afrikanischer Musiktraditionen zu tun hatte. Esa begann schon als Dreijähriger, seinen eigenen Geschmack zu entwickeln. Auf Kinderlieder folgten Michael Jackson und der finnische Schlagersänger Fredi. Mit sechs fand er Elvis toll und zwei Jahre später ABBA. Jazz konnte er nicht ausstehen.


Holopainen mit vier Jahren im Sommerhaus in Sahalahti

„Ich kann mich nicht daran erinnern, dass meine Eltern je etwas anderes gehört hätten als Jazz“, überlegt Esa. „Ein paar Klassikscheiben hatten wir wohl, aber hauptsächlich lief Miles Davis und so was. Meine frühesten musikalischen Erinnerungen hängen mit unserem Klavier zusammen. Meine Mutter versuchte, mir ein bisschen darauf beizubringen. Bei der Gitarre ist eine gewisse Synchronisation erforderlich, damit überhaupt was zu hören ist, aber das Klavier liefert dir auf Anhieb Feedback.“

Laut seiner Mutter konnte Esa gut singen und seine Stimme war „so klar und schön, wie sie bei einem kleinen Jungen nur sein kann.“ Oft spielte Marja auf dem Klavier Kinderlieder, die Esa mit heller Stimme mitsang. Als es ihn später ernsthaft zur Musik zog, wunderte sich seine Mutter oft, warum er nicht mit dem Singen weitermachte.

Bevor die Musik für ihn zur Hauptsache wurde, erhielten Bücher und Pinsel eine andere Konkurrenz: den Commodore 64. Der 1982 lancierte und bald äußerst populäre Heimcomputer bot mit seinen primitiven, aber süchtig machenden Spielen eine Art interaktive Fortsetzung der Abenteuerromane. Die Holopainens waren um 1980 herum aus ihrer Zwei- in eine Dreizimmerwohnung etwa einen Kilometer weiter nördlich umgezogen. Der Sohnemann bekam ein eigenes Zimmer, in dem er sich ungestört in seine virtuelle Erlebniswelt vertiefen konnte. Je spannender das Spiel, desto besser. Sein Favorit war Forbidden Forest (Cosmi Corporation, 1983), in dem sich die Spielfigur mit einer Armbrust bewaffnet durch einen Wald voller Monster kämpfen musste.

 

„Die frühen Commodore-Spiele hatten unheimlich spannende Soundtracks, so simpel sie ansonsten waren. Manchmal jagte einem schon die Musik Angst ein. Sie sorgte für das richtige Feeling“, erinnert sich Esa. „Forbidden Forest hatte mit seiner Horrorszenerie aus Pixelfiguren eine Atmosphäre, die dich einfach packte.“

Zwar hatte Holopainen schon als Kind viel Musik gehört, doch als er 13 war, schlug das unverbindliche Interesse unversehens in Leidenschaft um. Im Jahr 1985 waren die Softrocker DINGO aus der Kleinstadt Pori die beliebteste Band in Finnland, während sich ihre Landsleute von HANOI ROCKS international einen Namen machten. Gleichzeitig rückte Heavy Metal ins weltweite Rampenlicht, dank Megasellern aus England, Deutschland und den USA. Das Internet war noch weit entfernt, aber bei der Suche nach neuen Lieblingsbands halfen Zeitschriften, die Musikabteilung der Bücherei, die Plattenregale von Freunden und die wöchentliche Hitparade im Staatsfernsehen. Dort wurden ohne Vorurteile „Jugendmusikvideos“ gezeigt, darunter manchmal sogar Metal.


Holopainen mit zwölf Jahren im Sommerhaus.

Ein Jahr später geriet die Musik in sein Visier.

In der Gesamtschule Haaga war es nichts Ungewöhnliches, dass die Kids eigene Schallplatten in die Musikstunde mitbringen und der Klasse vorstellen durften. Eines Tages im Jahr 1984 hatte Holopainens Klassenkamerad Miika Savi das neue DEEP PURPLE-Album Perfect Strangers dabei. Die Nadel senkte sich, das Vinyl knisterte und Knocking At Your Back Door begann mit einem düster verzerrten Riff aus John Lords Hammond. Hinzu kam Roger Glovers Bass, dessen Dramatik einem Actionfilm Ehre gemacht hätte. Das hypnotisch pulsierende G glich einem angsterfüllten Herzschlag. Ian Paice setzte mitten im Takt ein und leitete auf das Hauptriff über, das von Lord und Richie Blackmore im Duett gespielt wurde. Als Ian Gillan die ersten Zeilen schmetterte, wusste der Siebtklässler, wo seine Bestimmung lag.

Knocking At Your Back Door war der Startschuss. DEEP PURPLE war die erste Band, für die ich mich richtig begeistern konnte. Davor hatte ich schon IRON MAIDEN und so weiter gehört, aber eher deswegen, weil meine Kumpels die auch hörten. MAIDENs Powerslave (1984) kam etwa zur gleichen Zeit raus, aber Perfect Strangers hinterließ einen bleibenden Eindruck“, erinnert sich Holopainen.

Das musikalische Erwachen führte dazu, dass sein Plattenregal sich mit Klassikern füllte: PINK FLOYDs The Wall (1979), Ozzy Osbournes Bark At The Moon (1983) sowie IRON MAIDEN und JUDAS PRIEST. Auch Musik im weiteren Sinne begann ihn zu interessieren. In der Helsinkier Eishalle gaben sich in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre zahlreiche angesagte Metalbands die Ehre. Sein erstes Konzert in dieser Halle sah Esa mit 14, als IRON MAIDEN auf ihrer Somewhere in Time-Tour-Runde am 12. 11. 1986 in Helsinki Station machten. Die Show mit ihrer Weltraumthematik war ein so überwältigendes Erlebnis, dass er sich danach alle in der Eishalle gastierenden Bands ansah, sofern sie ihn auch nur ansatzweise interessierten.

„Was mir von dem MAIDEN-Gig am meisten im Gedächtnis blieb, war die geballte Energie: die ganze Zeit volles Rohr, die Band hatte das Publikum total im Griff, alle reckten die Fäuste in die Luft wie im Rausch. So ähnlich funktionieren wohl auch Massenveranstaltungen von religiösen Sekten: Es ist leicht, sich von der Begeisterung anstecken zu lassen. Zum Glück war’s bei mir IRON MAIDEN und nicht irgend so’n Prediger. Die Bühnenshow war der absolute Hammer, sowohl bei der Somewhere- als auch bei der Seventh Son Of A Seventh Son-Tour. Vor allem, als Eddie auf die Bühne kam. Das war ganz großes Kino. Faszinierend ohne Ende.“

Aufmerksamkeit weckte neben Bühnenbild und Dramaturgie auch das nahtlose Zusammenspiel von Adrian Smith und Dave Murray. Die Gitarristen waren auf der Bühne gleichberechtigt: Beide spielten sowohl Rhythmus- als auch Leadgitarre und ergänzten sich gegenseitig, anstatt einander Konkurrenz zu machen. Vor allem jedoch verliehen die reichlich vorhandenen Gitarrenharmonien den Melodien mehr Saft und den Arrangements mehr Kraft. Dem war zwar auch auf Platte so, aber von den Sitzrängen aus zu sehen, wie genau diese Harmonie entstand, war ein Schlüsselerlebnis. Ähnlich beeindruckend waren etwas später die Konzerte von DEEP PURPLE und METALLICA am selben Ort. Die eigenen Helden auf der Bühne zu erleben, weckte den Traum, selbst Musiker – vielleicht sogar Rockstar – zu werden, und motivierte zu Taten.

„Mein Interesse an der Gitarre begann mit der Power, die von der Bühne in der Eishalle ausging. Dazu kam, dass Gitarristen etwas Heldenhaftes an sich hatten. Die Achtziger waren ja das goldene Zeitalter des Gitarrensolos. Und die langen Solos vor großer Kulisse machten natürlich Eindruck. Das hatte einfach was. Ich hätte mir für mich gar kein anderes Instrument vorstellen können“, so Holopainen.

Beflügelt von diesen Erlebnissen lag Esa seinen Altvorderen alsbald mit dem Wunsch nach einer E-Gitarre in den Ohren. Die Eltern wollten jedoch erst einmal testen, ob das Interesse ernsthaft oder vielleicht doch nur eine vorübergehende Laune war. Sie besorgten dem Sohn eine klassische Gitarre und versprachen, ihm eine elektrische zu kaufen, wenn er gut genug spielen könne. Der Gitarrist in spe verbarrikadierte sich mit der akustischen in seinem Zimmer. Zuerst klimperte er Songs nach Gehör, doch bald nahm er auch Unterricht. Sein Onkel Tuure Holopainen, von Beruf Schlagzeuger und Sänger, empfahl als Lehrer seinen alten Bandkollegen Kauko Piipponen.

„Kauko war Hausmeister, so richtig vom alten Schlag. Weil die Gitarre Nylonsaiten hatte, sollte ich im klassischen Stil mit Fußstütze spielen. Er hatte selbstgeschriebene Übungshefte, für die er natürlich Geld haben wollte. Nach den handgekritzelten Noten sollte ich dann spielen lernen. Wurde natürlich nichts draus, zumal er pädagogisch eine glatte Null war. Ich war ein paarmal da, bis ich meinem Vater sagte, dass ich da nicht mehr hinwollte, weil es einfach keinen Sinn hatte. Danach hab ich erstmal ’ne Zeitlang gar nicht gespielt.“

Im Sommer 1987 bekam Esa jedoch von seiner Großmutter eine schwarze Ibanez Roadstar II zur Konfirmation, dazu einen kleinen Verstärker ohne Effekte. Es dauerte lange, bis ihm klar wurde, dass er Pedale brauchen würde, um verzerrte Sounds zu produzieren. Die Gitarre war ein Basismodell mit verschraubtem Hals, Tremolo und einem Humbucker. Holopainens Interesse währte eine Weile und ließ dann wieder nach. Es erwachte erst nach ein oder zwei Jahren wieder, als Freunde von ihm ebenfalls anfingen, Musik zu machen. Gemeinsam herumzuschraddeln machte Spaß und half beim Überwinden sozialer Hemmungen. Der in der Schule befindliche Proberaum wurde zum Zentrum der gemeinsamen musikalischen Aktivitäten.

„Wir hatten in Haaga sowas wie – wie soll ich’s nennen – die Vorstufe einer Band. Sie hatte sogar einen Namen: ISOLOHKO. Gesungen hat Aba, ein gnadenloser NAPALM DEATH-Fan, am Bass stand ein gewisser Pera, und wer war doch gleich am Schlagzeug? Immer wenn wir Zeit hatten, trafen wir uns und ließen es krachen. Das war im Grunde meine erste Banderfahrung.“

ISOLOHKO spielte nur eigene Stücke, so man sie denn als solche bezeichnen konnte. Das Zusammenspiel war nicht im Geringsten koordiniert: Esa feuerte Riffs in die Gegend, Pera hämmerte auf dem Bass herum, der Drummer versuchte, im Takt zu bleiben, und Aba grölte nach dem Zufallsprinzip ins Mikro. Dem Feeling tat das keinen Abbruch: Energie und Lautstärke der Bandproben machten süchtig, und das Gemeinschaftsgefühl war unglaublich. Hinterher gab es nur einen Gedanken: Wann proben wir das nächste Mal?

Der erste und einzige Gig von ISOLOHKO fand in der Mittelstufendisko statt. Es war Esas erster öffentlicher Auftritt als Gitarrist. In der Turnhalle waren Bänke für die Zuhörer aufgestellt. Die Musiker bauten fiebernd vor Aufregung ihre Ausrüstung auf und legten los. Auf der Bühne herrschte Bombenstimmung, im Publikum eher Verwirrung. Außer den Bandmitgliedern hatte niemand im Saal jemals Grindcore gehört, woran die Kakophonie von ISOLOHKO noch am ehesten erinnerte. Ein komplettes Fiasko war die Show trotzdem nicht, eher eine wertvolle Lektion in den Grundlagen des Rock’n’Roll.

„Vor Publikum zu spielen ist etwas völlig anderes, als im Proberaum zu lärmen. Du hast aufnahmebereite Leute vor dir, und es herrscht eine ganz andere Spannung und Energie. Das hat sich in all den Jahren nicht geändert. Ich hab erst später gelernt, dass Gigs eine interaktive Angelegenheit sind. Das Publikum gibt viel von dem zurück, was du ihm gibst. Als Musiker fühlst du dich wohl, wenn’s den Leuten gefällt. Damals in der Turnhalle war eine Austauschklasse aus Norwegen da. Die norwegischen Mädels quatschten uns direkt nach dem Gig an. In dem Moment merkte ich, dass Musizieren positiv auf das andere Geschlecht wirkt. Kein Wunder, dass sich Jungs im Teenageralter dafür interessieren“, scherzt Holopainen.

Die Geschichte von ISOLOHKO war kurz, machte jedoch Lust auf mehr. Der junge Gitarrist wollte mehr aus seinem Instrument herausholen und sich musikalisch weiterentwickeln. Er beschloss, wieder Unterricht zu nehmen. Diesmal war keine Fußstütze gefordert. Der neue Lehrer war Petteri Hirvanen aus der Nachbarstadt Espoo, der tagsüber im Musikgeschäft Musamaailma arbeitete.

„Hirvanen war der Gitarrensuperheld von Helsinki. Er hatte immer Fans um sich rum, wenn er bei Musamaailma seine Show abzog. Ich nahm ein Jahr lang bei Petteri Stunden. Hatte sicher auch einiges davon, wobei es freilich meistens so war, dass Petteri tierisch verkatert war und Schwänke aus seinem Leben erzählte. Hirvanen war ein Shredder vom klassischen Typ, sodass wir vor allem Arpeggiotechniken durchgingen. Die Theorie blieb außen vor. Wir versuchten quasi, das Pferd vom Schwanz aufzuzäumen. Weder Piipponen noch Hirvanen taugten viel als Pädagogen, aber mit Petteri war es zumindest lustig.“

Letztendlich war jedoch der Weg zu den Gitarrenstunden zu lang und umständlich. Der Fünfzehnjährige musste mit dem Bus zuerst von Haaga in die Helsinkier Innenstadt und von dort aus weiter nach Haukilahti in Espoo fahren. Manchmal war Hirvanen dann nicht einmal zuhause, weil er den Termin vergessen hatte. Die schlechten Erfahrungen mit Privatstunden führten Esa schließlich dazu, lieber im Selbststudium und gemeinsam mit Freunden weiterzumachen. Daheim in seinem Zimmer verbrachte er täglich Stunden damit, sich Riffs von METALLICA, DEEP PURPLE und IRON MAIDEN herauszuhören. Manchmal übte er auch nach Noten und Tabulaturen, die er im Musikladen Fazer kaufte.

„Zuhause war ich eigentlich nur noch am Gitarre spielen. Ist manchmal heute noch so. Ab und zu gibt es Phasen, in denen ich die Gitarre nicht anrühre, aber normalerweise spiele ich fast jeden Tag. Nach Gehör zu spielen ist eine der besten Lernmethoden überhaupt. Coversongs übe ich immer noch so. Der Gitarrist, der mich am stärksten beeinflusst hat, ist David Gilmour. Im Lauf der Zeit hab ich oft PINK FLOYD-Songs nachgespielt oder dazu gejammt. Gilmours Stil und Ansatz sind nahe an dem, was ich selber als Gitarrist anstrebe: Gefühl in jeder Note. Der andere ist Blackmore. Er hat einen ganz eigenen Stil mit hohem Wiedererkennungswert“, resümiert Holopainen.

Mit der Übung und Entwicklung wuchs das Selbstvertrauen. Als Esa hörte, dass Jan Rechbergers Band VIOLENT SOLUTION einen Gitarristen suchte, griff er ohne Zögern zum Telefon, obwohl er seinen alten Bekannten nicht mehr gesehen hatte, seit Klein-Henkka und seine Bande mit Tränengas auf den Heavy-Kiosk losgegangen waren.